Alfred Lang

University of Berne, Switzerland

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Booklet Section 1991-89

13 KB 1 Abb. @Educ @SciPol

 

Handpostille für Studierende: Kapitel 1

 

Titel / Inhalt | 1 Vom Studieren | 2 Angebot | 3a Eigentätigk. | 3b Schriftl.Arbeiten


1. Vom Studieren: der Psychologie und überhaupt

Was Studieren wirklich heisst, kann man nicht in ein paar Sätzen einfangen. Es geht also hier mehr darum, ein paar häufigen Missverständnissen vorzubeugen (was Studieren nicht ist) und ein paar Akzente zu setzen (was wir besonders betonen möchten).

Beginnen will ich mit dem Allerwichtigsten: ist Studieren nicht die Folge von Neugier? Möchten Sie nicht auch besser verstehen, die Welt und sich selber? Beobachten Sie ein Kleinkind, wie es seine Welt "erobert". Seinen Einsatz, seinen Enthusiasmus, seine Beharrlichkeit bewundern wir, und möchten sie freilich verbinden mit der Umsicht und der Verantwortlichkeit des erwachsenen Menschen. Ich weiss, dass die Neugier und das Forschen im Studienalltag immer wieder bedroht sind; aber Enthusiasmus sei "ansteckend", sagt man: Wir sollten es gegenseitig versuchen.

Die Wissenschaft Psychologie befasst sich allgemein mit dem Verhalten, Handeln und Erleben, mit der Persönlichkeit und mit der Entwicklung von Menschen und deren innern und äusseren Bedingungen. Das ist etwas ausserordentlich Komplexes und Flüchtiges. Ihr Studium fordert deshalb eine intensive Auseinandersetzung mit einer langen Tradition von Methoden und Erkenntnissen, welche in aller Regel zunächst von den im Alltag interessierenden seelischen Problemen weg- und erst auf Umwegen wieder darauf zurückführen. Begriffliche Abstraktionen, bildliche, mathematische oder prozedurale Modelle, beobachtende und experimentelle Untersuchungsverfahren, interpretierende und statistische Auswertungsmethoden u.v.a.m. gehören zum unverzichtbaren Instrumentarium des modernen psychologischen Forschers und Praktikers. Wer Psychologie als Wissenschaft (und an der Universität gibt es nur das) studiert, muss also lernen, psychologische Forschung zu verstehen und exemplarisch mit zu betreiben.

Ein Studium der Psychologie kann also nicht als Eigentherapie dienen, obwohl viele seiner Inhalte immer wieder mit der eigenen Person in Verbindung gebracht werden können und müssen. Ein Studium einer Wissenschaft an einer Universität ist auch nicht eine Berufsausbildung, obwohl es Ihnen (auch das Psychologiestudium!) den Zugang zu verschiedenen (sog. akademischen) beruflichen Tätigkeiten eröffnet. Ein Studium an einer Universität überhaupt ist (jedenfalls in meinem Verständnis und von Ausnahmen in gewissen Fächern, die eigentlich Fachschulen sind, einmal abgesehen) auch nicht eine Vorwegnahme der Berufs- und Arbeitswelt, sondern im Gegenteil ein aktiver Aufenthalt in einer "Gegenwelt", welche den Aufenthaltern ermöglichen soll, allerlei Sachverhalte und Zusammenhänge modellhaft gründlicher zu verstehen, als dies unter den Zwängen der realen Welt normalerweise möglich ist. Diese Gegenwelt existiert aus einem dialektischen Gegensatz zur realen Welt: wenn sie mit ihr den Kontakt verlöre, wäre sie ebenso wertlos, wie wenn sie sich mit ihr identifizierte.

Dass in der Institution Universität Sachzwänge und selbstgemachte -- kluge und abwegige -- Regelungen diesen Freiraum wieder einschränken, verkenne ich nicht. Solche Einschränkungen sind in jedem sozialen System unvermeidlich, ja unentbehrlich; ich bin nur nicht bereit, sie ernster zu nehmen als irgendein anderes "Gesellschaftsspiel". Viele Wissenschaften und Wissenschaftler haben nämlich seit rund 250 Jahren einen Pakt mit der Gesellschaft geschlossen, der Allgemeinheit gegen die Gewährung gewisser Privilegien "nützlich" zu sein. Das hat allerlei Folgen gehabt, die durchaus unterschiedlich bewertert werden. Mitgegangen sind wir aber alle und werden also gegebenenfalls mitgefangen und mitgehangen. Als Studierende stehen Sie im Brennpunkt dieses Paktes, nämlich vor der Frage, ob Sie am Schicksal des Paktes mitwirken, also einer Elite angehören, oder nur weiter (Pullman oder Trittbrett) mitfahren wollen. Am Schicksal des Paktes mitwirken heisst, ihn als ganzen im allgemeinen und in einigen seiner Details exakt verstehen und nachvollziehen können, um so die Freiheit zu gewinnen, ihn in diesem oder jenem Teil so oder anders mitzumachen oder nicht, und auch um Andere darüber aufzuklären.

