Alfred Lang

University of Bern Switzerland

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Conference Presentation 1998 

Psychologie --

Wissenschaft des 21. Jahrhunderts?

1998-05 Psy Wissensch.21Jh.?

@PsyHist  @SciPolPrinc @Scitheo
Revidierte Version der Abschiedsvorlesung vom 23. Juni 1998
>>> 1992-02LewinGenese
First posted 1998.11.02

Revised 2000

This text is from http://www.langpapers.org

© 1960ff. by Alfred Lang
Scientific and educational use permitted

Inhalt

1. Soll sie? -- Über die menschlichen Kondition

2. Kann sie? -- Von isolierenden Wissenschaften

3. Wie denn? -- Über Person und Kultur

Verursachung [in Bedeutungszusammenhängen]

Zeitlichhkeit [und Wissenschaft evolutiver Welten]

4. Zur Aufgabe der Universität

Danksagung

 


Vergiss dein Ich; Dich selbst verliere nie. […]
Du selbst bist, was aus Allem du dir schufst
Und bildetest und wardst und jetzo bist,
Dir bist, dein Schöpfer selbst und dein Geschöpf.
 
[…]
Was in dem Herzen andrer von Uns lebt,
Ist unser wahrestes und tiefstes Selbst.
  • (J.G. Herder, 1797, SWS 29:139, DKV 3:830)
  •  

    Sehr geehrter Herr Rektor, sehr geehrter Herr Dekan, liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Studierende, hochgeschätzte Interessierte und liebe Freunde!

    Als junger Assistent vor bald vierzig Jahren pflegte ich den Studierenden, die es hören wollten, anzuvertrauen, sie hätten ihre Studienrichtung gut gewählt: die Psychologie werde die Wissenschaft des 21. Jahrhunderts werden. In einer Mischung von Stolz und unterdrücktem oder vielmehr in einen Appell umgesetzten Zweifel, sie möchten doch das Ihre dazutun, damit so etwas Wirklichkeit werden könne. Mit zunehmender Kenntnis meines Faches habe ich realistischerweise die kühne und vielleicht arrogant wirkende, freilich nicht so gemeinte Äusserung unterlassen. Doch hat mich wohl all die Jahre hindurch insgeheim dieser Gedanke beschäftigt, vielleicht besessen. So möchte ich ihn bei der heutigen Gelegenheit neu ausführen.

    Mein Vorgehen heute ist einfach strukturiert: ich stelle drei Fragen und werde ihnen partielle Antworten geben und diese in einen Kontext zu bringen versuchen. Erwarten Sie nicht eine zwingende Argumentation; vielmehr werde ich unter Beizug von ebensoviel Möglichkeits- wie Wirklichkeitssinn ein Gewebe flechten, in welchem Sie wohl manches überzeugen müsste. Meine drei Fragen im Anschluss an den Titel lauten:

    1. Soll sie?

    2. Kann sie?

    3. Wie denn?

     

    "Psychologie"

    Natürlich stehen und fallen alle Erwägungen mit dem Verständnis dessen, wovon die Rede ist. Ich hoffe, Sie werden mir zugestehen, dass ich meinen "Gegenstand" nicht definiere, sondern fortwährend neu bestimme, wie sich eben kulturelle Erscheinungen in ihrer Geschichte wandeln können -- eine Todsünde in der Wissenschaft, sagt man mir; man müsse wissen, wovon die Rede sei. Die Psychologie ist aber wirklich nicht nur etwas im Wandel Begriffenes, sondern geradezu eine Wandelphänomen. Sie gleicht im 20. Jh. nicht nur einem Chamäleon, dass alle 5 bis 10 Jahre seine Farben wechselt und dann nach Jahrzehnten selbstvergessen alte Moden wiederholt, sondern auch einer Chimäre, die in immer wieder neuer Gestalt erfunden wird, aber noch keine gefunden hat, welche ringsum als eine gültige aufgenommen worden wäre. Wie die antike Chimäre ist sie freilich aus dem angeblichen Schrecknis zu einer Attraktion für Innenlebentouristen geworden -- in meiner Studentenzeit musste man auf Gesellschaften noch die verbreitete Befürchtung zu zerstreuen suchen, oftmals erfolglos, dieser Psychologe könnte einen durchschauen.

    Wollte ich aber "Psychologie" in einer der üblichen Weisen vorausdefinieren, so stünde ich im Dilemma, von welchem der vielen Häupter der Chimäre ich denn sprechen oder welches von ihnen ich besänftigend füttern, welchem die Ohren putzen oder, welches ich -- wohl vergeblich! -- abhauen soll.

     

    Doch könnte ich es mir auch einfach machen und als verpflichtet loyaler Interessenvertreter behaupten:

    1. natürlich soll sie;

    2. und warum sollte sie nicht können?

    3. wie anders denn, als wie sie sich selber versteht?

    Dann könnten wir gleich zum zweiten Teil der Veranstaltung übergehen.

     

    Sie werden berechtigt eine gründlichere Antwort erwarten. Ich muss also meinen Fragen entlang allerlei Fundamente und Erscheinungsformen von Psychologie ausgraben und sie zu einem Ganzen zu fügen versuchen. Dass das, wie jede Archäologie, fragmentarischen Charakter haben muss, versteht sich von selbst. Doch hoffe ich, in Ihre Köpfe wenigstens eine "Skizze" eines "Grundrisses" zu zeichnen, anhand derer sich im Verein mit ihren eigenen Erfahrung ein Wissenschaftspanorama ausmalen lässt.

     

    "Wissenschaft des 21. Jahrhunderts"

    Ich muss auch noch einen Hinweis zum zweiten Titelbegriff machen: "Wissenschaft des 21. oder xten Jahrhunderts": ich meine damit nicht "Leitwissenschaft". Dass man sich die Mathematik oder die Physik für die Durchführung von Wissenschaften mit ganz anderen Inhalten zum methodischen oder gar substantiellen Vorbild nahm, hat ja gerade zu Unglücksfällen wie unter anderen dem der modernen Psychologie geführt.

