Alfred Lang

University of Bern, Switzerland

Edited Book Chapter 1981

Vom Nachteil und Nutzen der Gestaltpsychologie für eine Theorie der psychischen Entwicklung1

(Richard Meili zum 80. Geburtstag)

1981.01

@DevPsy @EcoPersp @CuPsyBas @SciTheo

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Pp. 154-173 in: Klaus Foppa & Rudolf Groner (Eds.) Kognitive Strukturen und ihre Entwicklung. Bern, Huber.

© 1998 by Alfred Lang

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Inhalt

 

Zusammenfassung / Abstract in English

[Einleitung]

Gestalttheorie und Entwicklungspsychologie

Das Problem mit der guten Gestalt und dem Gleichgewicht

Umstrukturierung entwicklungspsychologischen Denkens

Zwei Varianten ökologischer Psychologie

Kognitivistische Ökopsychologie

Reale Ökopsychologie

Literatur

Zusammenfassung Anhand der früh einsetzenden entwicklungspsychologischen Orientierung der Gestaltheorie (Koffka, Lewin, Meili) und im Hinblick auf Entsprechungen in der Entwicklungstheorie Piagets wird gezeigt, dass ein 50 Homeostase oder auf Gleichgewichtszustände angelegtes System nicht als sich entwickelnd, sondern eher als stillstehend erklärt wird. Auch psychologische Entwicklung sollte deshalb nach dem Modell Darwins ökologisch, dh als aus der Interaktion von wenigstens zwei, voneinander partiell unabhängigen Systemen begriffen werden. Es werden dann zwei Varianten ökologischer Psychologie zur Diskussion gestellt. (a) Der nach der kognitiven Wende dominierende kognitivistische Ansatz im Geiste des Lewin'schen Lebensraumskonzepts kann gerade diesen Anspruch nicht erfüllen. (b) Eine "reale Ökopsychologie" im Anschluss an Lewins Öffung zur Ökologie darf sich nicht auf das Individuum und seine Umwelt eingrenzen, sondern muss auf die Welt bezugnehmen, aus der Individuen und Gruppen ihre je eigene und kulturelle Umwelt wahrnehmend und handelnd ausgliedern. Das psychologische Verständnis der nach vorne offenen Entwicklung von Menschen und ihren Umwelten muss daher so notwendig ökologisch angelegt sein wie eine reale ökologische Psychologie notwendig eine Entwicklungspsychologie sein muss.

Abstract A system regulated by homeostasis or balancing states cannot really develop but rather is bound to settle itself to rest. This is made evident by pointing to the early developmental orientiation of Gestalt theory (Koffka, Lewin, Meili) and comparable notions in the developmental theory of Piaget. Therefor, theories of psychological development should follow Darwin's model and be conceived in ecological perspective, i.e. on the basis of interaction between at least two systems that operate at least in part independently of but upon each other. Two variants of ecological developmental psychology are then discussed: (a) The cognitivistic approach which in following Lewin's post-perceptual and pre-behavioral concept of life space cannot in fact fulfill the above requirements though it presently dominates the scene. (b) A "real eco-psychology" following Lewin's opening towards psychological ecology should not restrict itself to the individual and its environment in the phenomenal sense but must refer to the larger world of which individuals and group gain their particular and cultural environment through perceiving and acting. A psychological underststanding of towards the future open development of humans together with their real environments is therefor necessarily to operate ecologically as well and as much as an ecological psychology must necessarily be a developmental psychology.

 

Inhalt

«There are certain People who, as soon as some undeniable fact is written down, find it amusing to show why that 'fact' is false after all. I am such a person ...»

(HOFSTADTER, 1978, S. 56)

 

Eine der bedenklichen Feststellungen, die man über den heutigen Stand der psychologischen Erkenntnis machen muss, betrifft das Fehlen einer erklärenden Theorie der psychischen Entwicklung. Der Mensch und seine Kultur sind «Dinge in Entwicklung»; eine Wissenschaft, die dieser Tatsache nur ad hoc Rechnung trägt, kann auf die Dauer nicht ernst genommen werden.

Wohl gibt es eine grosse Zahl von «Theorien» der psychischen Ontogenese. Sie lassen sich so leicht auf zwei Grundtypen -- mechanistisch-assoziationistische und organismisch-holistische -- zurückführen (REESE & OVERTON, 1970), dass der kritische Betrachter vermutet, es handle sich eher um apriorische Denkweisen als um sachbezogene Theorien. Auch eine nähere Betrachtung der Methodik zeigt, dass wir eigentlich nicht in der Lage sind, die systematischen Veränderungen des Wahrnehmens, Denkens, Lernens, Fühlens, Handelns oder der Persönlichkeit im Laufe ihres Lebens angemessen zu beschreiben, geschweige denn zu erklären, d.h. zu verstehen, unter welchen Bedingungen es (notwendig) dazu kommt.

Was die Beschreibung betrifft, haben wir uns durch die Bevorzugung einer Messmethodik, welche entweder fast nur das Konstante (Tests, vgl. LANG, 1977, S. 191) oder eigentlich nur die Veränderung (Lernexperiment) sehen kann, weitgehend den Blick auf Entwicklungsphänomene verstellt. Die Vorgehensweise von PIAGET kombiniert in gewissem Sinne die beiden Verfahren, und man muss anerkennen, dass hier Entwicklung erfasst wird; allerdings mit ungeklärter Messgüte und mit dem Zwang zur Auffassung von Entwicklung als Stufenfolge.

Was die Erklärung betrifft, verweisen wir auf nur paradigmatisch aufgeklärte Prototypen wie Reifung oder verschiedene Formen des Lernens, die wir per Analogieschluss zu Ursachen der Entwicklung deklarieren. Im Fall der Reifung verzichten wir mithin auf eine psychologische Erklärung, ohne freilich das Verhältnis zwischen Psychologie und Biologie hinreichend geklärt zu haben; im Fall des Lernens verwechseln wir mögliche und wirkliche Erklärungen: denn ob die postulierten Lernfaktoren wie unbedingter Reiz, Bekräftigungsreiz oder Lernmodell usf. in der Wirklichkeit als notwendige und ausreichende Lern- oder gar Entwicklungsbedingungen vorkommen, lässt sich aus praktischen und ethischen Gründen nicht untersuchen (vgl. dazu auch WOHLWILL, 1973). Es wird häufig als Fortschritt betrachtet, dass wir heute nicht mehr entweder Reifung oder Lernen, sondern deren kombinierte Wirkung als Ursache der Entwicklung postulieren; man kann dies sicher nicht für falsch ansehen; tatsächlich aber macht es derzeit die meisten Erklärungsversuche nur obskurer.

