Alfred Lang | ||
Journal Article 1988 | ||
Die kopernikanische Wende steht in der Psychologie noch aus! Hinweise auf eine ökologische Entwicklungspsychologie 1 | 1988.01 | |
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Schweizerische Zeitschrift für Psychologie 1988 47(2/3) 93-108. | © 1998 by Alfred Lang | |
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- Zusammenfassung / Abstract
- Zum Menschenbild
- Der Anthropozentrismus in der Psychologie
- Gegenstands-Konzeptionen in den Wissenschaften vom Leben
- Speicherung als konstituierendes Prinzip von Einheiten
- Was sind die Speicher dieser Gebilde?
- Speicherformen
- Kopernikanische Dezentrierung zum ökologischen System
- Zu einer ökologischen Entwicklungspsychologie
- Beispiele
- Grundgedanken in Thesenform
- Schlussbemerkung
- Literatur
Zusammenfassung: Es wird für eine Erneuerung des Menschenbildes in der Psychologie im Sinne einer "kopernikanischen Wende" plädiert. Dabei soll nicht nur Vielfalt und Nebenordnung von und Reversibilität zwischen Betrachterstandpunkten betont, sondern vor allem auch eine Dezentrierung bezüglich des Gegenstandes vom Individuum auf Mensch-Umwelt-Einheiten angestrebt werden. Diese ökologische Orientierung wird anhand der Speicherung von Information oder des "Gedächtnisses" von solchen ökologischen Gebilden erläutert. Für den Menschen als Individuum und besonders als Sozialwesen ist die gestaltete und gebaute Umwelt eine wesentliche Gedächtnisform und mithin ein unentbehrlicher Entwicklungspartner. Auf diesem Hintergrund eines "kopernikanischen Menschenbildes" wird anhand eines Bildes und von Forschungsbeispielen ökologische Entwicklungspsychologie illustriert.
Abstract: Psychology ´s need for the Copernican Turn Ñ Towards an ecological psychology of development. The contribution pleads for a renewal of the image of man in psychology in the sense of a Copernican Turn. Plurality, juxtaposition of and reversibility between perspectives are important, but foremost a decentration of the psychological research object from the individual towards the person-environment-unit is proposed. This ecological attitude is specified in reference to storage of information or "memory" of such ecological units. For men as individuals and social beeings in particular the designed and the built environment is an essential form of memory and thus an indispensable partner for development. On this background of a "Copernican Image of Man" an ecological developmental psychology is illustrated through a picture and examples of research.
Wir alle haben wohl ein kopernikanisches Weltbild. Wir betrachten die Erde nicht als das Zentrum der Welt. Anderseits möchte ich behaupten, dass die meisten von uns ein vorkopernikanisches Menschenbild haben. Das meiste was wir tun, messen wir an uns selber. Mein Beitrag ist ein skizzenhafter Versuch, diese Formel und ihren Wert plausibel zu machen. Nach der Eigenart des Themas geht es eher um das Finden und Vertiefen als um das Rechtfertigen von Einsichten. Vor allem kommt es mir darauf an, beispielhaft und programmatisch aufzuzeigen, dass Impulse in Richtung auf ein "kopernikanisches Menschenbild" forschungsstrategisch nützlich und möglicherweise geeignet sind, der Psychologie neue Horizonte zu eröffnen. Dies trotz aller Schwierigkeiten, die sich ökologischem Denken und Forschen in diesem Fach tatsächlich stellen.
Im ersten Teil will ich klären, was ich mit dem Ausdruck "kopernikanisches Menschenbild" meine. Im zweiten Teil untersuche ich dessen Bedeutung für die Entwicklungspsychologie. Die Grundgedanken sind am Schluss in Thesenform zusammengestellt.
Mit dem durch Galileo Galileis Prozess von 1633 bekannt gewordenen Ausdruck "kopernikanisch" verbinden wir gemeinhin mehr als die von Kopernikus behaupteten und später vielfach belegten heliozentrischen Planetenbahnen. Kant sprach von der "kopernikanischen Wendung" und verwies damit nicht nur auf die empirische Intention, die für die Wissenschaft der Neuzeit charakteristisch ist, sondern auch auf den kritischen Grundgedanken, dass nämlich die Eigenschaften der Welt und die Eigenschaften eines Weltbetrachters voneinander nicht getrennt werden können und untereinander neu ins Verhältnis gesetzt werden sollten.
"Es ist hiemit eben so, als mit den ersten Gedanken des Copernicus bewandt, der, nachdem es mit der Erklärung der Himmelsbewegungen nicht gut fort wollte, wenn er annahme, das ganze Sternheer drehe sich um den Zuschauer, versuchte, ob es nicht besser gelingen möchte, wenn er den Zuschauer sich drehen und dagegen die Sterne in Ruhe liess." (Kant 1887, Akademie-Ausgabe, Bd. 3, S. 12)
Nach Einstein und der modernen Wissenschaftstheorie wird zudem klar, dass es keinen zum vornherein ausgezeichneten Betrachterstandpunkt geben kann; jeder denkbare ist nur einer eines Satzes von möglichen Betrachterstandpunkten, die allenfalls als Satz ein adäquateres Weltbild eröffnen. Dies gilt zunächst für Erkenntnis, aber eigentlich auch für Technik[Footnote #3], obgleich Techniken, die auf der Basis eines bestimmten Betrachterstandpunktes entwickelt worden sind, durchaus erfolgreich sein können Ñ nämlich genau so lange, bis sie an die Grenzen ihrer Betrachtungssituation stossen. Es ist seit einiger Zeit allenthalben sichtbar geworden und wird zunehmend breiter anerkannt, dass Letzteres in mancher Hinsicht mehr der Fall ist, als uns angenehm sein kann.
Mit Piaget kann man also von der Notwendigkeit des "Dezentrierens" sprechen und damit sowohl auf die Pluralität der Perspektiven wie auch auf das Erfordernis verweisen, diese Perspektiven untereinander zu verbinden oder Reversibilität zu gewinnen. Während die prinzipielle Gleichwertigkeit vieler Weltsichten heute kaum bestritten wird, ist in den Wissenschaften bis heute die aufspaltende Wirkung des Dezentrierens über der damit aufgegebenen neuen Integration der Betrachterstandpunkte dominant geblieben. Viele Wissenschaftler träumen zwar immer noch von der vereinheitlichenden Weltformel; sie ist aber ganz und gar nicht in Sicht; man bedenke etwa die fehlende Synthese von Mikrophysik und Makrophysik, die Konfusion um die physiko-chemischen und die biologischen Betrachtungsweisen und viele andere, meist wenig explizierte Schwierigkeiten. Andere freilich empfinden dabei keine Not, weil sie die Integration der Erkenntnis prinzipiell für unmöglich halten, schon etwa aus sprachanalytischen Gründen. Ich wollte hier die erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Implikationen meiner Überlegungen wenigsten andeuten, komme aber im folgenden nur indirekt darauf zurück.
Denn es interessiert hier nicht das Weltbild, sondern das Menschenbild, insofern es nämlich für die Entwicklungspsychologie bedeutsam ist. Zudem faszinieren mich als Psychologen auch die inhaltlichen Folgen (in Unterschied zu den formalen Folgen für die Frage nach der Möglichkeit von Erkenntnis) der Vermengung oder der Verwechslung von Betrachter- und Welteigenschaften.
Während die materie- und energiefokussierenden Wissenschaften und wenigstens teilweise die lebensfokussierenden Wissenschaften durch die kopernikanische Wende eine grosse Befreiung erfuhren und so ihren Erfolgszug antreten konnten, behaupte ich also, dass in den bedeutungsfokussierenden Wissenschaften, dh den Wissenschaften vom Menschen und seinen Hervorbringungen, die kopernikanische Wende noch nicht oder höchstens partiell und jedenfalls nicht in inhaltlicher Hinsicht vollzogen worden ist. Ein entsprechendes Menschenbild, nämlich ein Verständnis des Menschen als nicht zentralen Teil eines Systemganzen steht noch aus, all unser Denken und Tun ist anthropozentrisch.