    Meine Erläuterung damals ist gewissermassen historisch gewesen. Ich wies auf die Kette von Wissenschaftsfeldern hin, von denen man sagen kann, dass sie jeweils im Zentrum des Interesses standen, eine Zeitlang die Avantgarde wissenschaftlicher Entwicklung überhaupt ausmachten, den Löwenanteil der Mittel ergatterten, etc., etc. Im Abendland dominierte während Jahrhunderten die Theologie. Im 18. Jh. in Europa änderte sich das Bild; man empfand stark die Unvermeidlichkeit eines Ausbruchs aus erstarrten Konventionen, nicht unähnlich zu heute. Nach der essentiellen Entthronung der Theologie entwickelten eine kurze Zeit lang die Jurisprudenz und die Weltweisheit im Hinblick auf die ersehnte Emanzipation des Individuums aus den alten Bindungen anthropologische Perspektiven. Sie wurden bald im Strom von Revolution und Restauration ertränkt und vor ihrer Wiederbelebung im 19. Jh. von Physik mit der Chemie und den darauf gründenden Techniken zur Beherrschung der Natur verdrängt. Im 20. Jh übernahm die Biologie mit der Medizin die Leithammelrolle. Sie versuchte die Zähmung der Fährnisse und jetzt noch die machenschaftliche Veränderung des Lebens. Mit gemischtem Erfolg, wie man nicht nur an den nur partiell erfüllbaren Heilsversprechungen ablesen kann, sondern auch daran, dass ihre Praxis die Idee durchgesetzt hat, das nackte Leben jedes Individuums Mensch sei das allerhöchste Gut, was allerdings zeitlich und räumlich mit den gigantischsten Tötungsaktionen in der Geschichte der Menschheit koinzidiert.

    Fast zwingend war dann der Gedanke, die Folge sei fortzusetzen oder "zurechtzurücken" mit Psychologie und Soziologie und damit einer Zuwendung zu den Menschen als reflektierenden und handelnden Individuen und als handlungsamplifizierenden Gruppen. Denn es sind Menschen, welche alle jene anderen Wissenschaften und Techniken herstellen und einsetzen und damit die Welt verändern und neue Bedingungen für das Leben der Menschen und darüber hinaus schaffen.

    Ein überaus erratischer Weg also von der transzendentalen Kultur über den Umgang mit der toten und der lebenden Natur und ihrer immer rascheren, tiefergreifenden und recht kopflosen Überformung zur alles entscheidenden Dominanzkultur der Westmenschen. Ein auffallend irrationaler Weg auch im Vergleich etwa zur den ostasiatischen Hochkulturen, in denen Welt- und Menschenbild immer eng verflochten geblieben sind -- ökologisch im Sinne eines Gesamthaushaltes. In denen etwa die Religion, die Politik, die Künste, die Wissenschaften und das private Leben nicht spezialisiert, sondern im Verbund und weitgehend von denselben Personen entwickelt wurden, so dass bis zum Einbruch der westlichen Zivilisation kein Bedarf entstand, das willkürlich Getrennte -- den Himmel und die Erde, den Leib und den Geist, den Stoff und die Form, das Individuelle und das Kollektive etc. -- auf irgendeine "würdige" Weise wieder zusammenzubringen. Ich meine das rein deskriptiv vergleichend, nicht wertend; denn beide Wege des Umgangs mit den Menschen in der Welt mögen ihr Vorzüge und Nachteile haben. Doch Kulturen als ganze gegeneinander auszuspielen, ist vom Sinnlosesten, was Menschen erfunden haben, ob mit Worten oder mit Waffen.

    Inhalt

     

    1. Soll sie? -- Über die menschliche Kondition

    Damit bin ich bei meiner ersten Frage: soll sie? Soll die Reflexion der menschlichen Kondition auch in der Form von Wissenschaften vom Menschen gezielt in den Mittelpunkt der Bemühungen um ein besseres Leben und Zusammenleben gestellt werden? Ich möchte diese Frage im wesentlichen in einer fragenden Weise zu "beantworten" versuchen. Denn natürlich können wir nicht mit einer Notwendigkeit der Geschichte rechnen; das dürfte inzwischen zur Selbstverständlichkeit geworden sein. Die "kontingente Systematik" des evolutiven Geschehens ist auch nicht vereinbar mit einer zwingenden Logik der Wissenschaftsentwicklung.

     

    Wissenschaftskulturen

    Denn auch Wissenschaften, wie alle kulturellen Gebilde, werden von Menschen und für Menschen gemacht und gewandelt. Wir müssen also, um sie zu verstehen, in jeder Phase ihres Werdens und Vergehens untersuchen, was unmögliche, was mögliche, was wahrscheinliche, was problematische, was in welcher Hinsicht erwünschte und was Entwicklungen mit welchen Nebenfolgen sein können; und welchen Part Menschen als Hersteller und als Betroffene von Wissenschaft und deren Folgen dabei einnehmen; und unter welchen Bedingungen diese Menschen diese bestimmte Wissenschaft und Kultur überhaupt machen, die zu einer Hauptbedingung des weiteren Geschehens auf der Oberfläche des Planeten Erde geworden ist.