Die Problematik der psychologischen Theorien der Ontogenese scheint darin zu liegen, dass ihre Beschreibungsbegriffe und ihre Erklärungsbegriffe ineinander verflochten sind: typische Erklärungsbegriffe sind aus den Beschreibungen geforderte Postulate. Sie haben also den Charakter von Interpretationen.

In der Biologie hingegen ist mit DARWIN der prinzipielle Durchbruch zur Erklärung der Stammesgeschichte gelungen. Die Prinzipien der Speicherung und Reduplikation der genetischen Information, deren Mutationen und Rekombinationen sind in ihrer Bedeutung für die Phylogenese verhältnismässig gut bekannt. Und insbesondere lässt uns die Steuerung des Artenwandels aus dem Verhältnis zwischen der genetischen, in Organismen manifest gewordenen Information und den jeweiligen Umweltbedingungen verstehen, wie es zu gerade dieser Evolution gekommen ist -- zwar nicht voll und ganz, weil uns die entsprechenden Daten ja nur unvollständig zugänglich sind, aber doch im Prinzip und in vielen Einzelheiten. Und da es sich zur Hauptsache um Kausalerklärung handelt, sind wir auch in der Lage, in begrenztem Rahmen gezielt -- zum Guten und zum Schlechten -- in solche Entwicklungen einzugreifen bzw. abzuschätzen, welche technologischen Eingriffe zu welchen Effekten führen dürften.

Nun ist zwar unvermeidlich, dass eine Theorie vorschreiben muss, welche Sachbereiche als Explikate im Hinblick auf ein gegebenes Explanandum angeschaut werden müssen; für diese Explikate sind dann aber unabhängige Beschreibungsbegriffe erforderlich.

So sagt die Evolutionstheorie im Hinblick auf die Selektion nicht (mehr): schaue das Überleben der am besten Angepassten an; sondem sie lenkt den Blick auf die Überlebensverteilung eines Gensatzes und deren Ursachen. Bei näherer Betrachtung findet man -- völlig unabhängig von jeder Evolutionstheorie --, dass die Überlebensverteilung ungleichmässig ist: je enger die Verwandtschaft, desto ähnlicher die Wahrscheinlichkeit des Überlebens in bestimmten Biotopen. Die Ursachen der Phylogenese, soweit durch Selektion vermittelt, liegen also im Gensatz und seinem Verhältnis zu bestimmten Biotopen. Im Gegensatz dazu sagt z.B. die operante Lerntheorie: suche nach Bekräftigungsreizen; sie sind notwendige Bedingungen des Lernens. Und: Bekräftigungsreize sind solche Reize, welche das Lernniveau verändern. Es ist bisher nicht gelungen, eine von dieser Theorie unabhängige Definition solcher Reize zu geben.

Die Lektüre evolutionstheoretischer Literatur legt den Gedanken nahe, dass die Fortschritte in der Biologie ganz entscheidend durch eine Verschiebung der Aufmerksamkeit weg von den traditionellen auf neue Gegenstandskonzeptionen ausgelöst und wohl auch erst ermöglicht worden sind. Beispielsweise zeigt MAYR (1979, Kap. 3) die enorme Bedeutung des Übergangs vom typologischen oder essentialistischen zum Populationsdenken; und DAWKINS (1978) macht klar, wieviele Phänomene plötzlich verständlich werden, wenn man den Blick vom individuellen Organismus als Träger der Evolution weg auf das Genom wendet, für welches der Organismus bloss eine «Überlebensmaschine» darstellt.

Es war die Gestalttheorie, welche in der Geschichte der Psychologie am nachdrücklichsten aufgezeigt hat, dass die Güte der Erkenntnis vom Ansehen des richtigen Zusammenhanges abhängt. Könnte sie auch bei der notwendigen Umstrukturierung der Entwicklungspsychologie von Nutzen sein?

Inhalt

 

Gestalttheorie und Entwicklungspsychologie

Eines der Gebiete, dem sich die Gestaltpsychologen nach dem ersten Entwurf ihres Ansatzes anhand von Wahmehmungsproblemen zuwandten, war die Entwicklungspsychologie. KOFFKA hat bereits 1921 eine vielbeachtete, aber später ziemlich vergessene Entwicklungspsychologie aus gestalttheoretischer Sicht geschrieben. LEWIN ist über lange Jahre ein hervorragender Entwicklungspsychologe gewesen, und seine Feldtheorie ist ihrem Wesen nach eine Entwicklungstheorie (vgl. LEWIN, 1946; LANG, 1964, 1979) obwohl dies in den Sekundärdarstellungen verhältnismässig selten hervorgehoben und oft genug völlig übersehen wird. In letzter Zeit beobachtet man eine Art Renaissance der Gestalttheorie; doch kann man sich eines zwiespältigen Eindrucks schwer erwehren. In angewandten Bereichen von Schule und Klinik ist der Name «Gestalt» in aller Mund, der Inhalt des Gedankens aber oft auf Trivialitäten reduziert. In manchen Bereichen der Grundlagenforschung ist der Gestaltgedanke unbekannt oder wird er ignoriert; in anderen Bereichen begegnet man wieder häufiger einigen der klassischen Ideen, nicht selten verkrüppelt oder in neuen terminologischen Gewändern. Von einer gestalttheoretisch orientierten Entwicklungspsychologie ist freilich heute kaum etwas zu sehen.

Das ist erstaunlich und bedenklich, weil eigentlich eine innere Affinität des Entwicklungsgedankens zu den Grundideen der Gestalttheorie kaum zu verkennen ist. METZGER nimmt in seiner Psychologie (1954a) immer wieder und im Schlusskapitel ausdrücklich auf die Entwicklung des Psychischen bezug; aber sein unverkennbarer Einfluss in pädagogischen Kreisen ist doch wohl überwiegend eher seiner Person als seiner Psychologie zuzuschreiben. Bereits in den «Principles of Gestalt Psychology» vermeidet der Pionier KOFFKA eine direkte Auseinandersetzung mit dem Entwicklungsproblem. Neben LEWIN und seinen Schülern aus der Berliner und der Iowa-Zeit ist es vor allem MEILI, der seit seiner Genfer Zeit beharrlich die Grundideen der Gestalttheoretiker an Entwicklungsproblemen erprobt hat (vgl. MEILI, 1972). Auf KOFFKA und LEWIN und natürlich ebenso auf CLAPAREDE aufbauend und von PIAGET beeinflusst, hat er gezeigt, wie fruchtbar eine Verbindung der Gestalttheorie mit genetischen Überlegungen für eine allgemeine Psychologie der Persönlichkeit sein könnte.