"Nicht-anthropozentrisches Menschenbild" ist freilich eine so paradoxe Ausdrucksweise, dass ich das Wort "vorkopernikanisch"[Footnote #4] vorgezogen habe. Ist Anthropozentrismus nicht selbstverständlich, da wir doch selbst-reflektierende Menschen sind? Kommt denn überhaupt etwas anderes in Frage? Wir haben doch dezentriert; wir akzeptieren doch - wenigstens in wohlüberlegter Rede, wenn auch nicht immer in der Tat - den Pluralismus, wir lassen verschiedene Menschenbilder gelten; wir sind vielleicht sogar vorbereitet, einzugestehen, dass jeder Mensch in seiner Einmaligkeit letztlich sein eigenes Menschenbild haben muss, auch wenn wir im Interesse des Zusammenlebens gerne hätten, dass sich alle koordinieren liessen.
Aber denken wir uns nicht ein "wahreres" Menschbild - ich meine ein adäquateres als das des einzelnen Betrachters - hinter dem Satz der vielen Betrachterstandpunkte? Erhoffen wir nicht die psychosoziale Weltformel, beispielsweise den Frieden, ähnlich wie die Physiker auf die Vereinigung von Quantentheorie und Relativitätstheorie spekulieren? Und ist das eine Frage des Erkennens oder eine Frage des Machens, vielleicht des Sozialisierens eines neuen Menschen?
Oder müssen wir die vielen Menschenbilder, jedes einzelne, gelten lassen? Mit allen Folgen der Widersprüche? Die ja wohl unvermeidlich in Handeln umgesetzt werden, und das heisst auch in Konflikte.
Die Antwort variiert natürlich je nach dem hochgehaltenen Menschenbild. Das Problem erweist sich als rekursiv. Der Anthropozentrismus ist in diesem erkenntnismässigen und wertmässigen Pluralismus erhalten geblieben, ja er hat sich in gewisser Hinsicht sogar verstärkt; denn vorkopernikanische Menschenbilder sind traditionell an Transzendenzen orientiert. Wenigstens auf geistiger Ebene ist Etwas dem Menschen übergeordnet, was oder wer immer dann auf irdischer Ebene dies repräsentiert oder nutzt.
Das führt zur Frage, ob wir in den bedeutungsfokussierenden Wissenschaften adäquat dezentriert haben, und zur These, dass dem nicht so sei. Denn zum Verständnis von menschabhängigen Gegebenheiten, also speziell beim Menschenbild ist ein zweifacher Perspektivenwechsel erforderlich: nach Kant muss man auf den Betrachter fokussieren, um zu verstehen, was man von der Welt (nicht) verstehen kann; um den Menschen zu verstehen, ohne seinem eigenen Betrachterstandpunkt zu erliegen, wäre also umgekehrt auf die Welt zu fokussieren bzw. diesbezüglich Reversibilität zu gewinnen.
Bevor ich aber darauf komme, was denn nun "kopernikanisch" oder das "Aufgeben des Anthropozentrismus" inhaltlich bedeuten könnte, möchte ich kurz einigen aktuellen Menschenbild-Aspekten in ausgewählten Traditionen nachgehen.
Das Menschenbild, das naturwissenschaftliches Denken begleitet, ist m.E. überwiegend anthropozentrisch oder vorkopernikanisch. Trotz der nicht verkennbaren Dezentrierung naturwissenschaftlichen Erkennens gibt sich naturwissenschaftlich begründetes Handeln in den Techniken so, als ob der Rest der Welt für den Menschen da wäre.
Als Indiz für diese Behauptung sei global auf die jetzt das Bewusstsein vieler Menschen erobernde Umweltkrise hingewiesen. Anthropozentrismus liegt sowohl im Vorwurf an die Technik, uns die Umwelt zu zerstören, wie im Glauben an die Machbarkeit von Lösungen, seien sie ingenieurstechnischer oder psychosozial-technischer Natur.
Es ist wohl so, dass immer dann, wenn wir vom Erkennen zum Machen überzugehen haben, der Anthropozentrismus voll durchschlägt. Das ist weiter nicht verwunderlich; das Machen steht ja im Dienste der machenden Menschen; und die jeweiligen Anfangserfolge beim Machen scheinen dem recht zu geben. Problematisch ist bloss die aufschaukelnde Rückkoppelung, insofern oft durch das Gemachte Problemlagen entstehen, die zu erneutem Eingreifen nötigen.
Im faszinierenden Vorschlag, der Natur inskünftig Rechte zuzugestehen, wird ein pragmatischer Dezentrierungsversuch erkennbar (zB Meyer-Abich 1984, Sitter 1987). Praktisch müssten die Rechte der Natur freilich durch einen sie vertretenden Advokaten vor einem menschlichen Gericht geltend gemacht werden. Aber die Notwendigkeit einer neuen Beziehung zwischen Mensch und Natur wird hier erkannt, obwohl wir dem Menschen als Mass der Dinge auch dann nicht entgehen.
Die Psychologie ist eine stark anthropozentrische Unternehmung. Der verkürzende Schematismus der folgenden Begründungshinweise sollte nicht als ein blinder Rundumschlag missverstanden werden. Ich glaube bloss, dass dieser Gedanke, weil an der Oberfläche paradox, zu wenig verfolgt wird; seine heuristische Kraft scheint mir aber beträchtlich.
Das zentrale Axiom der sogenannten kognitiven Wende der zeitgenössischen Psychologie meint im Kern, dass Handeln nichts als ein Ausfluss der individuellen Erkenntnisstruktur des Individuums darstelle.
Manche Handlungstheoretiker meinen sogar, Intentionen, also Ziel-Setzungen von Menschen, seien der wesentliche Handlungsgrund.
S-R-Psychologie anderseits nimmt an, dass der Mensch an den Marionettenfäden einer übergeordneten Welt von Kontingenzen hange; aber sie vergisst, dass jede Beschreibung dieser Welt in Termini gemacht wird, die durch und durch von den Auffassungsmöglichkeiten eben dieses Menschen her bestimmt ist. Der zirkulär definierte Bekräftigungsbegriff macht dies besonders schön klar.
Sogar die Wahrnehmungspsychologie setzt in der Regel unbedenklich ihre physikalischen Reizbeschreibungen absolut, und damit schliesst sie sich in um sich selbst kreisendes Denken ein, vergessend, wie sehr die Physik von eben dieser Wahrnehmung abhängt.
In der Sozialpsychologie wird immerhin davon ausgegangen, dass Menschliches nicht ohne Einbezug des Mitmenschen verstanden werden kann. Die Ausweitung dieses Bezugs auf Umwelt schlechthin wird aber kaum angezielt; die sog. Umweltpsychologie ist zu einer höchst utilitaristischen Unternehmung geworden.
Solche Einseitigkeiten der verschiedenen Psychologien sind vielleicht aus der Vorherrschaft von Konstruktionismus zu verstehen (Suarez 1980). Konstruktionismus ist, in der eingangs eingeführten Terminologie bewertet, eine partielle, steckengebliebene kopernikanische Wende. Eine Dezentrierung auf handelnd erkennende Subjekte ist vollzogen worden, die Multiplizität möglicher Standpunkte ist erkannt. Wie Suarez argumentiert, werden sogar Personen und Objekte im Erkennen ununterscheidbar. Die Bedingungen des Erkennens werden aber ausschliesslich beim handelnden Individuum vorausgesetzt. In dieser Perspektive verabsolutieren die bedeutungsfokussierenden Wissenschaften also gerade den Vorgang der Bedeutungsverleihung und versäumen die Einnahme von Betrachterstandpunkten ausserhalb des handelnden Menschen; Reversibilität ist ausgeschlossen.
In meiner Kritik des Konstruktionismus bin ich bestärkt durch den Argwohn, dass der erkenntnistheoretische Konstruktionismus mehr mit dem handelnden Machertum zu tun habe, als uns als erkenntnisinteressierten Wissenschaftlern lieb ist. In welchem Ausmass die Psychologie der letzten Jahrzehnte von Macherhoffnungen (sprich "Anwendungsdruck") getrieben ist, wissen wir alle, auch wenn wir in der Bewertung dieser Entwicklung divergieren mögen.