     

    Möglichkeitssinn

    Wer einen Wirklichkeitssinn hat, schrieb Robert Musil im Mann ohne Eigenschaften, muss auch einen Möglichkeitssinn haben. Menschen sind offensichtlich Lebewesen mit einem Möglichkeitssinn: sie können sich künftige Verläufe des Geschehens vorstellen und aufgrund ihres Verständnisses der vergangenen Geschichte ein Stück weit ausdenken. Das versetzt sie auch in die Lage von zumindest teilweise Verantwortlichen, insofern sie in aller Regel sich mehrere möglichen Varianten des Geschens ausdenken und einige davon als Optionen verstehen können, zu fördern oder zu meiden. Durch Handeln oder Unterlassen haben sie einen Einfluss auf den Gang der Dinge. Insofern sie darüber wissen oder vermuten konnten, sind sie Verantwortliche.

    Wer nur seinen Möglichkeitssinn entwickelt, ist ein Phantast; wer nur Wirklichkeitssinn einsetzt, ein freiwilliger Untertan; erst wer beides vereint, ist ein Mensch; eben deshalb, weil er Verantwortung für den Gang der Dinge übernehmen kann. Mit der Herausbildung eines Möglichkeitssinns in Verbindung mit Wirklichkeitssinn bei den Menschen ist der Verantwortungssinn zwingend verbunden und könnte nur geleugnet werden, wenn gleichzeitig der Anspruch aufgegeben würde, der Mensch sei wenigstens ein bisschen anders oder mehr als zumindest einige Tiere.

     

    Verantwortungssinn

    Menschen, die nur an ihren Wirklichkeitssinn glauben, positivistische Wissenschaftler zum Beispiel, können der Verantwortung jedoch auch nicht entgehen. Denn auch ihr Handeln beruht auf Entscheidungen aus Alternativen, nämlich gerade diese eine aus allen für ihr Wirkliches genommen und erforscht und praktiziert zu haben. Natürlich haben sie eine Wahl getroffen unter allem sogenannt Gegebenen, und sei es nur die Wahl einer Definition, eines Vorgehens, einer Methode unter vielen möglichen. Auch ihr Nicht-Handeln bezüglich anderer Alternativen wird einige mögliche Entwicklungen wahrscheinlicher und andere unwahrscheinlicher machen. Ihre zur Gewohnheit degenerierte Besessenheit durch ein Ausgesondertes unter Ausschluss von allem anderen, ihre völlige Konzentration auf eine einzige Sicht der Dinge und Verhältnisse, ihr Vertrauen auf durchgängige Arbeits- und Denkteiligkeit wird früher oder später erschweren, im Falle von Fehlentwicklungen rechtzeitig Korrekturen einzuleiten. Deshalb kann auch nicht aus der Verantwortung entlassen werden, wer seinen Möglichkeitssinn zu verleugnen sucht.

    Wer wenn nicht Wissenschaftler sollten höchstmögliche Grade des Wirklichkeitssinns mit höchstmöglichen Graden des Möglichkeitssinns verbinden? Ohne Hypothesenbildung, ohne Entwürfe, die sie der Prüfung unterziehen, könnten sie ja wohl überhaupt nicht forschen. Ohne Möglichkeitssinn wären sie Sklaven ihrer Vorgänger, die wie Ameisen genau den Weg laufen, den andere vorgezeichnet haben; oder Gefangene der Vorgaben einer unerbittlichen Instanz wie in einer klassischen Tragödie. Despoten haben immer versucht, den Menschen ihren Möglichkeitssinn zu verbieten und sie in ihre partikuläre Wirklichkeitssicht zu zwingen.

    Gilt diese Lagebeschreibung nicht für alle Wissenschaften und die auf ihnen gründenden Errungenschaften und Machenschaften? Denn es gibt ja auf diesem Planeten kein Stück Natur mehr, welches nicht von Eingriffen menschlichen Handelns betroffen und damit zu einem Teil der menschlichen Kondition geworden ist in dem Sinne, dass es im prekären Fliessgleichgewicht des globalen Geschehens leicht zu einer kritischen Stelle folgenreicher Entwicklungen werden kann. 

     

    "Instinktmodell" Wissenschaft

    Es ist bemerkenswert, dass die Wissenschaften der Neuzeit bis heute ihre Konzeptionen dem Modell des Instinkts und der Gewohnheit nachbilden und damit eigentlich den Möglichkeitssinn und die Verantwortung zu verleugnen suchen. Ein Instinkt ist ein angeborenes Verfahren, jene "Sicht" der Dinge, mit denen die Vorfahren überlebt haben, ohne Ansehung weiterer Umstände auf gleichartig erscheinende Situationen anzuwenden und die früher erfolgreiche, also bewährte Strategie immer wieder einzusetzen. Das ist ein wunderbar elegantes und, wie die Beständigkeit des Geschehens im Tier- und Pflanzenreich zeigt, unglaublich erfolgreiches Verfahren. Man denke nur etwa an die gemeinsame Leistung der Tier- und Pflanzenwelt, eine trotz ihrer Fragilität so stabile Atmosphäre mit derzeit ca. 23% Sauerstoff zu generieren. Abgesehen natürlich von jenen Arten, die ausgestorben sind, weil ihre Instinktausstattung für eine andere Welt gemacht war als die gewandelte, in die sie hineingeboren worden sind. Die Strategie, aus der Vergangenheit in die Zukunft zu extrapolieren, gelingt also nur unter der Voraussetzung einer ziemlich konstanten Welt. Zeitlose Naturgesetze sind genau Behauptungen, die Welt, jedenfalls unter dem eingefangenen Aspekt, bleibe immer verlässlich genau die gleiche.

    Ich verlasse mich auch gerne in Aspekten sehr langfristigen Charakters auf solche Strategien. Aber zumindest die Welt des Lebens ändert sich laufend von sich aus und sie ändert ihrerseits indirekt manche Aspekte der physischen Welt; sie gruppiert viele Bereiche des Stofflichen und Energetischen in, von diesem selbst her gesehen, völlig unwahrscheinliche Strukturen und Prozesse. Die Welt der Menschen ist seit Jahrhunderten in überaus raschem Wandel begriffen, und dies wesentlich durch menschlichens Handeln und was sich daraus ergibt. Menschliches Handeln, individuelles und besonders kollektives, verändert mit dem Wandel der menschlichen Umgebung zusätzlich auch die Menschen selbst. Muss sie zumindest ändern; denn wie sollten sie mit ihrer alten Ausstattung bestehen können? Und gerade die Wissenschaften waren es ja, welche den explosiven Wandel von Techniken ermöglicht haben und laufend speisen.