Zwar ist auch die Entwicklungspsychologie von PIAGET nicht ohne gestalttheoretische Charakterzüge; dies wurde von PIAGET selber verschiedentlich anerkannt, von andern Autoren gelegentlich etwas nachdrücklicher hervorgehoben (z.B. MEILI, 1966). Aber die Schlussfolgerung, dass heute eine gestaltpsychologische Entwicklungstheorie nicht existiert, ist auch nach einer detaillierten Analyse der Literatur, für welche hier der Platz fehlt, nicht zu umgehen. Das hat meiner Meinung nach seine guten Gründe. Ich will diese aufzuzeigen versuchen und zugleich geltend machen, dass dennoch die Gestalttheorie ein Potential enthält, einer wirklichen Entwicklungspsychologie näher zu kommen.

Inhalt

Das Problem mit der guten Gestalt und dem Gleichgewicht

Wie von verschiedenen Autoren gezeigt worden ist (z.B. METZGER, 1954b; PIAGET, 1954), macht die Gestalttheorie zwei Grundannahmen. Deren Verknüpfung ist zwar nicht notwendig, sie sind aber doch so stark aufeinander bezogen, dass sie nicht selten nur als Gemenge gesehen werden. Die erste Annahme ist eine Strukturannahme: sie postuliert die Ganzbestimmtheit oder Kontextbestimmtheit der Teile jeder psychischen Gegebenheit - oder etwas allgemeiner: dass wir nichts untersuchen sollen, ohne zuerst den relevanten Zusammenhang geklärt und berücksichtigt zu haben, falls wir dem Risiko entgehen wollen, wesentliche Eigenschaften zu verpassen. Die zweite Annahme ist eine dynamische Annahme: sie postuliert für alle solchen Strukturen die immanente Tendenz, gewisse ausgezeichnete Zustände anzunehmen, nämlich unter den herrschenden Umständen so weit möglich eine «gute», «prägnante», «einfache», «ausgewogene», «sparsame» usf. Organisation anzunähern. Diese beiden Grundannahmen sind kaum anders denkbar als auf dem Hintergrund einer allgemeineren Annahme, welche genetischer Natur ist: alles Psychische ist Resultat eines Aufbau- und/oder Differenzierungsprozesses. Dieser letzte Punkt ist aber so allgemein, dass ich im folgenden nicht weiter darauf eingehen möchte (vgl. dazu auch LANG, 1964, S. 40ff., von dem ich hier und im folgenden Einiges übernehme).

Die erste Annahme ist heute für weite Bereiche der sogenannten Kognitiven Psychologie nahezu Allgemeingut geworden. Zunächst geht es einfach um sachgerechte Beschreibung: wenn man fordert, dass jeder psychische Sachverhalt unter Bezugnahme auf einen übergeordneten Rahmen gesehen werden muss. Gelegentlich wird gesagt, dies sei zu allgemein, um noch nützlich zu sein. Wie man gleich sehen wird, stimme ich diesem Einwand gar nicht zu. Ich halte den heuristischen Wert der Strukturannahme für durchaus noch nicht ausgeschöpft.

Die zweite Annahme zielt zusätzlich auf ein universelles Erklärungsprinzip ab. Die «Tendenz zur guten Gestalt» ist eine umstrittene Forderung, beinahe ein Glaubenssatz, an dem sich die Geister scheiden. Die Gestalttheorie dürfte ihre Strittigkeit in erster Linie diesem Postulat zu verdanken haben. In der Tat ist es ja bisher nicht gelungen, die Zirkularität der Argumentation zu durchbrechen, die darin liegt, dass die phänomenale Eigenschaft der «guten Gestalt» durch andere Phänomenmerkmale wie «Nähe», «Gleichartigkeit» usf. erklärt werden soll; das eine ist jeweils eine Tautologie des andern. Bei näherem Zusehen enthält aber die dynamische Grundannahme zweiIdeen, die meiner Meinung nach nicht das gleiche Schicksal verdienen.

Die erste Idee sagt einfach, dass die Strukturen nicht beliebig sind, d.h. dass in jeder Familie von verwandten Strukturen eine Teilmenge gegenüber dem Rest ausgezeichnet ist. Ich behalte dafür den Namen «dynamische Grundannahme» bei, weil Strukturen dann (dynamische) Systeme genannt werden, wenn die Interdependenzen ihrer Teile nicht beliebig sind. Die zweite Idee fordert darüberhinaus, welche Strukturen gegenüber welchen andern eine grössere Realisierungschance haben, nämlich «sparsame», «gleichgewichtige», «gute» usf. Während die erste Idee weiterhin deskriptiven Charakter aufweist und als eine interessante Erweiterung der Strukturannahme gelten kann, ist nur die zweite Idee ein Stein des Anstosses. Sie ist es umso mehr, als sie mehrere verschiedene Kriterien für die Auszeichnung bestimmter gegenüber allen andern Strukturen postuliert: Ökonomieprinzip, Gleichgewichtsprinzip (erster oder höherer Ordnung als Fliessgleichgewicht), Prägnanzprinzip 2. Das Verhältnis dieser Prinzipien untereinander ist meines Erachtens nie in befriedigender Weise geklärt worden; vielleicht ist das gar nicht allgemein möglich, sondern nur an konkreten Fällen.

All diesen allgemeinen Gestaltprinzipien ist aber eines gemeinsam: nämlich dass sie Entwicklung zum Stillstand bringen. Solche Prinzipien als Regulatoren der Systemtätigkeit zu fordern heisst dasselbe wie ein Zielerreichungskriterium einzuführen. Wann immer solche Kriterien erfüllt sind, bedeutet dies die Unterbindung weiterer Systementwicklung.

So weit ich sehe, ergibt sich in Hinsicht ihrer regulativen Wirkung kein fundamentaler Unterschied zwischen Gleichgewichtsprinzipien und teleologischen Prinzipien. (In der Tat ist nicht selten unklar, ob die Prägnanzidee eher den Gleichgewichts- oder den zielspezifischen Prinzipien zuzurechnen ist, etwa wenn gesagt wird, dass eine prägnante Organisation nicht nur die einfachste, sondern auch die beste sei.) Ein System unter Regulation von Gleichgewichts- oder Prägnanzprinzipien ist nach Erfüllung der Kriterien genau wie ein teleologisches System nach der Letztziel-Erreichung solange ein stillstehendes System, als es nicht von aussen her aus dem Gleichgewicht geworfen, gestört, oder mit weiteren Zielen versehen wird.