Die für das Menschbild bedeutsamste Anthropo-Dezentrierung ist natürlich mit Darwin und der Evolutionstheorie erfolgt. Dennoch ist die heutige Biologie nur partiell kopernikanisch. Zum besseren Verständnis des Folgenden möchte ich deshalb zunächst ich an gewisse Gegensätze zwischen den chemisch-physikalischen Biologen einerseits und den organismisch-systemisch-ökologischen Biologen anderseits erinneren.
Die ersten analysieren Vorgefundenes in und für sich selbst, dh sie untersuchen das, was einem Betrachter unmittelbar gegenüber gestellt sein kann: Materieklumpen, energetische Wandlungsprozesse, Informationsballungen - Zellen zum Beispiel. Das ist analog den ptolemäischen Planetenfigurinen, die einem Betrachter gegeben sind. Und deutlich anthropozentrisch: was nicht innerhalb seines Horizontes ist, braucht den Betrachter nicht zu kümmern; ein Standpunktwechsel ist nicht nötig; die Beifügung von (mensch-konzipierten) Wandlern und Mess-Systemen (zB Mikroskopen, Reagentien, Geigerzähler) reicht aus, um nicht direkt zugängliche Aspekte des Phänomens in den Griff zu nehmen. Die Intention auf Anderes geht prinzipiell auf etwas dem Analysierten Gleichartiges. Bereits der anfängliche Vorgang der Ausgrenzung von Analysierbarem ist stark von dieser Übertragungsabsicht bestimmt. Diese Forscher nehmen ihre vorläufigen Gegenstandsdefinitionen ernst und bleiben dabei.
Die zweiten nehmen das Gegebene nur als Ausgangspunkt; es ist weniger ein Gegenstand als ein Auslöser ihrer Wissenschaft; denn sie fragen eher nach den Bedingungen dieses ihnen begegnenden Phänomens. Ob es Gleichartiges gibt, müssen sie offen lassen, weil sie erst im Laufe ihrer Forschung erfahren, worum es eigentlich geht und was sie über das anfänglich Gegebene hinaus auch noch berücksichtigen müssen. Zur Gewinnung ihres Verständnisses ordnen sie also das anfänglich Gegebene in einen grösseren Zusammenhang ein. So fragen die organismischen Biologen etwa nach der Rolle der Zellen im Organismus. Im kopernikanischen Prototyp dieses Vorgangs: die Planetenfigurinen als Phänomen am Himmelszeltdach verblassen, sobald man sie als konstituiert durch einfache Ellipsenbahnen im dreidimensionalen Weltraum bzw. als Massenverdichtungen in der Raum-Zeit begreift. Der Forscher instrumentiert nicht bloss seinen einmal eingenommenen Standpunkt, sondern wechselt ihn immer wieder: wenn man Planetenbahnen verstehen will, muss man ihren Bezug zur Sonne denken; wenn man Zellen verstehen will, dann muss man ihre Rolle im Organismus thematisieren; wenn Organismen, dann etwa ihre Stellung in der Stammesgeschichte usf. Ein schönes Beispiel einer radikalen Kopernikanisierung oder Dezentrierung in der Biologie ist der fruchtbare Vorschlag von Richard Dawkins (1976), die Organismen als Instrumente der Gene zu verstehen, anstatt wie üblich die Funktion der Gene im Überleben der Organismen zu sehen. Eine Folge der ersten Vorgehensweise ist übrigens, dass die "Wissenschaften vom Leben" zum Leben eigentlich kaum etwas zu sagen haben, während die zweiten wenigstens das Problem wahrnehmen.
Anspielungen auf den Gegensatz zwischen behavioristisch-positivistischem und gestalttheoretisch-strukturalistischem Vorgehen in der Psychologie sind beabsichtigt. Um zu Dezentrierungen in der Psychologie oder der Entwicklungspsychologie zu kommen, brauchen wir also einen Bezugsrahmen, in dem vorläufige Verständnisse des Psychischen aufgehoben werden könnten.
Eine überdisziplinäre Perspektive könnte dabei nützlich sein und müsste auch die Relationen einschlägiger Disziplinen untereinander klären helfen. Ich gehe aus von der Frage nach den hauptsächlichen Gegenstands-Einheiten der Wissenschaften vom Menschen. In welchem Verhältnis stehen sie zueinander? Ich konzentriere mich auf Biologie, Psychologie, Soziologie, die als Prototypen für Betrachtungsebenen andere einschliessen mögen.
Vermuten wir einmal, dass die Betrachtung von Organismen als Gegenstands-Einheiten im wesentlichen auf unserer perzeptiv-kognitiven Organisation (etwa dem Figur-Grund-Prinzip u.ä.) beruhe, also eine anthropozentrische Denkgewohnheit darstelle. Angesichts der Tatsache, dass kein Organismus ohne Stoffwechsel mit seiner Umgebung und keine Person ohne Informationsaustausch mit ihrer Umgebung existieren kann, gibt es nämlich keine zwingenden Gründe dafür, den Organismus als biologische Einheit bzw. die Person als psychologische Einheit gegenüber über- oder untergeordneten Einheitsebenen oder anderen "Klumpenbildungen" so absolut auszuzeichnen, wie wir das gewöhnlich tun (vgl. die Argumentation bei Lang 1985).
Der Organismus, wie er im Genom angelegt und in einer konkreten Umwelt manifest wird, kann nämlich ebensogut als ein Zellverband begriffen werden, wobei jede Zelle in einem vielfältigen Austausch mit ihrer näheren und weiteren Umgebung steht. Oder die Person könnte als eine komplexe Organisation von Informationen verstanden werden, als "psychische Organisation", teils getragen durch das Hirn als spezialisiertes Organ, teils durch die vielfältigen externen Informationsträger wie Gebautes und Schrift (vgl. Lang et al. 1987, Lang in prep.). Ähnlich kann die Gesellschaft als etwas Eigenständiges oder als ein Personenverband verstanden oder gar als eine Superkonstruktion lebender Zellen begriffen werden. Ich will nicht bestreiten, dass es "natürliche" Grenzen in der Welt gibt, dh Stellen mit kanalisiertem und/oder verdünntem Austausch zwischen Bereichen; ich weigere mich bloss, die vertrauten, vom menschlichen Erfahren her bestimmten Einteilungen für endgültig zu setzen.
Als konstruktive Kritik am Anthropozentrismus möchte ich also eine Dezentrierung vorschlagen, die mehrere Betrachterstandpunkte akzeptiert und zugleich einen Bezug zwischen ihnen herstellt, ohne eine neue, übergeordnete, einzelne Position einzunehmen. Erkenntnistheoretisch denke ich an einen Emergentismus betreffend Gebilden, die in der Welt partielle Autonomie gewinnen und denen ein Betrachter begegnen, die er wiedererkennen kann, nämlich vor allem Zellen (Lebensträger), Organismen (Personen) und Kulturen (Gruppen, Gesellschaften).
Nicht zu vergessen ist, dass diese Einheiten in unserem Verständnis Bestandteile von Zeichensystemen sind. Wie bei allen Zeichen kann man einen Bedeutungsinhalt (also das, was ich meine) von einem Bedeutungsträger (also das, worauf ich zeigen kann) unterscheiden; und man weiss im Hintergrund einen Bedeutungszuweiser, hier die jeweiligen Wissenschaften, die sich für eine bestimmte Einheitenebene entschieden haben. Ich folge also der Peirce'schen Dreifachrelation.
Tabelle 1 fasst meinen Versuch zusammen. Man kann die drei Ebenen je für sich oder im Bezug zueinander sehen. Die relative Beliebigkeit der Ebenenwahl sollte sichtbar werden, wenn wir bedenken, dass zwar jede obere Ebene die jeweils unteren im Sinne von notwendigen, aber nicht hinreichenden Bedingungen voraussetzt, so dass die Erkenntnis jeder Ebene weder nach unten analytisch-reduzierend noch nach oben synthetisch-einordnend gesichert werden kann. Reduktionismus ist also nicht möglich. Aber auch jede Verabsolutierung einer Ebene mit Alleingültigkeitsanspruch führt zu Erkenntniseinengung; dies gilt für eine biologistische Auffassung (Organismen und Kulturen stünden im Dienste der Erhaltung des Genoms) genauso wie für eine psychologistische (Zellen und Kulturen stünden im Dienste der Selbstverwirklichung der Individuen) oder eine soziologistische (Zellen und Organismen seien dazu da, die perfekte Gesellschaft möglich zu machen). Ich erinnere jedoch daran, dass alle diese Denkweisen mehr oder minder exklusiv propagiert worden sind oder werden.