     

    Änderungsmodell Technik

    Die Techniker haben als Begründer einer gewissermassen genuin menschlichen Strategie des Bestehens in einer sich wandelnden Welt, anstatt nur die Ausstattung der Lebewesen anzupassen, darauf gesetzt, die Umgebung so zu ändern, dass geringere Anpassungsleistungen nötig werden. Freilich hat sich bald herausgestellt, dass diese veränderten Umwelten von den Menschen nicht weniger, sondern bloss andere und oft wesentlich tiefgreifendere und umfassendere Anpassungsleistungen verlangen. Mit ihren Techniken haben die Menschen auf eine ganz andere als die Instinktstrategie gesetzt, nach denen die wesentlich ahistorischen Naturwissenschaften immer noch verfahren.

    Ist es tragisch oder lächerlich, dass die heutigen Sozialwissenschaften weitgehend jenes Gesetzlichkeits-Denkmuster von den klassischen Naturwissenschaften übernommen haben und mithin so agieren, wie wenn wir Instinkte hätten und keine Menschen wären? Wie konnten sie nur in ihrem Bestreben, durch Quantifizierung und Reduktionismus reputierliche Wissenschaften zu werden, den Unterschied zwischen physischen und kulturellen Systemen geradezu verleugnen? Insofern die moderne Psychologie sich als eine Naturwissenschaft oder eine Sozialwissenschaft versteht, muss ich also in der Tat sagen: die Psychologie soll besser nicht die Wissenschaft des 21. Jh. werden

     

    Anthropologische Wissenschaften

    So dargestellt muss gleichzeitig die Frage: sollen anthropologische Wissenschaften ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken, ein nicht zu widerlegendes Ja zur Antwort bekommen. Ja, die Frage ist überdies zu einer recht bangen Frage geworden. Denn die Umwelt muss, wie das Wort "Umweltschutz" richtig sagt, vor den Menschen geschützt werden; nicht die Menschen vor der Umwelt, wie die nahe an die hundert Prozent der unter diesem Titel finanzierten Projekte glauben machen könnten. Aus den Wissenschaften vom Stoff, von der Energie und vom Leben und den von ihnen mitbestimmten Techniken und Praktiken haben sich jede Menge von für die Menschen hochproblematischen Sachzwängen herausgebildet.

    Darunter nicht zuletzt solche Sachzwänge, welche gewissermassen jene "wissenschaftliche Sicherheitsstrategie" selbst betreffen. Denn viele Menschen haben sich dieses Verfahren der Konstruktion von angeblich beständigen und verlässlichen Gesetzlichkeiten in unterschiedlichsten Formen zu eigen, zu einem Bestandteil ihres Menschenbildes gemacht, sich ihres Möglichkeitssinns weitgehend entledigt und ihren Verantwortungssinn an die Experten delegiert. Die Experten und ihre Nutzniesser fördern diese Delegation nach Kräften. Es nimmt nicht selten die Form von säkularen Heilsversprechungen an: "Kampf" und "Sieg" gegen Mühen, Krankheit, Rivalen. Menschen auf dem Weg zu ihrer Selbstverwirklichung versuchen mit allen Kräften, ihr eigenes Leben und das der anderen in solche Aus-Nacht-ins-Licht-Schemata zu zwingen. Oft nur noch schwach und zurückgedrängt rebellieren ihre Gefühle und ihre Ansprüche auf ein eigenes Leben und gemeinsamen Sinn. Eigentlich dürfte es doch jedem Experten und jeder Expertin längst klar sein, dass sie oder er Verantwortung für die wahrscheinlichen Wirkungen der über Geld und Prestige positiv rückgekoppelten Änderungstechnik niemals wird übernehmen können. Besonnene Menschen müssten ihnen so und so oft in den Arm fallen.

     

    Anthropologische Praxis

    Aber bleiben wir bei den unendlich vielen Einzel-Sachzwängen und ihrem intrikat durchfilzten Gewebe in der Berufs- und Alltagswelt. Unterstützt durch eine fast schrankenlose Organisierwut der modernen Menschen erzeugt diese Sicherheit-aufgrund-von-Gesetzlichkeits-Orientierung, wenn sie auf eine evolutive Welt angewendet wird, in weiten Bereichen eine Illusion von Sicherheit. Indizien der natürlicherweise prekären menschlichen Lage werden verdrängt, obwohl Unerwartetes immer wieder einbricht. Es fasziniert irritierenderweise und macht einen schönen Teil des Inhalts der Sensations-Medien aus. Viele der Unsicherheiten sind aber ernst; nicht mehr in erster Linie die "natürlichen", sondern die durch menschliches Handeln in die Natur eingebrachten oder Natürliches ersetzenden, also "kultürlichen". Dass so manches Unheil oft in bester, wenn auch kurzsichtiger Absicht angerichtet wurde und so komplex ist, dass es seinerseits nur mit wissenschaftlichen Mitteln und Techniken vielleicht halbwegs abgeschwächt oder vermieden werden kann, macht die Lage besonders vertrackt. Der Verkaufskontrakt unserer Seele an diese Dinge und die dafür zeichnenden Wissenschaften und Technologien ist unkündbar geworden. Die Unverlässlichkeit der Partners ist erkannt; aber der Kontrakt kann nicht gelöst werden. Die Wirtschaft lebt von diesen Errungenschaften und hat die Führung übernommen. Die Politik rennt der Zwangsentwicklung hinterher und ist nicht mehr imstande, ihr ein ethisches Paroli zu bieten.