Ein gradueller Unterschied ist allenfalls darin zu sehen, dass teleologische Regulatoren sich leichter hierarchisieren, d.h. als eine Folge von Teilzielen verstehen lassen, was den Entwicklungsphänomenen besser zu entsprechen scheint. Die Notwendigkeit, dann aber eine Instanz annehmen zu müssen, welche die jeweilige Zielhierarchie bestimmt, macht jedoch deutlich, dass die Erklärungsbedürftigkeit dadurch nur verschoben, das Entwicklungsproblem nicht gelöst wird.

In beiden Fällen hat die Entwicklung notwendig systemfremde Ursachen: entweder Störungen des bestehenden Gleichgewichts oder auferlegte Ziele, In beiden Fällen bleibt offen, warum sich das System nicht einfach den Einflüssen entzieht, z.B. durch Drosselung oder Verweigerung des Inputs. M.a.W. diese sogenannten Entwicklungstheorien konstruieren ein heteronomes -- und das heisst eben: nicht sich entwickelndes, sondern allenfalls von aussen her auf Trab gehaltenes -- System. Was die Gestalttheorie auszog zu erreichen: autonome Organisation zu beschreiben und zu erklären, ist ausgeschlossen oder auf den Abschnitt bis zur Kriteriums-Erreichung begrenzt. Es ist jetzt verständlich, dass die Gestalttheorie für die Entwicklungspsychologie nicht fruchtbar geworden sein kann.

Derselbe Einwand ist u.a. von PIAGET gegenüber einem freilich allzu statisch aufgefassten Gestaltbegriff erhoben worden (z.B. PIAGET, 1967). Ich denke allerdings, dass der Einwand auch für das von PIAGET als Lösung vorgeschlagene Äquilibrationsprinzip gilt (vgl. z.B. PIAGET, 1973, in dem Gleichgewicht nicht als Zustand, sondern als Prozess aufgefasst werden soll, durch den Äquilibration bloss immer nur angenähert, aber nie erreicht wird. Das soll im folgenden deutlich werden, ohne dass ich auf PIAGET im Einzelnen eingehen kann. Dieser scheint sich bewusst zu sein, dass sein System Entwicklung auch nicht vollständig erklären kann (vgl. PIAGET, 1975, S. 174ff.).

Inhalt

Umstrukturierung entwicklungspsychologischen Denkens

Mir scheint, dass für die dringliche Förderung einer psychologischen Entwicklungstheorie drei Wege offen stehen.

(1) Man kann auf teleologische Prinzipien zurückgreifen und insbesondere eine Hierarchie von Zielen (Lebenszielen) derart aufzustellen versuchen, dass immer dann ein übergeordnetes Ziel seinen Einfluss auf das sich entwickelnde Individuum geltend macht, wenn ein eben untergeordnetes Ziel gerade erreicht worden ist. Obwohl dergleichen Ansätze, beispielsweise auf der Grundlage von Handlungstheorien, derzeit Mode sind (z.B. OERTER, 1979), halte ich sie für verfehlt.

Ich habe schon deutlich gemacht, dass Zielhierarchien als Entwicklungsregulatoren das Erklärungsproblem nur verschieben, nicht lösen. Gegen Entwicklungsbegriffe mit Zielimplikation sind auch ethische Einwände vorzubringen, da sie sich vorzüglich zur Gängelung des Menschen eignen: Entwicklung wird so zu einem Transitivum und leicht zu einer Machtfrage. Auch muss sich so verstandene Entwicklung, sei sie selbst- oder fremdbestimmt, an vorläufigen, um nicht zu sagen: einseitigen, Zielen orientieren, was mit erheblichen ontogenetischen und kulturgeschichtlichen Konsequenzen verbunden ist, auf die ich hier nicht eingehen kann.

(2) Man kann nach Prinzipien suchen, die anstelle von Sparsamkeit und Gleichgewicht die geforderten Regulationsfunktionen übernehmen können, ohne aber mit ihrem Nachteil, Entwicklung zu verhindern, behaftet zu sein. Dabei sei in Erinnerung gerufen, dass es sich um Prinzipien handeln muss, welche nicht aus dem zu erklärenden Phänomen selbst abgeleitet sein dürfen.

Man hat sich früher sehr wohl vorstellen können, dass das Prägnanzprinzip, als Heuristik verstanden, zur Entdeckung von Regulatoren führt, die kausal begründen, warum etwa in der Wahmehmung Kreise und Rechtecke, oft sogar gegen die Erfahrung, bevorzugt werden. Ich habe lange Zeit gehofft, solche unabhängigen Regulatoren finden zu können, bin aber heute von der Unwahrscheinlichkeit eines Erfolgs überzeugt. Damit meine ich, dass eine dritte Strategie unter den gegebenen Umständen die sinnvollere sei.

(3) Man kann sich das Strukturprinzip der Gestalttheorie zu Herzen nehmen und noch einmal überprüfen, in was für einen Zusammenhang denn menschliche Entwicklung gestellt werden muss, damit vermieden wird, irgendwelche ganzheitsbestimmten Merkmale zu übersehen. Dann macht man die Entdeckung, dass die Entwicklungspsychologie, allgemeinem Usus folgend, nur die Figur und nicht auch den Grund ihres Objektbereichs in ihren Blick genommen hat. Gegenstandsbereich einer Entwicklungstheorie dürfte demnach nicht das Individuum allein, sondern nur das sich entwickelnde Individuum in der sich entwickelnden Welt sein.

Nun hat schon KOFFKA (1921) das Schlusskapitel seines entwicklungspsychologischen Buches mit dem Titel «Das Kind in seiner Welt» überschrieben und anhand vieler Beispiele aus dem kindlichen Spiel und dem Leben von Naturvölkern zu zeigen versucht, dass die Bedeutungen der Objekte der Weh von den Auffassungsmöglichkeiten des Subjektes abhangen, und dass diese sich ja in systematischer Weise im Lauf der Ontogenese wandeln. Das mag man heute als triviale Einsicht bezeichnen; doch meine ich, dass diese Erkenntnis noch immer nicht richtig ausgewertet ist, wie denn ja auch die Umweltlehre von UEXKÜLLS (z.B. 1909 und später) infolge mannigfacher Detailprobleme bisher nicht eigentlich rezipiert worden ist.