Wissenschaft ist nämlich genau das: Abstand nehmen von der Wirklichkeit, um Abstraktionen auf sie zu legen, welche auf sie gerichtetes Handeln länger und nachhaltiger tragen als die Eingebung und die Interessenlage des Augenblicks. Abstand ergibt immer eine (von vielen möglichen) Perspektive. Mithin zielt Wissenschaft unvermeidbar nie auf das Ganze der Welt. Im Fall der Psychologie ist es ein Ausschnitt oder Aspekt der Wirklichkeit, der mit den Menschen und ihrem Umfeld, mit den Andern, indirekt auch mit einem selbst, zu tun hat. Es gibt viele Lebenssituationen, in denen eine wissenschaftliche Haltung sinnwidrig, verheerend, ja tödlich ist; in andern Lebenssituationen wiederum ist Abstandnehmenkönnen eine grosse Errungenschaft. Wissenschaft ist ganz und gar nicht Technik, ist eben gerade nicht Anleitung zu nützlichem Handeln, obwohl zweifellos durch Wissenschaft ein anderes Handeln ermöglicht wird (ob besser oder schlechter hängt vom Bewertungsgesichtsfeld ab). Man sollte also die beiden Handlungsweisen, die wissenschaftliche und die machenschaftliche (Technik, Praxis), komplementär aufeinander bezogen verstehen; sie werden heutzutage zu Unrecht allenthalben einander gleichgesetzt.

In der Psychologie ist diese Unterscheidung zwischen Erkenntnis und Praxis und deren Komplementarität besonders wichtig, weil es ja allemal um den Menschen, den Mitmenschen geht, dem eine ausschliesslich wissenschaftliche Umgangsweise noch weniger gerecht wird als dem Rest der Welt und den ein machenschaftlicher Umgang -- dh die simple Anwendung von Technik auf den Menschen -- seiner Würde beraubt. Dennoch, wollte man auf ein auch wissenschaftliches Verständnis des Menschen ganz verzichten, würde man sich selber unmündig machen. Das führt zur Einsicht, dass Psychologie, wissenschaftlich betrieben, stets nur eine halbe Sache ist. Vom Studium der Wissenschaft Psychologie etwas anderes zu erwarten, wäre unrealistisch, ja verkehrt. Sie müssen viele Dinge ausserhalb von Wissenschaft und Universität erfahren und tun, um in menschlichen Belangen etwas "runder" zu werden. Das gilt übrigens für alle Studienrichtungen; es relativiert Wissenschaft, wertet sie aber nicht ab.

Die Handpostille soll zu den verschiedenen Formen des Studierens ein paar Hinweise geben. Studieren ist eine auf mehrere Jahre hinaus angelegte Tätigkeit, welche die Studierenden normalerweise "hauptberuflich" ausüben. Es ist also wohl angezeigt, dass man diese Tätigkeit in sinnvoller Weise plant und zu wiederholten Malen den Plan auf seine Angemessenheit hin überprüft und gegebenenfalls revidiert. Anders als in einer Schule ist diese Planung eines Studiums Ihre, der Studentin oder des Studenten, ureigene Sache. Die Universität hält eine Reihe von Vorgaben dazu bereit, ein Angebot, auf das Sie zwar eingehen müssen, das aber nicht eigentlich den Inhalt des Studierens ausmacht. Das Angebot ist eher ein Gefäss oder ein Kanal, aus dem Sie selber Inhalte entnehmen und sich aneignen müssen.

Die Geschichte der Universität ist eng verbunden mit der Errungenschaft der Freiheit des Individuums in der abendländischen Zivilisation. Die sog. akademischen Freiheiten, welche die Grundrechte der Meinungs- und Rede- und Versammlungsfreiheit für den Universitätsbereich konkretisieren,umfassen die Freizügigkeit (das Recht der Studierenden auf freie Wahl ihres Studienortes und -faches), die Lehrfreiheit (das Recht der Lehrenden auf freie Wahl der Lehr- (und Forschungs-)inhalte und -formen)und die Lernfreiheit (das Recht der Studierenden auf freie Wahl der Studieninhalte).

Die drei Freiheiten bedingen einander wechselseitig und sind eine wesentliche Voraussetzung der offenen Gesellschaft. Die Lehrfreiheit setzt die Lernfreiheit der Lehrenden voraus; und sie ermöglicht die Lernfreiheit der Studierenden. Weil Zwang zu bestimmten Lehrstoffen die Lehrfreiheit einschränkte, muss Freizügigkeit ermöglichen, Inhalte an jenem Institut oder an jener Universität zu suchen, wo sie in der gesuchten Qualität geboten werden. Alle drei Freiheiten zusammen wurzeln in etwas, was man das Recht auf Entwicklung der Kultur und der Person nennen kann. Totalitäre Regimes schaffen sie deshalb ab.