    Dass in der Folge einer halbjahrhundertlangen Pattsituation nach dem Zusammenbruch der kollektivistischen Version des menschlichen Selbstverständnisses ein individualistisches Menschenbild in die menschenverachtenden Verfahren der Gründerzeit zurückfallen kann, ist doch wohl einer einseitigen Mentalität der Führungseliten und ihrer Profiteure zu verdanken, der ungehemmten Übertragung jener Verbindung des wissenschaftlichen, gesetzesgeblendeten und des technologischen, machbarkeitsgläubigen Denkens auch auf den Umgang mit Menschen anzulasten. Es wäre genau eine Stelle im kulturevolutiven Geschehen, wo der geopolitisch aufgeteilte und im Gleichgewicht der Waffenkräfte gezwungenermassen verhaltene Wettstreit der beiden Aufklärungsideologien, der individuell-losgelassenen und der humanistisch-würdigen Freiheitsversprechung auf der Grundlage gründlicher Analyse der menschlichen Lage durch sinnvollere Perspektiven abgelöst werden könnte, wenn denn entsprechend gebildete Menschen in ausreichender Zahl verfügbar wären und das Gewicht ihres Verstehens geltend machen würden. Man wird dies rückschauend, wenn nicht alles trügt, als ein Versagen der Bildungs- und Universitätspolitik darstellen, beispielsweise der institutionellen Separierung der sogenannten geisteswissenschaftlichen von den naturwissenschaftlichen Disziplinen in der ursprünglich übergreifenden philosophischen Fakultät.

     

    [Eine Menschenrechtsfrage: Bei aller Anerkennung dieser grossen humanen Leistung: sollten die Menschenrechte nicht ebenso ein Schutzrecht der nicht Betroffenen gegen die Entfaltungswirkungen der losgelassenen Fortschrittsgläubigen statuieren und durchsetzen? Verweis oder auszuführen]

     

    Herders Humanitätbegriff

    Johann Gottfried Herder hat vor mehr als 200 Jahren gezeigt, dass Philosophie und Wissenschaft eine Frage der Humanität ist: damit meint er wesentlich die fortwährende Bewertung von deren Sichten, Erkenntnissen und der daraus ableitbaren Errungenschaften in ihren Folgen für die Menschen und für das Ganze der Welt, von der diese ein Teil sind. Natürlich gilt dies für jeden Akt und jede Einsicht jedes Menschen; für die Wissenschaften und die Philosophie nur in besonderem Mass. Die Philosophie und die Wissenschaften sind diesem Vorschlag, Tatsachen und Werte in Verbindung zu sehen, nicht gefolgt; sie haben das Phantom "Wahrheit schlechthin" erst neuerdings und erst halbwegs entlarvt und erst zu ahnen begonnen, dass zu ihrem Tun Verantwortung gehört.

    Die kirchlichen und jenseitigen Heilsversprechungen wirken offenbar in irdischen Formen nach. Natürlich ist eine Rückkehr zu vorwissenschaftlichen Sichten der menschlichen Lage nicht mehr möglich. Jeder Rückzug auf Vorstellungen einer unsichtbaren, ungreifbaren, unkontrollierbaren und daher nicht zur Rechenschaft ziehbaren ausserweltlichen Instanz, welche die Ordnung der gesamten Welt in ihrer Kontrolle haben soll, ist eigentlich auch geeignet, von der eigenen und kollektiven Verantwortung abzulenken und den Gang der Dinge bestimmenden realen Interessengruppen noch mehr freien Raum zu verschaffen. Die bange Frage hat sogar einen entsetzlichen Aspekt: ist es nicht bereits zu spät, die menschliche Kondition neu verstehen zu wollen?

     

    Schlüsselwissenschaften

    Auf dem geschilderten Hintergrund meine ich heute mit Wissenschaften des 21. Jh. mehr und anderes als bloss die wichtigsten, die vordringlichsten Wissenschaften; vielmehr müssen qualitativ anspruchsvollste Wissenschaften von der menschlichen Kondition als "Schlüsselwissenschaften" verstanden und gefördert werden. Bevorzugt ein ganzes Bündel davon, so dass verschiedene Perspektiven verfolgt werden und untereinander ringend eine Chance bekommen, die klügsten Entwürfe zu machen und zu erproben und mit den nachhaltigen und den problematischen Errungenschaften der traditionellen Wissenschaften ins Verhältnis zu bringen. Denn so manches in allen Wissenschaften, ihrer Weiterentwicklung und in dem Gebrauch, der in den Gesellschaften davon gemacht wird, wird vor allem daraus bewertet werden müssen, welche Rolle es in dem zu erringendem neuen Selbstverständnis der Menschen finden kann. Man verstehe mich recht: ich fordere nicht Instanzen, welche solche Bewertungen vornehmen und über den Gang der Wissenschaften entscheiden. Ich fordere nur ganz bescheiden, dass jede Wissenschaftlerin und jeder Wissenschaftler als Angehörige irgendeiner wissenschaftsbezogenen Disziplin vom Beginn ihrer wissenschaftlichen Initiation an wenigsten einen kleinen Teil ihres Lernens, Forschens und Lehrens in einem humanistisch reflektierenden Dialog gemeinsam mit Wissenschaftlern aus den anthropologischen Disziplinen vollbringt.