Es fällt nebenbei auf, dass mit einigen der verwendeten Termini Probleme verknüpft sind. Zum Beispiel ist auf der psychologischen Ebene mit "Organismus" ein ausserpsychologischer, nämlich biologischer Begriff für den Bedeutungsträger, der sich verhält, üblich geworden. Ich kann nur befremdet feststellen, dass sich jedermann daran gewöhnt hat; besser wäre wohl Individuum.
Tabelle 1: Wissenschafts-Ebenen zur Betrachtung von Komponenten-Verbänden als Träger und als Inhalte der betrachteten Gegenstands-Einheiten (übernommen aus Lang 1988).
Einheiten-Ebene: | Träger (stofflich): | Inhalt (ideell): |
soziologisch: | ? (Kultur, Staat, etc.) | Gesellschaft |
psychologisch: | Organismus (Individuum) | Person |
biologisch: | Zelle | ? (Einheit des Lebens) |
In unserem Zusammenhang besonders interessant scheint mir die Feststellung, dass auf der biologischen Ebene geläufige Begriffe für die Einheit des Lebens ebenso fehlen ("Seele" bzw. "anima" hat diesen Sinn verloren), wie auf der soziologischen umfassende Begriffe für den Träger der Gesellschaftseinheit (vielleicht am ehesten "Kultur", gelegentlich auch "Staat", was aber beides im üblichen Sprachgebrauch nur je partielle Inhalte trifft). Ich werde den Ausdruck "Kultur" zur Bezeichnung eines Trägers der Gesellschaft (und gelegentlich den Ausdruck "Ökosystem" für das Insgesamt von Personen in Kultur und Gesellschaft) verwenden.
Vor allem aber muss uns jetzt in einer dezentrierenden Vorgehensweise interessieren, was die Bedingungen dieser angetroffenen Gebilde sind; wie sie sind, warum sie gerade so sind.
Alle diese drei Einheiten oder Gebilde, die je den Biologen, Psychologen, Soziologen primär interessieren, sind dadurch gekennzeichnet, dass sie in einer nicht-umkehrbaren Zeit Konstanz und Wandel aufweisen, von einem Beginn weg bis zu einem Ende sich entwickeln und doch stets mit sich identisch bleiben. Ich verweise auf Kurt Lewin, insbesondere sein Konzept der Genidentität (1922).
Wie schaffen es diese Gebilde, über die Zeit weg trotz Wandel einheitlich und sich selbst zu bleiben? Meine These lautet: Im wesentlichen, indem sie eine Spur ihrer Geschichte herstellen und mitnehmen und daraus nach Bedarf dergestalt aktivieren, dass jeweils Späteres auf jeweils Früheres bezogen bleibt. Das erlaubt ihnen nicht nur, in der jeweiligen Gegenwart recht adäquat zu handeln, sondern sogar in mancher Hinsicht zutreffend Zukunft zu antizipieren, insofern Früheres funktionell auf Späteres bezogen wird. Und strukturell entstehen durch diese dynamische Speicherung Gebilde, die "etwas über dem Fluss der Zeit" existieren, indem im Speicher, in einem separaten, eigenen Repräsentationssystem also, Relationen realisiert werden können, welche in der realen Zeit unmöglich wären. Diese Gebilde behaupten sich in ihrem Umfeld, weil sie ihre Geschichte speichern und diesen Speicher dynamisch nutzen.
Worin bestehen nun die Speicher dieser drei Gebildetypen? Sind sie gleich oder unterschiedlich? Meiner Meinung nach sind sie trotz mancherlei Unterschieden in ihren funktionalen und strukturalen Bedeutungen, die sie für das jeweilige Gebilde haben, erstaunlich gleichartig.
Der Speicher oder das Gedächtnis der Zellen (dh der emergierenden Gebilde, die uns als Zellen begegnen) ist das Genom. Die Gene in jeder Zelle in ihrer Gesamtheit sind eine Geschichte nicht der betreffenden Zelle, sondern ihrer Evolution bis zu diesem Zeitpunkt. In die DNA-Doppelspiralen verdichtet ist alles Wesentliche dessen, was den Vorfahren der Zelle (nicht als materielle, sondern als strukturelle Einheit verstanden, als emergierendes Informationsbündel, wenn man will) widerfahren ist. Das Genom resümiert die Geschichte seines Aufbaus durch Mutationen und Rekombinationen; und es "kennt" implizit die Geschichte seiner Spezialisierung durch umwelts- (oder besser passungs-) bestimmte Selektion (vgl. unten 1.3.4.2); denn es ist in der Lage, auf dem Umweg über seine Organismen sich dieser Spezialisierung gemäss zu verhalten und muss diese Spezialisierung nicht jedesmal neu erwerben. Das Genom hat einen unglaublich funktionellen Mechanismus der Erhaltung seiner Emergenz erfunden, nämlich die Reduplikation einerseits und die Bildung von Organismen anderseits, die jedem tauglichen Typus geeignete Reduplikationsbedingungen bereithalten. Insofern das Genom die Morphologie und das Verhalten der aus den Zellen aufgebauten Organismen (Zellverbänden) und deren Gruppierungen (Organismenverbänden) derart bestimmt, dass weitgehend das wiederholt wird, was sich unter ähnlichen Bedingungen früher bewährt hat, ist nicht nur Vergangenheit vergegenwärtigt, sondern auch eine ungemein effiziente Antizipation der Zukunft geleistet, falls sich die Umgebungsbedingungen, das Milieu der Zellgruppen, nicht radikal ändern. Die Pufferung durch die Zellverbände fängt dabei immerhin Etliches an Änderungen auf.
Die Speicherung des Organismus ist das über die Ontogenese aufgebaute und ausdifferenzierte Gedächtnis, den Ausdruck hier zwar im üblichen Sinn, aber doch sehr weit verstanden als die individuelle, dynamisch-organisierte Gesamtheit der Erfahrungsspuren. Sie ist eine aktive Ressource, welche ihren Träger von den unmittelbar auftreffenden Informationen und wirksamen Impulsen relativ unabhängig macht, derart, dass neue Information weder unvermeidlich stören (Selektivität der Wahrnehmung), noch jederzeit unbedingt erforderlich sind (Wahrnehmungsergängzung u.ä.). Und natürlich in noch weitergehendem Ausmass als beim Genom erschliesst es die Vergangenheit in der und für die Gegenwart und macht den Träger des Gedächtnisses erstaunlich zukunftstauglich. Infolge seiner im Vergleich zum Genom grösseren Beweglichkeit gewinnt dieses Gebilde vermutlich jene eigenartige Fähigkeit zur speziellen Binnenstrukturierung, die wir in seiner bislang komplexesten Ausformung mit dem Begriff des "Selbst" in Verbindung bringen. Das Gebilde als ganzes gewinnt so durch seine Binnenstrukturierung und deren stark zentralisierende Organisation eine bei nicht so ausgestatteten Gebilden undenkbare Handlungsfreiheit.
Für Psychologen brauche ich dies alles nicht weiter auszuführen. Merkwürdig mutet mich allerdings immer wieder an, dass wir Psychologen es bisher nicht geschafft haben, für dieses allerwichtigste unserer Konstrukte einen gängigen und allgemein akzeptierten Terminus zu schaffen, als theorie-unspezifischen Oberbegriff, meine ich. Aber Termini wie Erkenntnisstruktur, kognitive Struktur, Lebensraum usf. sind vielleicht halbwegs verständlich; "Gedächtnis", wie ich den Begriff hier brauche, ist durch den üblichen Wortgebrauch belastet und bringt die dynamischen Wirkungen der ontogenetischen Speicherungen nichtso recht zum Ausdruck.