KOFFKA hat später (1935) deutlich gemacht, dass die Hauptaufgabe der Psychologie darin bestehe, die Organisation des Umweltfeldes (behavioral environment) zu studieren und zu zeigen, welche Einflüsse daraus auf das «Ich» als einen der wichtigsten Feldteile wirken; er hätte beifügen sollen: und welche Einflüsse vom «Ich» auf dieses Umweltfeld wirken. Wie HILGARD, ATKINSON & ATKINSON (1979) schärfer als er selbst formuliert haben, ist also KOFFKAS Definition der Psychologie eine ganz andere als die übliche. Für ihn ist die Psychologie die Wissenschaft von den Mensch-Umweh-Beziehungen, soweit sie das Handeln oder molare Verhalten betreffen.

In ähnlicher Weise, freilich abstrakter und zugleich rigoroser, hat LEWIN (vgl. z.B. 1936) sehr früh erkannt, dass die Psychologie nur dann Fortschritte als Wissenschaft machen kann, wenn es ihr gelingt, die Beschreibung des Individuums und die Beschreibung seiner Welt in ein- und derselben Begriffssprache zu vollziehen. Benützt man für die verschiedenen Bereiche oder Aspekte seines Gegenstandes mehrere verschiedene, d.h. nach unterschiedlichen Konstruktionsprinzipien gebildete, Begrifflichkeiten - z.B. physikalische Termini für die Welt, physiologische Termini für den Organismus und seine Prozesse und psychologische Termini für das Individuum und sein Handeln - so wird man in einer solchen Wissenschaft nie über das Stadium von korrelativen Zuordnungsregeln hinauskommen. M.a.W. man wird nie eigentliche Gesetzesaussagen (LEWIN, 1927) machen und mithin auch keine Erklärung der Entwicklung leisten können. LEWINS Topologische und Vektorpsychologie ist ein Versuch gewesen, eine solche übergreifende «Sprache» ausgehend vom Psychologischen zu erarbeiten.

Unter der Kritik von BRUNSWIK (1943) hat LEWIN aber offenbar erkannt, dass sein Weg genau wie der Vorschlag KOFFKAS nicht nur zu leicht das Missverständnis nahelegt, dies sei eine subjektivistische, ja introspektionistische Psychologie. Sondern er hat auch eingesehen, dass er zu einer einseitigen und eingeschränkten Psychologie führen muss. Empirisch-operationale Zugänge zum Lebensraum sind nämlich nicht nur fürchterlich schwierig, sondern vor allem kann man in der Folge Wahrnehmung und Handeln, welche die Verbindung des Lebensraumes mit der äusseren Welt des Individuums betreffen, eigentlich nicht mehr studieren. Seine Reaktion war der fundamentale Vorschlag zur Schaffung einer psychologischen Ökologie (LEWIN, 1943; vgl. 1963 S. 98ff. und Kap. 8). Eine solche Wissenschaft müsste die Welt so beschreiben, wie sie entsprechend den Auffassungsmöglichkeiten des Menschen in einen Lebensraum eingehen kann, also nicht nur in physikalischen Begriffen, sondern auch insoweit sie uns als eine soziale und kulturelle Welt erscheint. Dies im Unterschied zur ökologischen Psychologie, die sich mit der Umwelt befasst, wie sie in den Lebensraum eines Individuums eingegangen ist.

Leider hat LEWIN sein Programm nicht mehr durchfuhren können, Und BARKER (vgl. 1968) hat in seiner «ökologischen Psychologie» einen viel spezielleren Aspekt ausschliesslich verfolgt. (Er hat Ausschnitte aus den sozio-kulturellen Lebensräumen (postperzeptuell und praebehavioral) vieler Individuen in einer Kleinstadt beschrieben, insoweit sie Gemeinsamkeiten, nämlich behavior settings, aufweisen.)

In den letzten Jahren hat sich der Gedanke, eine brauchbare Psychologie, insbesondere eine Entwicklungspsychologie, müsse «ökologisch» sein, sehr verbreitet (vgl. z.B. GRAUMANN, 1978; BRONFENBRENNER, 1979; WALTER & OERTER, 1979). Häufig wird dabei auf die Vorarbeiten LEWINS explizit hingewiesen. Problematisch ist aber, dass die meisten dieser Bemühungen LEWINS ökologische Wende nicht berücksichtigen.

Denn der Einbezug der Umwelt in eine Beschreibung und Erklärung psychischer Vorgänge kann auf zwei Weisen durchgeführt werden. Man kann ein psychologisches Konstrukt entsprechend dem Lewinschen Lebensraum erfinden, in welchem die (psychologische) Person und die (psychologische!) Umwelt nach ihrer perzeptiv-kognitiven Verarbeitung enthalten sind und das Handeln und die Entwicklung des betreffenden Individuums bestimmen. Man kann aber auch ein ökopsychologisches Konstrukt erfinden, in welches die reale Person und die reale Umwelt dieser Person eingehen. Ich behaupte, dass nur in dieser zweiten Variante einer «ökologischen Psychologie» eine echte Entwicklungstheorie möglich ist.

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Zwei Varianten ökologischer Psychologie

Kognitivistische Ökopsychologie

In ein Konstrukt von der Art des Lebensraumes gehen symbolische Repräsentationen der Person und der Welt eine Verbindung ein, die vorher durch die Filter der Perzeption und Kognition desselben Individuums gegangen sind, dessen Handlungen und dessen Entwicklung das Konstrukt erklären soll. Die moderne Psychologie, die mit solchen Voraussetzungen arbeitet, heisst «Kognitive Psychologie», weil sie sich ausschliesslich auf Kognitionen ihres Explanandums bezieht bzw. auf Aussagen ihrer Subjekte abstellt, beispielsweise mit Fragebogendaten arbeitet. Zur Unterscheidung von einer allgemeinen Denkpsychologie nennt man sie besser «kognitionistisch».

Nun führt aber ein solches Vorgehen notwendig zu Zirkelschlüssen, weil ja das Handeln des Individuums auf der Grundlage seiner eigenen Kognitionen, die nur auf dem Wege über Handlungen desselben Individuums zugänglich sind, erklärt werden soll. Es ist also nie auszuschliessen, dass das Handeln, welches die Kognitionen aufschliesst, einfach eine weitere Komponente des zu erklärenden Handelns darstellt. Zudem wird von der Kognitiven Psychologie die fundamentale Annahme der Systemhaftigkeit oder Ganzheitlichkeit desselben Individuums gemacht. Explanans und Explanandum sind also untrennbar ineinander verwoben. Mit Recht nennt JANICH (1979) in seiner Einteilung psychologischer Positionen diese Vorgehensweise «relativistisch».