     

    Humanitätsidee

    Auch der Gedanke einer strategisch zentralen oder Schlüsselwissenschaft "Psychologie" oder Anthropologie im empirischen Sinn ist ein Gedanke, der bei Herder und anderen Weltweisen des 18. Jh. dem Sinne nach das allgemeine Wissenschaftsverständnis gewesen ist. Strategisch entscheidend sowohl für gültige Erkenntnis wie für rechtes Handeln können nicht allgemeine und angeblich ewige, aber völlig inhaltsleere Prinzipien sein wie das Wahre, das Gute oder das Schöne. Dennoch wurde von solchen Idealien her "Psychologismus" und "Historismus" oberflächlich verstanden und die zwei Jahrhunderte seither miesgemacht. Das Verständnis der Rolle der Menschen in der Verbesserung der Welt selbst wie im Gewinnen von Orientierungsprinzipien zum Umgang damit gehört aber in den Mittelpunkt der Wissenschaften, wenn wir denn in einer evolutiven und kulturellen Welt leben. Die Wissenschaften von der menschlichen Kondition als ganzer müssen also eigentlich den Kern des Wissenschaftssystems bilden, um den herum sich alle Beschäftigungen mit Teilaspekten -- und das ist alles andere, was wir kennen können! -- organisieren sollten.

    Je direkter diese Wissenschaften mit der menschlichen Kondition zu tun haben, desto weniger können sie zur Hauptsache auf zeitlose Gesetze aus sein, seien sie von der Natur oder von der Gesellschaft. Wie anders müsste die Welt ausehen, wäre man nach 1800 Herders Weltbild gefolgt und nicht den Kantischen Setzungen ewiger Wahrheiten und Werte, die exklusiv der Menschengattung vorbehalten sein sollen? Herders Humanitätsgedanke ist das Gegenteil von solchem Anthropozentrismus. Er deklariert nicht die Menschheit oder gar den einzelnen Menschen zum Mittelpunkt und Mass aller Dinge; er weist vielmehr deren zentrale Rolle im Ganzen, ihre Aufgabe und ihre Verantwortung auf. Stolz aufs Menschsein ist nicht aus Zugehörigkeit zur biologischen Spezies, sondern nur gerechtfertigt, wenn die Aufgabe der Menschen erfüllt wird, wenn die Welt einigermassen "human" gemacht wird.

    Inhalt

     

    2. Kann sie? -- Über isolierende Wissenschaften

    Das führt zu meiner zweiten Frage in dem spezifischen Sinn, ob jene Wissenschaft oder Gruppe von Teilwissenschaften vom menschlichen Funktionieren, "Psychologie", "Wissenschaft vom Erleben und Verhalten" oder ähnlich genannt, zur Schlüsselwissenschaft des 21. Jh. werden kann. Aus dem Insgesamt von allem, was sich selbst als "Psychologie" bezeichnet, greife ich nun jenen Komplex heraus, der sich an den akademischen Institutionen weltweit institutionalisiert hat und der bei inhaltlich starker Kompartimentalisierung in um die 50 Subgruppen sich selbst überwiegend durch einen gemeinsamen Methodenkanon und teilweise auch durch einen etablierten Begriffsgebrauch definiert.

     

    Institutionelle Lage

    Diese Disziplin hat sich in den letzten fünf Jahrzehnten an den Universitäten der Welt in quantitativer Hinsicht, was die Nachfrage nach Studienplätzen betrifft, einen der ersten Plätze in der Rangliste der Zuwachsraten und bereits auch der Anzahl der Studienanfänger erobert. Sie hat sich sogar in manchen Ländern bereits unter den Fächern mit den höchsten Abschlusszahlen angesiedelt. Sie produziert von den umfangreichsten Listen von Forschungs-Publikationen. Und sie begegnet einer erstaunlichen Nachfrage nach Dienstleitungen in einem weiten Feld professionalisierter Praxis der Lebensführungsverbesserung und Problemtherapie mittels überwiegend sprachlicher Kommunikation. Die Quantität der personellen und infrastrukturellen Resourcen an den Universitäten konnte da in den meisten Ländern überhaupt nicht mithalten; es wurde aber überall beträchtlich investiert.

    Dennoch ist in meinem Urteil das quantitative Missverhältnis aus der Sicht der Studierenden im Vergleich zu vielen anderen Fächern ein Skandal. Ich verstehe nicht, wie eine Institution vom Charakter der Universität es sich leisten zu können glaubt, ihre Glieder so unterschiedlich auszustatten. Das Recht, studieren zu dürfen, kann doch nur ein Recht sein, hochstehend studieren zu können. Auf Dauer ist über diesen eigentlichen Sinn der akademischen Freiheit hinaus auch die Qualität und der Ruf der ganzen Institution gefährdet. Denn der Wert jeder Institution misst sich letztlich an ihren schwächsten Gliedern.

    Zu dem Bild gehört manches mehr, von innen her und von aussen her zu sehen und nicht selten sehr unterschiedlich gesehen, ob sachlich oder interessenbestimmt. Aber das ist hier nicht mein Thema. So wenig wie der Umstand, dass die finanziellen Rahmenbedingungen derzeit die Herstellung eines verantwortbaren Zustands nicht zu erlauben scheinen. Damit will ich nicht nur auf die staatlichen Finanzsorgen anspielen, sondern ebensosehr auf die Angst und Ansprüche der gewohnterweise anerkannten institutionellen Glieder. Eine derzeit deutliche Mehrheit der Mitglieder der Universität scheint es ja vorzuziehen, einer "toten" Institution anzugehören, deren Struktur praktisch nicht mehr grundlegend zu ändern, nur immer mehr zu vergrössern und zu zergliedern ist. Ich plädiere hier bewusst nicht für quantitativen Ausbau von irgendetwas Bestehenden, sondern für volle Konzentration auf die Qualität. Und zwar in dem doppelten Sinn von Qualtität: was wird da eigentlich gemacht und wie gut wird es gemacht. Wie man solchen Einsichten folgen kann, muss und darf ich jetzt andern überlassen. Meine Mitverantwortung besteht nur noch in der Verpflichtung, laut und deutlich zu sagen, was jüngere in Bedrängnis bringen könnte.