Auch die Gesellschaften haben Speicher. Gebaute Strukturen und gestaltete Objekte (also z.B. Wohnanlagen und die Dinge darin und darum herum) sowie alle andern nichtflüchtigen Zeichensysteme (insbesondere Schrift und Bild) sind die Speicher der (Sub-)Kulturen. All diese Dinge enthalten die Geschichte (ebenfalls nur implizit, wie auch bei Genom und Individualgedächtnis) der Kultur, machen die Kultur in ihren wesentlichen Bestandteilen in der Gegenwart wirksam und bestimmen wiederum durch ihre relative Dauerhaftigkeit die Zukunft der Kultur und mithin der Gesellschaft.
Wenn wir so tun, als wäre die Kultur ein Subjekt, vergleichbar dem psychologischen Individuum, so könnten wir in psychologischer Sprache ohne weiteres sagen, die gebauten Strukturen und gestalteten Objekte einschliesslich der nichtflüchtigen Zeichensysteme seien die Erkenntnis- und Handlungsstrukturen der Kultur; im Unterschied zu den traditionellen kognitiven Strukturen der Psychologie sind sie externalisiert und kollektiv (vgl. Lang et al. 1987).
Der Begriff der Kultur macht allerdings einige Schwierigkeiten. Er ist dem Subjektscharakter solcher Gebilde nicht sehr angemessen, weil Kultur ja auch den Individuen interne Zeichensysteme mit einschliesst. Damit Gestaltetes zu Kultur und Kultur den Menschen eigen wird, müssen Kultivationsprozesse eine wechselseitige Ausformung der Kultur und derbeteiligten Personen bewirken (vgl. Csikszentmihalyi & Rochberg-Halton 1981). Denn die Binnenstrukturierung der Kultur geht ja weit über diejenige beim ontogenetischen Gedächtnis hinaus. Und es kommt nicht wie von selbst zur Herausbildung einer zentralen Instanz, wie sie das personale Selbst darstellt; vielmehr stellt sich deren Schaffung in Form von handlungsfähigen Institutionen erst als eine Aufgabe.
Dennoch speichern und repräsentieren die Dinge einer Kultur (ähnlich wie das Genom die Stammeserfahrung und das persönlichen Gedächtnis die individuelle Erfahrung) den Niederschlag der Tätigkeit einer Gruppe, derart dass die weiteren Tätigkeiten dieser Gruppe bzw. ihrer Nachfolgegruppen daraus mitbestimmt werden. Solche Repräsentationen enthalten immer Information sowohl über die Umwelt (d.h. die das Subjekt umgebende Welt) wie über die Möglichkeiten des Umgangs mit ihr; sie sind also durchaus mehr als Abbilder, nämlich immer auch Anleitungen; das heisst, sie sind generativ.
Gebautes und Gestaltetes ist demnach für eine Gruppe funktional dasselbe wie das Gedächtnis für die Person und das Genom für den Organismus: eine unabdingliche, obgleich nicht vollständige Bedingung ihrer Existenz.
Eine bio-psycho-soziologische Evolutionsgeschichte und -theorie der generativen Speicherung wäre allerdings erst zu formulieren. Die Bedeutung gespeicherter Repräsentationen (Genom, Individualgedächtnis, Gestaltetes und Geschriebenes) kann nicht hoch genug eingeschätzt werden, weil sie die Emergenz der sie hervorbringenden "Subjekte" und ihrer Verbände begründen und damit sowohl ihre Konsistenz sichern wie ihren Wandel ermöglichen.
Um die Rolle des kulturellen Gedächtnisses, die uns im Zusammenhang mit der Entwicklungspsychologie interessiert, besser zu verstehen, muss hervorgehoben werden, dass in allen drei Fällen mit dem "Gedächtnis" eine Art "Verdoppelung" des gegebenen Gebildes entsteht, oder besser eine Binnenstrukturierung mit zwei Teilgebilden, die zueinander in ein eigenartig dialektisches Verhältnis treten. In allen drei Fällen haben nämlich die beiden beteiligten Teilsysteme unterschiedliche zeitliche Eigenschaften: das Genom (jedenfalls was seinen Informationsgehalt berifft) überdauert seine Organismen. Ähnliches gilt auch für das ontogenetische und das kulturelle Gedächtnis, insofern die individuelle Erkenntnisstruktur frühere Erfahrungen und sogar künftige Möglichkeiten aktualisieren und für das aktuelle Handeln auswerten kann und insofern die für eine Kultur typischen Werkzeuge, die Bauten, die Kult- und Alltagsobjekte in der Regel (zumindest in ihrer Form) viele Generationen überspannen und jederzeit wirksam werden können. Während also die uns zunächst interessierenden Gebildetypen Zelle, Organismus und Kultur zeitabhängig existieren, haben diese Gebilde zugleich in oder durch ihre Gedächtnisse eine beträchtliche Unabhängigkeit von der Zeit errungen dadurch, dass sie Repräsentationen ihrer Eigenschaften und Akte zu anderen Zeitpunkten verfügbar halten. Man sollte vielleicht besser sagen, diese Gebilde realisierten in ihrer Existenz stets zwei Zeitströme: einen direkten, den wir an ihnen wahrnehmen können, und einen indirekten, in einem spezielleren Medium realisierten, den ich hier ihr Gedächtnis nenne. Es wird zu zeigen sein, dass in dieser zeitlichen Doppeltheit die entscheidende Voraussetzuzng der Entwicklungsfähigkeit dieser Gebilde liegt.
Nun fallen freilich auch Unterschiede bezüglich der zeitlichen und räumlichen "Verteilung" dieser überdauernden Repräsentationen in den Trägern (Zellen, Organismen, Kulturen) auf.
Zellen haben für das Genom eine starke örtliche Konzentration sowie einen ausserordentlich zuverlässigen Reproduktionsmechanismus erreicht, der bei langsamem Wandel eine hohe zeitliche Stabilität (Permanenz) und eine enorme räumliche Verbreitung sichert, allerdings auf Kosten von Flexibilität.
Organismen haben zur Erhöhung der Flexibilität (Ablösung der Instinkte durch Intelligenz, d.h. der im Genom mitgegebenen perzeptiven und exekutiven Koordinationen für den Umgebungsbezug durch die Möglichkeit erfolgreichen Umgangs mit neuen Situationen) flüchtige Gedächtnisse evoluiert, welche nicht nur verhältnismässig unzuverlässig sind, sondern auch als ganze nicht reproduktionsfähig. Sie sind zwar auch örtlich konzentriert, aber zeitlich und räumlich einmalig, d.h. sie können nur dann und dort wirken, wo das Subjekt aktuell tätig ist.
In Kulturen ist die örtliche Konzentration der Speicherung aufgegeben und dafür die Reproduktionsfähigkeit wiedergewonnen worden, allerdings nur in Teilen (viele gleiche Häuser oder Bücher oder andere Zeichen; aber keines, das die Kultur als Ganze repräsentiert, während das Genom und in gewisser Hinsicht auch das Individualgedächtnis den ganzen Organismus bzw. die ganze Person enthalten). Das sichert auch eine relativ grössere räumliche Verbreitung und zeitliche Permanenz. Allerdings ist diese Repräsentation auch recht unsicher, insofern sie zu ihrem Wirksamwerden einer Aktualisierung (Bedeutungsverleihung) durch Personen bedarf und auf Komplemente in deren Gedächtnis (Enkulturation) angewiesen ist. Ähnlich wie bei den Personen kommt es daher bei den Personenverbänden zu einer Individualisierung der und Konkurrenz zwischen den Subjekten (Gesellschaften); aber die verschiedenen Kulturen bzw. Ökosysteme haben gegeneinander unscharfe Grenzen und sind intern vielfach geschichtet.
Unterschiedliche Grade der Zentralisierung der Binnenstruktur auf den drei Gedächtnisebenen habe ich oben angedeutet, kann sie hier nicht ausführen.
Einen weiteren wichtigen Unterschied zwischen den drei Einheitenebenen finden wir bezüglich der Speicherkapazität und der Passungsforderung.
Die beiden ersten Formen von "Verdichtung" der Welt (Leben, psychische Organisation) haben vermutlich raumzeitliche Kapazitätsgrenzen in dem Sinne, dass eine weitere Steigerung ihrer Grösse ihr Funktionieren gefährden würde: die Reproduktionssicherheit nimmt vermutlich mit zunehmender Anzahl der Gene ab; der energetische Haushalt des Hirns lässt nach Ansicht vieler Stoffwechselphysiologen eine höhere räumliche Verdichtung, als beim Menschen erreicht ist, nicht zu.