Leider muss man feststellen, dass alle drei Freiheiten auch hier und (nicht erst) heute gewissen Einschränkungen unterworfen sind. Die Freizügigkeit ist auf dem Papier recht weitgehend garantiert; faktisch ist sie durch vielerlei Realitäten und Schikanen vermindert. Zwischen der Zulassung aller Berechtigten und dem Einhalten vertretbarer Qualitätsansprüche bestehen bei stagnierender Ausstattung unlösbare Widersprüche. Nicht in allen Fächern erhalten Sie für auswärtige Studiensemester und -ausweise gebührende Anerkennung; in der Psychologie ist es in den mittleren und oberen Semestern bei Vorlage geeigneter Leistungsnachweise problemlos. Die meisten Lehrenden werden mit einem inhaltlich umschriebenen Lehrauftrag angestellt; immerhin besteht für dessen konkrete Erfüllung ein beträchtlicher Spielraum, den wir mE unter angeblichen Sachzwängen wie (selbstformulierten) Studienplänen oder (vermuteten) Arbeitsmarktanforderungen oder (attribuierten) Fachentwicklungen meistens mehr als notwendig einengen. Der von eidgenössischen und europäischen Instanzen ausgehende Druck nach mehr "Koordination" ist ein zwiespältiger; nach meiner persönlichen Meinung dient er eher Machtansprüchen als Personen-und Sachinteressen der Allgemeinheit. Notwendigkeiten von Propaganda zu unterscheiden ist geboten.

Eine schillernde Freiheit, von realen und vermeintlichen Vorgaben belastet, sehe ich ebenfalls bei den Studierenden. Ich bekomme immer wieder den Eindruck, dass viele den Zusammenhang zwischen Studium und Beruf enger sehen, als er in Wirklichkeit ist. Ein typischer Arbeitgeber für Akademiker erwartet nicht, dass seine neuen Leute "fertig" daherkommen; für seine künftigen Vorgesetzten käme es ja einer Selbstaufgabe nahe, wollten sie auf eine eigene Aufassung der Aufgabe verzichten und diese an die Universität delegieren. Entsprechend käme es einer Selbstaufgabe der Universität gleich, wollte sie sich an der gängigen Praxis orientieren. Da man aber die künftige Praxis nicht kennen kann, sollten die Studierenden anstreben, ein Gepäck von allgemeinen Kenntnissen verbunden mit exemplarischen Innovationsimpulsen zu erwerben, und das müsste eigentlich auch im langfristigen Interesse des künftigen Arbeitgebers der Absolventen liegen. Im Interesse der Praxis sollte die Universität die Praxis kennen, beeinflussen und kritisieren und sich auch von ihr inspirieren lassen, sie aber keinesfalls in die Universität selbst hereinnehmen. Der unvermeidliche Kompromiss mit der Praxis ist nicht Sache der "Gegenwelt", sondern er ist von wissenschaftlich starken Absolventen dort zu vollziehen.

Der Sinn dieser Darlegungen ist, Studierende wie Lehrende aufzufordern, die Studieninhalte und die Studiengestaltungals Option wahrzunehmen (optio, lat. = freier Wille). Sicher, niemand kann ungestraft an gegebenen Voraussetzungen vorbeileben; aber alle Gegebenheiten bieten Spielräume und Entwicklungspotentiale, die wir aufspüren und nutzen sollten.

Leider erscheint das Studium in den Reglementen in erster Linie als organisiertes Angebot von Veranstaltungen verbunden mit der Anforderung, dort gewisse Ansprüche zu erfüllen. Obwohl ein regelmässiger und vor allem kontinuierlicher Besuch von Veranstaltungen und der Nachweis von Leistungen unentbehrlich sind, sollte man sich davon nicht täuschen lassen: das Studium, sowohl als Mittel wie als Ergebnis, ist Ihr eigenes, persönliches. Niemand kann es ihnen abnehmen, keinen einzigen Tag, keine einzige Stunde, keine einzige Einsicht. Zu drei Vierteln ist Studieren deshalb Ihre Eigentätigkeit. Leider redet man viel über das Studienangebot aber kaum oder gar nicht über das Selbststudium. Die Handpostille will dem ein bisschen abhelfen, indem wir in den beiden Hauptabschnitten einerseits unserStudienangebot beschreiben, wie wir es intendieren -- auch die Leistungsanforderungen sind eigentlich Angebote, Gelegenheiten für Sie --, und anderseits unsere persönlichen Vorstellungen von Ihrer Eigentätigkeit ("Selbststudium") skizzieren. Nach dem Gesagten sollte klar sein, dass es sich um Leitlinien und Empfehlungen, nicht um Vorschriften handelt. So wie beim Gestalten ihrer Wohnung oder Ihres Lebens werden Sie auch beim Studieren das Angebot persönlich überformen und sich zu eigen machen wollen. Ich kann nicht genug wiederholen: Sie studieren; wir sind nur Rohstofflieferanten und -vermittler und günstigenfalls eine Art "Ferment" oder "Enzym" in Ihrem Milieu.


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