     

    Konzeptuelle Bedingungen

    Die wirkliche Antwort auf meine konkrete Frage, auf bestehende Institutionen bezogen, wird entsprechend meiner Konzeption einer evolutiven Welt nur die Zeit geben können. Worüber jedoch gesprochen werden kann und muss, sind die konzeptuellen Bedingungen, die jetzt in diesem Feld bestehen, und die Wirkungen, die es dadurch über die betroffenen Disziplin selbst hinaus ausübt, ob mit Absicht oder als Nebenwirkungen. Meine Frage allgemeiner gesehen lautet mithin: in welchem Verhältnis steht die akademische Psychologie zu jenen Bedingungen, die für eine Schlüsselrolle im beschriebenen Sinn mutmasslich bedeutsam sind? Ich greife aus Dutzenden von möglichen exemplarisch ganz wenige solche Vergleiche heraus.

     

    Wissenschaft und Werte

    Die Psychologie hat aus der philosophischen und wissenschaftlichen Tradition die Attitüde übernommen -- wie hätte sie anders sich als Wissenschaft etablieren können? -- die Wertwelt von der Erkenntniswelt abzutrennen und sich ausschliesslich damit zu befassen, wie dieses und jenes psychische Subsystem "funktioniert", was es leistet, wie man es auf gerade naheliegende Zwecke hin optimiert etc.. Eine Folge davon ist, dass sie ihren tausenden von Fragestellungen je separat nachgeht und kaum einen Gedanken mehr daran verliert, wie das alles zusammenpasst und was die mutmasslichen Folgen der jeweiligen Betrachtungsweisen sind.

    Eine Sorge ums Ganze der Psychologie hatte während eines Jahrhunderts die Fachvertreter bewegt; dies wird seit einigen Jahrzehnten, weil völlig erfolglos, systematisch schlecht gemacht. Inhaltlich wird postmodern Pluralismus gepredigt, methodisch unerbittlich ein Kanon eingefordert. Diesem Spannungsfeld sind die Einführungslehrbücher des Faches natürlich nicht gewachsen. Und praktisch nur noch in den Lehrbüchern überlebt ein kläglicher Rest von Sichten auf das Gesamte der Psychologie und vereinzelt auf ihre Einbettung in übergeordnete Zusammenhänge. Die Autoren streben danach, wissenschaftsgeschichtlichen Mythen, didaktischen Rezepten, lebensweltlichen Bedürfnissen der Heranwachsenden, dem modischen Wechsel der aktuellen Fragestellungen und den Kanonisierungszwängen von Prüfungsreglementen u7nd viel anderem mehr gleichermassen gerecht zu werden.

    Wertegesichtspunkte kommen so aus unreflektierter Tradition oder aus momentaner Interessenlage mächtig folgenreich ins Spiel. Beispielsweise ist die westliche Psychologie blind der Aufklärungsideologie von der Absolutsetzung des Indidivduellen vor dem Gemeinschaftlichen verfallen. Die Aufklärungsphilosophen hatten ja in ihrer isolierenden Orientierung auf das "Höhere" übersehen, wie genuin sozial gerade auch homo sapiens sapiens schon aufgrund seiner biotischen Ausstattung ist. Dass marxistisch angelegte Psychologie den Primat umgekehrt setzte, hätte schon einige Zeit zu denken geben können: vielleicht sei beides in solcher Einseitigkeit gleicherweise unangemessen und irreführend. Das Schicksal jedes vernachlässigten Kindes zeigt das ebenso eindrücklich wie die "Mitnahme" von Massen von Individuen bis zur Selbstzerstörung.

     

    Aggression und Versöhnung

    Auch die Bedingungen der Aggression und der Aggressivität untersuchen die Psychologen in einer isolierenden Wertorientierung überwiegend beim Individuum: die Ausmerzung der Aggression im Kollektiv sei erwünscht und dies werde durch ihre Erklärung beim Individuum erreicht, etwa durch ihre Umleitung in harmlose Spielformen, ihre systematische Umsetzung in konstruktives Agieren im wirtschaftlichen Wettbewerb oder einfach durch Verlernen, durch Psychotherapie, in bälde am sichersten durch Psychopharmaka erreicht. Dabei übersehen sie völlig die ganz wesentliche Rolle von Auseinandersetzung und Aussöhnung unter Individuen zur Gewinnung und Festigung des sozialen Gefüges von Gemeinschaften. Sie untersuchen Aggression und Versöhnung getrennt, weil sie das eine nur negativ, das andere nur positiv zu bewerten belieben und alle Anzeichen ihres innigen Zusammenhang, seit 20 Jahren bestens belegt bei den anderen Primaten, systematisch aus ihrem methodischen Blick verbannen.

     

    Bewegte Beweger

    Ebenso blind sind die Psychologen der hellenistisch-calvinistisch vorbereiteten Aufklärungsideologie vom Primat der Rationalität, vom Vorrang des Kognitiven vor dem Emotionalen verfallen. Auch diese beiden Aspekte jedes psychischen Vorgangs untersuchen sie je separat. Einige Forscher versuchen sogar, Emotionen auf Kognition zurückzuführen. Nur in Maschinen sind Vorgänge ohne Betroffenheit möglich, ohne Einbettung in eine Wertwelt. Menschen sind aber Wesen, welche in ihren jeweilig aktuellen persönlichen und sozio-kulturellen Differenzierungen aus ihrer situationalen Lage heraus bewegt werden und nach eigener Neuorganisation der daraus gebildeten inneren Bewegtheit ihrerseits Bewegung in ihre Lebensumstände hinaus bringen. Das ist eigentlich eine alltägliche Erfahrung jeder Frau und jedes Kindes. Mit ihr erweist sich als verfehlt, das Essentielle des Denkens, des Fühlens und die Motive bloss innerhalb der Individuen zu suchen. Auch das eine kulturbezogen-psychologische Konzeption, welche im 18. Jh. entwickelt worden und verfügbar gewesen ist. Man hat sie verächtlich als Lehnstuhlpsychologie abgetan.