Die Vermehrbarkeit von Kulturobjekten scheint hingegen unbegrenzt, ebenso die Intensivierung des Informationsaustausches zwischen den vergesellschafteten Individuen. Die beliebige Vervielfältigung standardisierter Objekte (Bauten, Mobiliar, Bilder, Texte) ist das eigentliche Kennzeichen der anthropozentrischen Moderne. Dementsprechend wurde und wird in der industrialisierten Massenproduktion von Gütern ein unerhörtes Niveau erreicht; eine derart hohe Dichte ihrer Verbreitung ist noch nie dagewesen. Allerdings erfüllen diese Güter nur noch zu einem kleinen Teil und oft nur nebenbei eine Subsistenzfunktion; in erster Linie sind sie vielmehr Bedeutungsträger und Kommunikationsmittel im zwischenmenschlichen Austausch geworden.
Passungforderung: Betrachtet man die Trägerstrukturen und -prozesse (traditionell die Objektwelt der Naturwissenschaften) oder die Inhalte (traditionell die Subjekte, mit deren Dasein und Wirkungen sich die Geistes- und Sozialwissenschaften befassen) je für sich, so besteht in der Tat kein Grund, die Grenzenlosigkeit dieser Gebilde in Frage zu stellen: der beliebigen Vermehrung der Menschen wie der Güter scheinen nur praktische, nicht prinzipielle Restriktionen gesetzt. Das ändert sich jedoch radikal, wenn man Ökosysteme, d.h. Menschengruppen in konkreten Welten betrachtet, also Passungsforderungen zwischen Subjekten und "Objektwelten" berücksichtigt. Es wird dann evident, dass die Endlichkeit der existentiellen Ressourcen (Nahrung, Materialien) und die mit ihrer Umsetzung verbundenen Folgen (Energieverteilungsverflachung, Nebenwirkungen) ebenso limitierende Faktoren darstellen wie die Enge der informationsverarbeitenden Kanäle in den Personen und die Kleinheit der interaktionsfähigen Oberflächen.
Bevor etwa die materielle Güterproduktion an die Grenzen der Ressourcen stösst, werden durch Nebenwirkungen das Leben und bereits auch die Funktionsfähigkeit der Psyche gefährdet. Auch die in Zeichen eigener Art niedergelegten Bedeutungen, also sprachliche und bildliche Information, haben nämlich mit technischer Unterstützung eine Dichte erreicht, die ihren Sinn selbst in Frage stellt. Für die kulturelle Verdichtung gibt es also ebenfalls Grenzen, bei deren Überschreitung Dysfunktionen zu erwarten sind. Oder konstruktiver formuliert, in der Evolution der Ökosysteme wirken auch auf der Ebene der Personenverbände Stabilisierungsfaktoren derart, dass die räumliche und zeitliche Diffusion der Träger zugunsten von Qualitäten des Getragenen Beschränkungen eingeht.
Kopernikanische Dezentrierung zum ökologischen System
Damit komme ich zum Kern meiner Argumentation. Eine andere Möglichkeit der Dezentrierung anstatt auf die Pluralität der erkennenden und handelnden Subjekte und damit eine Möglichkeit der Überwindung des Anthropozentrismus und seiner Folgen besteht darin, die Gegenstands-Einheiten und deren Binnenstrukturen neu zu sehen.
Wie schon angedeutet haben einige Biologen dies für das Verhältnis zwischen Genom und Zelle (bzw. Organismus bzw. Leben) bereits getan. Dawkins (1976) Standpunktwechsel vom Genom im Dienste der Art zum "egoistischen Gen", das sich Zellen und Organismen als "Überlebensmaschinen" konstruiert, ist eine solche Dezentrierung. Zu wünschen ist, dass diese Perspektive nicht wie die alte Sicht der Dinge verabsolutiert wird, sondern dass man sich um die Reversibilität dieser Sichten und damit um einen Aussenstandpunkpunkt bemüht.
Auf der soziologischen Ebene sind Dezentrierungen in Form von Kulturrelativierungen seit dem Strukturalismus nicht unüblich: der Gesellschaftsforscher als Ethnologe oder Kulturhistoriker thematisiert auch und fokussiert den "Speicher". Allerdings wird dieser dann nicht selten seinerseits verabsolutiert und die in ihm repräsentierten Menschen tendenziell vernachlässigt, wenn Kulturgeschichte zur Sammlung, zum Kuriositätenkabinett, degradiert.
In unserem Zusammenhang interessiert vor allem die psychologische Ebene, und hier scheint mir auch der Gewinn der neuen Betrachtungsweise am unmittelbarsten. Ich skizziere in groben Strichen:
Ein kopernikanisches, nicht mehr anthropozentrisches Menschenbild akzeptiert, dass kein Mensch in sich selbst ein lebens- und handlungsfähiges Gebilde ist. Traditionelle Psychologie konzipiert einen Organismus (ein Individuum) als Gegenstands-Einheit und untersucht ihn günstigenfalls in seinen Interaktionen mit einer ad hoc ausgeschnittenen sogenannten Umwelt, je nach Bedarf und Willkkür den einen oder andern Ausschnitt.
Wenn aber dieses Individuum auch zugleich ein Glied einer Gesellschaft ist, deren Existenz in der Kultur repräsentiert ist, so dürfen wir deren vergegenwärtigte Geschichte so wenig aus der Betrachtung ausschliessen, wie die im Genom repräsentierte Geschichte der Zellen, aus denen der Organismus konstituiert ist. Ich kann natürlich nicht im Ernst behaupten, dass wir in der Psychologie die Umwelt ausschliessen. Ich meine nur, dass wir sie sehr ad hoc berücksichtigen. Unsere Reiz- und Situationsbeschreibungen erfolgen nach jeweiligem Belieben und Gutdünken; wir haben keine Systematik dafür und keine selbstverständliche Haltung des Umgangs mit ihr. Wir forschen und denken immer unter der einseitigen Subjekt-Objekt-Spaltung. Wir vergessen, wie sehr unsere Umgebung in der Geschichte (hier also auch der Ontogenese) einen Subjektcharakter hat und unser Individuum und die Person als ihr Objekt hervorbringt (vgl. Boesch 1980, 1983 und Csikszentmihalyi & Rochberg-Halton 1981).
Hat man einmal festgestellt, wie sehr dieses Individuum in seiner personalen Existenz nicht auf seinen Organismus beschränkt ist, obwohl es mit ihm geboren wurde und sterben wird, so erkennt man unser gängiges psychologisches Denken und Forschen als partiell, und man sucht nach Wegen, wie Mensch-Umwelt-Gebilde grundsätzlich zum Gegenstand der Psychologie gemacht werden könnten. Dafür eignet sich meines Erachtens die Bezeichnung ökologische Psychologie.
Was die soziale Umwelt betrifft, wurde dieser Schritt bereits in der Sozialpsychologie ein Stück weit vollzogen. Er ist naheliegend und unter dem Anthropozentrismus vollziehbar, weil die soziale Umwelt in mancher Hinsicht leichter als "andere Subjekte" begriffen werden kann. Erst rudimentär haben wir aber eine Umweltpsychologie, was die physischen Gegebenheiten betrifft; und kaum ernsthaft angefangen eine Kulturpsychologie (Boesch 1980). Wobei gleich angefügt sei, dass sich Physisches (Gestaltetes insbesondere), Soziales und Kulturelles natürlich nur als Aspekte, nicht als eigene Bestandteile der erweiterten Person fassen lassen.
Wie schon ausgeführt, kann man diese Gebilde nur dann angemessen verstehen, wenn man die Repräsentation ihrer Geschichte in die Gegenstands-Einheit aufnimmt. Das führt zum Programm einer ökologischen Entwicklungspsychologie.
Natürlich habe ich hier nicht eine ökologische Entwicklungstheorie anzubieten; ich muss auch aus Raumgründen auf die Erwähnung der einschlägigen Literatur verzichten.
Figur 1. "Befreiung", Lithographie (1955) von M.C. Escher. Erläuterung im Text.