Auch wenn eine kognitivistische Psychologie ökologisch wird, wie z.B. bei BRONFENBRENNER (1979), ist sie einerseits zwar handlicher, aber anderseits nicht brauchbarer als die ursprüngliche Konzeption von LEWIN. Für LEWIN war immerhin nicht nur dasjenige Bestandteil des Lebensraums, was das Individuum erlebt bzw. worüber es berichten kann, sondern ganz allgemein, was sich auf sein Verhalten auswirkt. Dennoch sind beide Subvarianten dieser ökologischen Perspektive nur quasi-ökologisch, weil ihre Aussagen über die Umwelt gar nicht echte Aussagen über die Umwelt sind, sondern eigentlich eben über Bestandteile des Lebensraumes, also über «Bestandteile» des Individuums selbst. In der LEWINschen Variante ist der Zirkelschluss unvermeidlich, wenn aus denselben Verhaltensbeschreibungen, die zu erklären sind, auch die Konstruktion des Lebensraumes erfolgen muss. In der zugleich älteren und moderneren kognitivistischen Variante treten zusätzliche Filter dazwischen, insofern alle Aussagen des Individuums erstens nur den bewusstseinsfähigen Teil des Lebensraumes betreffen können und zweitens durch das Medium einer dem Individuum und dem Beobachter nur teilweise gemeinsamen Sprache gehen müssen.

Nun ist aber Entwicklung geregelter Wandel; und Wandel kann nur auf dem Hintergrund von etwas Bleibendem festgestellt werden. In einer postperzeptiven und präbehavioralen Psychologie fehlt ein solcher Bezugsrahmen. Kognitivistische Entwicklungspsychologie, gleichgültig ob ökologisch orientiert oder nicht, kann nur noch vergleichende Psychologie sein: man kann den Wandel eines Individuums beschreiben und mit demjenigen einer Bezugsgruppe in denselben Variablen vergleichen; oder man kann die Entwicklung bezüglich irgendwelcher Variablen mit einer Normalentwicklung vergleichen und den Grad der Abweichung angeben; u.a.m. Man mag solche Vergleiche für in mancher Hinsicht der Mühe wert halten; aber zu einer Erklärung der Entwicklung können sie nicht führen, solange nicht wenigstens zwei voneinander unabhängige Gegebenheiten mit voneinander unabhängigen Methoden, aber im Rahmen ein und desselben Begriffssystems erfasst und miteinander in Beziehung gesetzt werden.

Diese kritische Bewertung der kognitivistischen und der LEWINsehen Lebensraum-Ökopsychologie sollte jedoch nicht davon ablenken, dass ihr sowohl forschungsstrategisch wie pragmatisch die grösste Bedeutung zukommt. Als Heuristik im Kontext des Findens scheint mir eine solche Ökopsychologie unentbehrlich. Sie scheint mir auch in kulturgeschichtlicher Perspektive überfällig, wenn man von der Psychologie gültigere Impulse für die Verbesserung des Zusammenlebens erwartet, als sie bisher geben konnte (vgl. BRONFENBRENNER, 1979). Ich kann mir auch nicht vorstellen, wie man anders praktische Aufgaben lösen könnte; es sei denn, man hält die Gefahr für gering, den andern Menschen wie ein beliebiges Objekt zu behandeln (vgl. SUAREZ, 1980). Um stellvertretend für den Andern etwas zu tun, ohne ihn in seiner Autonomie zu beschneiden, muss man gewissermassen seine (d.h. des Andern) Stelle einzunehmen versuchen, also auf der Grundlage seines (d.h. des Andern) Lebensraums agieren oder anregen.

Ich stimme also sowohl JANICHS (1979) Ablehnung wie ECKENSBERGERS (1979) Akzeptierung des relativistischen Ansatzes zu, freilich in je verschiedenen Kontexten. Für unzureichend im Kontext der Rechtfertigung halte ich ihn jedoch nicht nur, weil mir die kausale Denkweise «lieb geworden ist» (ECKENSBERGER, 1979, S. 280); sondern primär aus folgendem ethisch-politischem Grund: Man vergisst gewöhnlich, wenn man propagiert, sein Forschungsobjekt als ein handlungsfähiges «Subjekt» zu verstehen, dass auch der Forscher seinerseits ein solches «Subjekt» ist; und dass also seine gesamte «Rekonstruktion» des Lebensraumes eines Andern nichts anderes als die eigenen (d.h. des Forschers) Kognitionen sein kann. Man erschrickt sofort ob des unendlichen Regresses an Forschem, die sich in diesem Ansatz notwendig hinter jedem psychologischen Problem anreihen. Wenn JANICH seine Bezeichnung «relativistisch» in dieser Perspektive gewählt hat, dann ist sie in der Tat treffend; denn dieser Relativismus ist eine «Bedrohung» (ECKENSBERGER, 1979) nicht nur der Wissenschaft, sondern des Versuchs, mit Hilfe von Wissenschaft das menschliche Zusammenleben zu bewältigen.

Wissenschaft wird so zu einer Farce, und das ist im psychosozialen Bereich fatal, weil anders als in den klassischen Naturwissenschaften kein gültiger ausserwissenschafilicher «Test» für die Güte der Erkenntnis in Form einer daraus abgeleiteten und funktionierenden Technologie zur Verfügung steht. Was das Zusammenleben betrifft, so wirft uns eine kognitivistische Ökopsychologie (wie vielleicht die kognitivistische Psychologie überhaupt) zurück ins Zeitalter des Kampfes von Meinung gegen Meinung.

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Reale Ökopsychologie

Wenn Entwicklung erklärt und Eingreifen in Entwicklung gerechtfertigt werden sollen, muss also eine ökologische Psychologie anderer Art konstruiert werden. Es ist unumgänglich anzuerkennen, dass entwicklungsbedingende Prozesse innerhalb der übergeordneten Forschungseinheit «Individuum-in-seiner-Umwelt» stattfinden. Die Umwelt ist mehr als Rahmenbedingung der Entwicklung des Individuums. Wirkungen gehen ebensosehr vom Individuum in die Welt wie von der Welt auf das Individuum. Man muss also gleichberechtigt mit dem Individuum die Entwicklung seiner Umwelt (auf dem Hintergrund der restlichen Welt) thematisieren. Da die beiden Entwicklungen ineinander verwoben sind, einander gegenseitig bedingen, müssen sie gemeinsam in einem übergeordneten Bezugsrahmen gesehen werden. Man darf, wie ECKENSBERGER sehr klar gesagt hat, «möglichst nie das eine ohne das andere 'denken' und auch nicht mehr versuchen, den Organismus einerseits und die Umwelt andererseits als zwei getrennte Gegebenheiten aufzufassen, die man erst in einem zweiten Schritt aufeinander bezieht» (ECKENSBERGER, 1978, S. 54). (Der Satz erinnert lebhaft an die Auseinandersetzung der Gestaltpsychologen mit den Neo-Assoziationstheoretikern der Würzburger und der Grazer Schule!)