Anstelle einer verbalen Ausformulierung einer möglichen ökologischen Entwicklungspsychologie regrediere ich deshalb auf Bildhaftes. Maurits Eschers Bildrolle der sich ausdifferenzierenden Vögel (Figur 1, vgl. Lang 1981, wo leider das Bild verstümmelt wiedergegeben wurde) vermittelt vorteilhaft Einsicht in die wichtigsten Aspekte dieser komplexen Zusammenhänge.
Dass alles auf eine Bildrolle gezeichnet ist, markiert die Unvermeidlichkeit eines Betrachterstandpunktes.
Dass es um Emergenz von Gebilden geht, kommt in dem aufsteigenden Formenwandel zum Ausdruck.
Ursprünglich (bei den Anfängen am unteren Bildrand) scheint Gleichartigkeit von sich wechselseitig konstituierenden Gebilden bestanden zu haben; Entwicklungsträger und Entwicklungspartner sind von einem Aussenstandpunkt her verwechselbar. In der Tat kann man etwa für ko-evoluierende Arten oder für Mutter und Kind nur jeweils von einem bestimmten Standpunkt aus behaupten, die(das) eine sei für die(das) andere durchgängig wichtiger als umgekehrt.
Zu einem bestimmten Zeitpunkt allerdings sind diese "Symbiosen" immer wieder mal asymmetrisch, teils in der Sache, teils infolge unterschiedlicher Betrachterstandpunkte: Escher lässt die Teilgebilde wachsen und schrumpfen; die Eigenart des Bildes als Kippfigur in der Wahrnehmung eines Betrachters zeigt den Perspektivenwechsel: Figur und Grund sind zwar jederzeit eindeutig, aber sie bleiben nicht konstant.
Zusammen mit seinem jeweiligen "Kippfigur-Partner" im gemeinsamen Milieu wandelt sich jedes der beteiligten Gebilde im Laufe der dargestelltzen Reihe und bleibt doch trotz der wechselnden Form als in seiner ganzen Reihe das Gleiche bleibend erkennbar. Die unterschiedliche Zeitlichkeit der beteiligten Gebilde konnte das Bild allerdings nicht einfangen.
Das Bild deutet schliesslich an, dass Entwicklungsträger und -partner immer auch einen gemeinsamen Grund haben oder finden und sich ihrerseits einmal in diesem auflösen werden
Aber ich möchte das hier beigezogene bildhafte Denken auch nicht überstrapazieren.
Entwicklungstheorie, also Erklärung von Entwicklung, muss notwendig ökologisch sein, weil nur durch die Binnendifferenzierung eines sich entwickelnden Gebildes in zwei voneinander partiell unabhängige, aber aufeinander einwirkende Teilgebilde mit ungleichen zeitlichen Eigenschaften ein Prozess mit bleibenden Wirkungen aufrechterhalten werden kann.
Das ist auf den ersten Blick wieder trivial, weil Sozialisation, Enkulturation, Erziehung schon immer so verstanden worden sind, allerdings wurden die beteiligten Gebilde zumeist als ungleichgewichtig gesehen. Zu prüfen bleibt deshalb, ob und was die Dezentrierung vom Individuum auf seinen Entwicklungspartner, auf die es umgebenden Bedeutungsträger der Kultur bringt.
Der grosse Erfolg der biologischen Entwicklungstheorie beruht m.E. darauf, dass zur Erklärung von Entwicklung zwei voneinander unabhängige Schrittphasen und damit zwei voneinander unabhängige Instanzen konzipiert worden sind, nämlich Strukturveränderung der organismischen Entwicklungsträger (die zu anderen Einwirkugen auf die Umgebung führen) und selektiver Eingriff ihres "Entwicklungspartners" in ihrem gemeinsamen Milieu. Der Blick des Entwicklungsbiologen alterniert demnach zwischen der Betrachtung der organismischen Systeme und derjenigen der Umgebungsbedingungen und der jeweils von ihnen auf den Entwicklungsträger ausgehenden Wirkungen hin und her. Darum ist die Kippfigur von Escher als Metapher so gut.
Die psychologische Entwicklungstheorie hingegen hat anthropozentrisch den Menschen und seine Umwelt entweder völlig voneinander abgetrennt oder vermengt. Sie kam so zu unrealistischen Behauptungen, nämlich dass Entwicklung notwendig in einer bestimmten Weise verlaufe (wenn Innenbedingungen verabsolutiert wurden) oder dass sie beliebig verlaufe (wenn Aussenbedingungen für einzig wesentlich gehalten wurden). Praktisch wurden natürlich Kompromisse zwischen diesen beiden Thesen eingegangen; unbefriedigende Kompromisse, denn Prozess-Modelle der Onrtogenese erwiesen sich bis jetzt als nicht durchführbar.
Dass und wie die Wirkungen des traditionellen Entwicklungssubjekts auf seinen "Entwicklungspartner" einbezogen werden können und müssen, in unserem Fall vor allem auf das physische, soziale und kulturelle Milieu, oder noch besser das systemische Zusammenwirken der beiden in einer stets gemeinsamen Entwicklung, versuche ich nun anhand von Beispielen aufzuzeigen.
Ich skizziere ganz kurz vier Beispiele, teils aus fremder, teils aus eigener Forschung.
Ich beginne mit einem Beispiel, bei dem der Entwicklungspartner des kleinen Kindes überwiegend als soziale Grösse verstanden werden kann; also ein relativ vertrautes Feld des Entwicklungspsychologen, für das die Bezeichnung ökologisch eher ungewöhnlich ist: Mutter und Kind in der frühen Interaktion. In den letzten gut 10 Jahren sind eine Reihe von Studien publiziert worden, welche zeigen, in welchem Ausmass wir irren, wenn wir die Mutter bloss als sozialisierende Instanz verstehen. Beispiele aus der zeitlichen Koordination des gemeinsamen Verhaltens, vorsprachlicher und sprachlicher Dialog, oder die wechselseitige Stimmungs- und Aufmerksamkeitsregulation, Bindungsprozesse u.a.m. sind einigermassen allgemein bekannt geworden.[Footnote #6] Eine Dezentrierung vom Sozialisanden auf den Interaktionsprozess ist hier exemplarisch erfolgreich geworden.
Was zudem vom Kind für Wirkungen auf Entwicklungsprozesse der Mutter ausgehen, und was dann deren Resistenz dagegen und was dadurch induzierte Veränderungen für das Kind bedeuten, ist aber noch kaum empirisch angegangen worden.
Als zweites Beispiel erwähne ich ein von den Psychologen extrem vernachlässigtes und auch sonst eher unterentwickeltes Feld: die psycho-soziale Bedeutung der Dinge des Alltags. In dem Buch von Csikszentmihalyi & Rochberg-Halton (1981): Der Sinn der Dinge: Das Selbst und die Symbole des Wohnbereichs, - wir bereiten derzeit eine deutsche Übersetzung vor - wird theoretisch und wenigstens befragungsempirisch deutlich gemacht, in welchem Ausmass der Bezug zu seinen Dingen oder die "Kultivation" der bevorzugten, verehrten, liebgewordenen Alltagsgegenstände ("cherished objects") einen Menschen "definiert". Der über die Lebensalter dokumentierte Wandel der bevorzugten Kultivationsobjekte, und ebenso die unterschiedliche Rolle von gleichen Objektkategorien in verschiedenen Lebensphasen verbirgt eine noch ungehobene Goldmine für die Konkretisierung und das Verständnis von Entwicklungsprozessen. Ich muss allerdings beifügen, dass die Untersuchung selber nicht im angesprochenen Sinn anthropo-dezentriert angelegt ist; aber sie fokussiert wenigstens auf die andere Seite der Partnerschaft.
Im Zuge der Konkretisierung einer ökologischen Entwicklungssychologie richtet sich mein Hauptinteresse auf jene Mensch-Umwelt-Gebilde, bei denen sich Impulse, die vom Individuum ausgehen, im Entwicklungspartner als Spuren niederschlagen, die sich später wieder geltend machen, derart dass Interaktionsverläufe über mehrere Hins und Hers verfolgt werden können. Denkbar, dass der Umgang mit Mikrowelten im Sinne von Seymour PAPERT (1980) solche Entwicklungsökologien darstellen lässt und auch relativ leicht experimentelle Anordnungen erlaubt. Ich habe mich darauf aber nicht empirisch eingelassen, weil mir der heute noch unvermeidliche Zwang zur Verwendung von überaus artifiziell symbolisierten Medien, also der sterile Weltbezug am Computerinterface, zu grosse Sorgen macht.