Zwei Folgen dieser Auffassung sind zunächst herauszustellen:

(1) Obwohl tatsächlich erstaunlich viele psychologische Untersuchungen nachträglich wenigstens teilweise real-ökologisch interpretiert werden können, handelt es sich um eine fundamentale Umorientierung. Man versteht gut, dass die grosse Mehrzahl der Psychologen den ökologischen Ansatz nicht begreifen kann oder angesichts der Tragweite der Konsequenzen zu tabuisieren versucht (vgl. KAMINSKI, 1976).

(2) Der real-ökologische Ansatz entgeht der Perspektivität der Erkenntnis auch nicht. Das kann ich am besten zunächst mit Hilfe der Analogie der Gestaltwahrnehmung verdeutlichen:

Beschreibung und Erklärung der Entwicklung setzen voraus, dass die reale Person zusammen mit ihrer realen Umwelt und allem Übrigen, was für die Entwicklung relevant werden kann, in ein gemeinsames Begriffssystem eingebracht werden. Gleichwertig wie die beiden Teile einer Kippfigur müssten die Person und ihre Umwelt auf dem gemeinsamen Grund der restlichen Welt im perzeptiv-kognitiven System des Forschers ein wechselweises Beeinflussungsverhältnis eingehen. Allerdings ist eine dynamische Kippfigur zu evozieren (von der Art wie sie M.C. ESCHER gezeichnet hat, vgl. Bild und HOFSTADTER 1979); denn im Verlauf der Zeit müsste schrittweise eine allmähliche Veränderung beider, der Person wie ihrer Umwelt, thematisiert werden können, die der realen Veränderung sowohl der Person wie der Welt, in der sie lebt, entspricht.

 

Bild Escher

«Liberation», Lithographie (1955) von M.C. ESCHER. Das Bild veranschaulicht die Idee der dynamischen Kippfigur. wenn man sich eine Zeitachse von unten nach oben oder von oben nach unten gehend vorstellt. Neben den austauschbaren «Figur» und «Grund» sieht man auf dem Blatt auch die «restliche Welt» und, angedeutet durch die Bildrolle, den «Blickwinkel des Forschers». Reproduktion mit freundlicher Erlaubnis des Verlags . Escher-Hejrs 1980 c/o Beeldrecht Amsterdam. (In der gedruckten Fassung ist die das Bild leider durch Beschneidung oben und unten seines Sinnes beraubt worden. AL).

 

Erweitert man das perzeptiv-kognitive System des Forschers mit einer überindividuell vereinbarten Methodologie, so kann die Beschreibung aber durchaus die Unverbindlichkeit persönlicher Perzeption übersteigen. Das Bild macht jedoch klar, dass der Gegenstand vom Blickwinkel des Forschers zum Objekt abhängt; die Methode konstitutiert die Forschungseinheit. Wie BRONFENBRENNER (1979) gezeigt hat, sind bezüglich der Mensch-Umwelt-Beziehung Einheiten verschiedener Grössenordnungen zu berücksichtigen. Gewiss übersteigt die Beschäftigung mit menschlicher Entwicklung in ihrer Gesamtheit unsere Möglichkeiten. Man sollte sich aber endlich klar darüber werden, dass eine Lösung der Gegenstandskrise der Psychologie nicht vom Gegenstand, sondern nur von der Methode her zu erwarten ist. Das wird im real-ökologischen Ansatz deutlicher als anderswo.

Statt des Bildes ist es aber wohl besser, durch ein Beispiel zu verdeutlichen, wie eine real-ökologische Entwicklungspsychologie aussehen kann. Unser Wissen über die Entwicklung der sozialen Beziehungen des Säuglings und Kleinkindes ist in einer radikalen Änderung begriffen. Noch herrschen in den Lehrbüchern Ansätze vor, die eine reifungsbedingte Bedürfnisentwicklung des Kindes postulieren, welcher die Erfahrungswirkungen einer Serie von für sich begriffenen Sozialisationsakten mehr oder weniger tiefgreifende Formungen oder Verformungen auferlegen sollen. Seit einigen Jahren hat man jedoch begonnen, das gemeinsame Verhalten von Mutter und Kind in zeitlicher, räumlicher und inhaltlicher Hinsicht als ganzes zu analysieren (vgl. z.B. den schönen Sammelband von SCHAFFER, 1977). Es zeigt sich ein hochdifferenziertes Koordinationsmuster von «Interaktionen», d.h. Folgen von auf beide Partner (und oft mit Einbezug weiterer Umweltgegebenheiten) verteilten Akten, deren Wahrnehmung und daraufhin passenden Reaktionen. Beispielsweise setzt die Mutter ohne dies zu wissen bevorzugt genau dann Sprech- oder Vokalisationspausen, wenn der kleine Säugling Mundbewegungen mit oder ohne Lautäusserungen macht. In unseren Videoaufnahmen von 4-monatigen Kindern, denen ein starres Gesicht gezeigt wird, gibt es viele Szenen, in denen das Kind vokalisiert oder lächelt und dann offensichtlich eine Antwort erwartet, die es allerdings nicht erhält.

Alle diese Verhaltensweisen sind nur verstehbar als Bestandteile der Zeitstruktur eines «Dialogs». Zudem ist es weder sinnvoll zu sagen, die Mutter kontrolliere das Verhalten des Kindes, noch, das Kind steuere die Mutter, ausser man greift isolierend einen Teil des Geschehens heraus. Derzeit steht im Vordergrund überhaupt die Erfassung solcher Interaktionen; über ihre Bedeutung für die Entwicklung können vorerst nur Hypothesen formuliert, noch keine sicheren Belege vorgelegt werden.