Das Feld, in dem mir die Notwendigkeit der Dezentrierung vom Subjekt klar geworden ist, ist dieWohnpsychologie, die Idee des: Wir machen Häuser, was machen die Häuser mit uns? (vgl. Lang et al. 1987). Mancherlei Studien führen zur Überzeugung, dass es nicht gleichgültig ist, in welcher Wohnsituation Kinder heranwachsen: also die Häuser machen etwas mit uns. Sie verändern sich ja aber auch, oder sie werden verändert, auf mehreren Zeithorizonten überlappend: in der Kulturgeschichte, in den Modeströmungen der industriellen Produktion, in den Geschmackswellen der Medien, mit den Lebensphasen der Bewohner, mit Ursachen, die wir noch kennenlernen sollten.
Ich erwähne als Beispiel eine Diplomarbeit (Bos 1983), in der wir die Geschichte von Familien und die Geschichte ihrer Einfamilien-Häuser in Parallele gesetzt haben, in Form von Fallstudien, retrospektiv über 10 Jahre. Mit einem besonders eindrücklichen Fallbeispiel kann ich die intendierte Entwicklungsdialektik zwischen den Partnern Familie und Haus am leichtesten illustrieren. Die Gründung eines eigenen Geschäfts durch den Familienvater brachte Umstellungen, das Büro wurde im Haus eingerichtet, um der Mutter teilzeitliche Mithilfe neben der Kinderbetreuung zu erleichtern. Der geschäftliche Erfolg brachte rasch den Druck auf Vergrösserung und damit den Anbau eines Zimmers als Büro. Ein zweites Zimmer im ersten Stock war aus baulichen Gründen naheliegend, was dazu beitrug, dass die Grossmutter in die Familie aufgenommen wurde. Damit konnte sich die Mutter, von der Kinderbetreuung teilweise entlastet, noch vermehrt dem Geschäft widmen. Dieses florierte und rief nach prestigeorientiertem Ausbau der Wohnräume und einer Gartenterrasse, u.a. für Kundenempfänge.
Schwieriger erwiesen sich Zeitbudget- und Befragungsstudien über die Entwicklung des Bezugs von jungen Jugendlichen zu ihrer Wohnumwelt (Vogt & Loder 1982). Faszinierend erschien uns hier die phasenweise "Eroberung" vom eigenen Zimmer her zunächst der Wohnung und der Wohnumgebung, später von Quartier und Stadt, und die damit in die Person aufgenommenen Lebenshorizonte. Bedrückend zugleich die bedenklich Festigkeit der baulichen Situation des Hochhausquartiers, die weder in den Zimmern, noch den Wohnungen noch gar in der Wohnumgebung den Jugendlichen Gestaltungsfreiheiten eröffnete und damit das anvisierte Entwicklungsspiel zwischen Mensch und Umwelt restringierte.
Als letztes Beispiel erwähne ich eine Studie über den Einzug von Betagten ins Altersheim (Lang et al. 1987). Durch Verhaltenskartographie, in strukturierten Gesprächen und mittels systematischer Aufnahme aller Veränderungsspuren in den halböffentlichen Heimbereichen über längere Zeit versuchten wir der Rolle des Heims als physisches Setting beim Vollzug des Entwicklungsschrittes dieser Personen von der selbständigen Wohnungsführung zum institutionell behüteten Heiminsassen nachzugehen. Bestürzend war zu sehen, in welchem Ausmass auch eine fortschrittliche Heimarchitektur blind ist für den Menschen, dem sie dienen will. Ästhetische und wirtschaftliche Kriterien, Pflegeleichtigkeit, Einheitlichkeit und dergleichen Aspekte dominieren fast total. Man muss schliessen, dass dem Betagten der Übergang in diese neue Lebensphase durch die physischen Gegebenheiten beträchtlich erschwert, dass ihm mehr als nur eine neue Wohnform aufgenötigt wird.
Die Überwindung des herrschenden Anthropozentrismus in der Psychologie ist notwendig und überfällig. Sie könnte zwei Dezentrierungen erbringen:Eine nicht-hierarchisch-reduktionistische Einordnung psychologischer Sichtweisen des Menschlichen zu anderen, gleichwertigen und reversiblen Betrachtungsweisen , und
eine Dezentrierung von der gängigen Gegenstands-Einheit "Individuum/Person" auf Mensch-Umwelt-Gebilde, dh eine ökologische Haltung.
"Speicherung" oder "Gedächtnis" erweist sich in ökologischer Sicht nicht nur als ein Einheiten konstituierendes Prinzip, sondern auch als Voraussetzung von Konsistenz und Wandel, also von Entwicklung.
Denn Entwicklung, ökologisch verstanden, setzt wenigstens ein Gebilde mit zwei Teilsystemen (eine Partnerschaft) voraus, von denen eines "verfestigter" ist als das andere, welche also unterschiedliches "Zeitverhalten" aufweisen.
Die Durchführung dieses Gedankens bezüglich der Entwicklung von Menschen in ihrer physischen, sozialen und kulturellen Umwelt legt nahe, diese beiden Entwicklungspartner Mensch und seine Umwelt in einem symmetrischeren Verhältnis zu verstehen als es in unserer Zivilisation üblich ist. Dieses neue Verhältnis habe ich als "kopernikanisches Menschenbild" bezeichnet, weil es reversiblen Perspektivenwechsel voraussetzt.
Die vorgetragenen Ideen haben neben wissenschaftstheoretischen und psychologiekritischen nicht zuletzt auch starke ethische Wurzeln; die Pflege eines dezentrierten Menschenbildes hat mithin wohl auch ethische Konsequenzen, die vor allem, doch nicht nur, unseren Umgang mit unserer Umwelt betreffen.
Zum Abschluss möchte ich versuchen, eine naheliegende Reaktion auf diesen Beitrag zu neutralisieren. Die Aufforderung an Menschen, sich mit einem Menschenbild anzufreunden, in welchem der Mensch nicht mehr den zentralen Platz einnimmt, sei zu absurd, als dass sie ernsthaft erwogen werden könne. Da der in Aussicht gestellte Vorteil für die Psychologie, die Möglichkeit überhaupt einer Entwicklungstheorie, zudem mit der Zumutung verbunden sei, fast alle Denkgewohnheiten über psychologische Gegenstände auf den Kopf zu stellen, sei sie auch nicht praktikabel. Den Feststellungen der beiden Einwände kann ich schwer ernstlich widersprechen; dass ich dennoch meinem Programm zu folgen versuche, hat also vielleicht weniger rationale als pragmatische Motive. Denn was, wenn die Welt uns unseren Platz in ihr zuweist, bevor wir selber ihn gut genug erkannt haben?
Boesch, Ernst E. (1980): Kultur und Handlung. Bern, Huber.
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1. Überarbeiteter Beitrag zur 8. Tagung Entwicklungspsychologie, 13.-16.8.1987 in Bern. Der Verfasser dankt August Flammer für konstruktive Kritik.
2. Laupenstrasse 4, CH-3012 BERN
3. Da wir gewohnt sind Techniken immer nur utilitaristisch im Hinblick auf limitierte Nahziele zu bewerten, mag dieser Gedanke, besonders für materie- und energiebezogene Techniken, ungewohnt erscheinen; die Berücksichtigung von Nebenwirkungen jeder Technik, besonders aber die Wettbewerbssituation im psycho- und sozialtechnischen Bereich, könnte uns anders belehren.
4. Natürlich ist der Ausdruck "kopernikanisch" seinerseits problematisch, insofern er nicht nur eine Wende, sondern fälschlicherweise auch die Errungenschaft eines neuen Zentrums signalisieren könnte.
5. Im folgenden gestatte ich mir eine teilweise Übernahme von Argumenten und Textpassagen aus Lang 1988.
6. Diese Einsichten sind mit zu vielen Namen verbunden, als dass sie hier angeführt werden könnten. Ich verweise deshalb pauschal auf Informationen in Osofsky (1987).