Die Umwelt in ihrer sozialen Form als Interaktionspartner ist zweifellos das dankbarste Feld für ein ökologisches Vorgehen; ferner ist beim vorsprachlichen Kind wie beim Tier die Verlockung zum kognitivistischen Ansatz geringer. Dennoch sollte man sich hüten, nur soziale Prozesse in dieser entwicklungsfördernden Funktion zu sehen; die Rolle der Objektwelt für den Aufbau kognitiver Strukturen ist ja von PIAGET eindrücklich dargestellt worden. Gerade hier wird aber deutlich, dass viel zu sehr nur die Anpassung des erkennenden Subjekts an die Welt und nicht auch die Herstellung der Welt durch das handelnde Subjekt thematisiert worden ist. Denn «Entwicklung» ist ja nicht einfach nur gerichtete, sondern überhaupt geordnete Veränderung, und das bedeutet nicht notwendig Anpassung, sondern zunächst einfach Stabilisierung in einem allgemeineren Sinn. Wiedererkennen von früher Begegnetem oder wiederholtes Herstellen desselben Produkts, d.h. die Nutzung von Gedächtnis, ist also ebenso Anzeichen von Entwicklung wie der Erwerb von Neuem.

Für mich ist deshalb die im Gang befindliche Umstrukturierung der Gedächtnispsychologie von grösster Bedeutung (vgl. etwa LEWIS, 1979), wobei die Idee, Gedächtnis sei das Insgesamt des extra Gelernten, durch die Idee ersetzt wird, alle Begegnung mit der Umwelt werde gespeichert, sofern die Möglichkeit bestehe, das Neue an das schon Gespeicherte anzubinden. Entscheidend für jeden Entwicklungsschritt ist sicher eine Diskrepanz zwischen den schon bestehenden kognitiven Strukturen und den Eigenschaften der gerade begegneten Umwelt; soweit stimme ich mit PIAGET oder KAGAN (vgl. R. KAUFMANN, in diesem Band) überein. Aber anders als in der Assimilations-Akkommodationstheorie vermute ich, dass nicht ein hypothetisch postulierter psychischer Prozess darauf abzielt, die Diskrepanz durch Entstellung der Wahrnehmung oder durch Anpassung des Schemas zu vermindern, wodurch ein Entwicklungsschritt vollzogen wäre. Sondern was immer das Individuum an Neuem begegnet und in seiner kognitiven Struktur «festhaIten» kann, «ist» seine Entwicklung.

Für den Entwicklungstheoretiker ist daher entscheidend, dass er die bisherige kognitive Struktur und die Grundlage der aktuellen Wahrnehmung miteinander in Beziehung setzen kann. Dabei entsteht das methodische Problem, dass die kognitive Struktur und der aktuelle Prozess unabhängig voneinander, wohl aber in derselben «Sprache» erfasst werden müssen. Ich kann mir eine Entwicklungsphysiologie vorstellen, bei der diese Inbeziehungsetzung in Form von Gedächtnisspuren und Wahrnehmungsprozessen vollzogen wird; natürlich ist dies mehr als utopisch. Es bleibt also nur der Rückgriff auf die reale Umwelt als Grundlage der je aktuellen Wahrnehmung, die zusammen mit dem Verhalten des Wahrmehmenden aber unabhängig davon ins Begriffsystem des psychologischen Forschers abgebildet wird.

Entwicklung wäre dann als eine Folge von Transaktionen im System Mensch-Umwelt- Welt zu verstehen, soweit es der Forscher begreifen kann.

Eine psychologische Ökologie müsste zuerst geschaffen werden, welche die Beschreibung der Welt und der Umwelt eines gegebenen Individuums erlaubte. Für jeden Entwicklungsschritt müsste angegeben werden, welche Aspekte der Welt vom Individuum wahrgenommen werden können, also was aus der Welt seine Umwelt werden kann. Wenn ich an die dynamische Kippfigur zurückerinnere, wäre jetzt die Umwelt figurhaft. Die psychologische Ökologie müsste nicht nur Beschreibungen, sondern auch Vorhersagen darüber geben können, wie die Umwelt der Person X zur Zeit t wahrscheinlich aussehen wird.

Dann folgt eine Wahrnehmung und damit der psychologische Teil des Entwicklungsschrittes: eine ökologische Psychologie müsste darüber aussagen, wie sich die nun psychologische Umwelt im gegebenen Bezugssystem der Person in welche Handlung auswirkt; jetzt wäre die Person die «Figur".

Das Handeln wirkt sich auf die Umwelt und mithin auf die Welt aus, was wiederum von der psychologischen Ökologie beschrieben werden müsste; jetzt wäre wieder die Umwelt Figur. Inzwischen hätte aber auch zwischen Welt und Umwelt ein kleiner «Austausch» stattgefunden, abhängig nicht nur von den Wirkungen des Handelns, sondern auch von den Ereignissen in der Welt selbst. In der Welt wie im Individuum bliebe eine gewisse Veränderung übrig, die wir als Entwicklung begreifen. Daraufhin könnte der nächste Entwicklungsschritt und seine Analyse beginnen.

Zusammenfassend sei folgendes festgehalten: So wenig wie man sagen kann, die Evolution der Arten beruhe auf den Genen oder dem Milieu, so aussichtslos sind Theorieansätze in der Psychologie, seien sie nicht-ökologisch wie die alten Entfaltungstheorien und Lerntheorien oder quasi-ökologisch wie die neueren kognitivistischen Handlungstheorien, welche nur die eine Hälfte der Mensch-Umwelt-Einheiten anschauen.

Die Gestaltpsychologie bringt nicht zureichende Voraussetzungen zur Erklärung der psychischen Entwicklung; aber sie macht darauf aufmerksam, dass wir dazu ein System benötigen, welches wenigstens vier voneinander unabhängig bestimmte Teile zueinander in Beziehung setzt: den Forscher, die Welt, die Person und deren Umwelt.

Inhalt

Fussnoten

1 Die vorliegenden Überlegungen entwickelten sich im Kontext des Projektes «Die Regulation der Reizaufnahme beim Säugling», mit Unterstützung des Schweiz. Nationalfonds, Projekt Nr. I .36 1-0.76. Der Verfasser dankt AUGUST FLAMMER, KLAUS FOPPA, LISBETH HURNI und RUTH KAUFMANN für die hilfreiche Kritik einer früheren Version des Textes. <<<

2 Im Unterschied zum gestalttheoretischen Isomorphieprinzip, das jeder Erklärung als Axiom vorausgeht, wäre auch das «Isomorphieprinzip», wie es OERTER (1979) als Erklärungsprinzip neu zu formulieren versucht hat, hier einzureihen. Damit soll die Richtung des durch Handeln bewirkten Strukturausgleichs zwischen der «objektiven Struktur (der natürlichen, Wirtschafts- und Kulturwelt) und der «subjektiven Struktur (der kognitiven und Handlungsstruktur jedes Individuums) erklärt werden. <<<

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