    Werte sind weder eine Angelegenheit von Individuen noch von Kollektiven allein. Versteht man sie als kollektiv gegeben, so werden Individuen entmenschlicht, überantwortet man sie den Individuen, ist das Chaos angelegt. Es ist höchste Zeit, dass Wissenschaften von der menschlichen Kondition Tatsachen und Werte im Zusammenhang konzipieren und bezüglich des Individuellen und des Gemeinschaftlichen eine Konzeption wechselweiser Konstitution verfolgen statt einen Gegensatz machen. Von tauglicher Wissenschaft vom Menschen möchte ich erwarten, dass das traditionelle Credo der Trennung von Wertwelt und Erkenntnis analysiert statt nachgebetet wird, auf dass sie sich nicht zur Komplizin von partikulären Interessen macht.

     

    Nominale Konstrukte

    Begriffe wie Kognition und Emotion, Individuum und Gesellschaft, Aggression und Versöhnung, praktisch alle technischen Begriffe der modernen Psychologie sind nominale Konstrukte. Die meisten sind der Alltagssprache entlehnt und beeinflussen sie dann im Wechselspiel. Sie gründen ursprünglich in Beobachtungen, haben aber mit ihrer Verwissenschaftlichung weitgehend ihren Bezug auf eine von ebendiesen Begriffen unabhängig wirkende Realität und ihre realen Verbindungen zu anderen Entitäten im Kontext ihrer Referenzfelder verloren.

    Nominale Konstrukte können unentbehrliche Hilfen sein beim Eindringen ins Umbekannte. Doch können sie von unseren Gewohnheiten und vermeintlichen oder wirklichen Interessen ebensosehr und mehr bestimmt sein als vom Referenzbereich, auf den sie sich beziehen sollen. Sie sind daher für realistische Wissenschaft eigentlich immer nur vorläufig. Sie sind so weit wie nur möglich an einer von ihnen selbst unabhängig wirkenden Realität zu korrigieren und konzeptuell zu ergänzen. Wenn nun eine Wissenschaft ihre nominalen Konstrukte so wichtig nimmt, dass sie ihre Methoden vollständig daraus bestimmt sein lässt, dann kann das eigentlich nur zu "wissenschaftlichen Luftgebilden", zu einer ziemlich unauffällig getarnt daherkommenden Form von "Science Fiction" führen. Neben einigen anderen Disziplinen hat sich die Psychologie dazu hinreissen lassen, ihre Fragestellungen in selbsterzeugten Kunstwelten, sogenannten psychologischen Experimenten, zu überprüfen. Dagegen spricht nichts, wenn zugespitzte Fragen zur Klärung anstehen; alles aber, wenn Konzeptionen, Methoden und Beobachtungen zu einem unzertrennlichen Komplex geformt sich wechselweise am Lebenstropf aufrecht halten. Wie in der Intensivstation muss eine davon unabhängig wirkende Welt ausgeschlossen werden. Vorübergehend mögen evolutive Nischen fruchtbar sein; bevor sie zu Gewohnheiten werden, bedürfen die Konzeptionen der Konfrontation mit einer wirklichen, von den Konzepten unabhängigen wirkenden Welt.

    Die Beibehaltung des Gewohnten Vorgehens läuft darauf hinaus, dass tatsächlich zB eine kognitive Leistung oder ein Gefühl oder eine Motivationslage nur noch das sind, was die einschlägigen Verfahren messen. Das wurde in meiner Studienzeit als Kritik an der gängigen Methodologie vorgebracht; heute kann es als eine stolze Begründung exakter Vorgehensweise gelten. Solche Verfahren gibt es in grosser Zahl; unter Geltendmachung von verbesserter Vergleichbarkeit der Studien werden sie zunehmend auf Standardverfahren eingegrenzt. Das führt zu einer Quadrierung der Beliebigkeit. Im Fall der kognitiven Leistung wurde überdies der Kurzschluss von der Leistung auf die Fähigkeit vollzogen -- ein Leistungsmass kann nur unter der Voraussetzung als ein Fähigkeitsmass interpretiert werden, dass sich seine personalen und situativen Bedingungen nicht weiter entwickeln werden. Die Anwendung solcherart verallgemeinernder Diagnostik auf individuelle Personen in Entwicklung und die damit verbundene Strukturierung mancher Institutionen der Bildungs- und Arbeits- und Betreuungswelt sind mir nach wie vor sachlich wie ethisch bedenklich.

     

    Dekontextualisierung

    Von den griechischen Philosophen haben wir die Vorstellung übernommen, alle beobachtbaren Dinge und Geschehnisse liessen sich als aus ihrer Wirklichkeit herausnehmbare Substanzen in der Weise auf Begriffe bringen, dass sie nach ihren Wesenseigenschaften in Klassen geordnet werden können. Die "un"wesentlichen oder akzidentellen Eigenschaften gehen dabei systematisch verloren.

    Aber liegt nicht Wesentliches aller Gebilde dieser Welt, ob nach ihrer Erscheinungsform "materiell" oder "geistig" verstanden, darin, welches Potential sie im Zusammenwirken mit anderen Gebilden entwickeln können? Kaum etwas hat seinen Bestand in sich selbst; alles Wirken erfolgt aus der Interaktion von Gebilden. Können wirklich die Dinge dieser Welt, einschliesslich so komplexer Gebilde wie menschliche Personen, auf ihre vorgebliche Wesenseigenschaft reduziert begriffen werden? In der Tat hat erlebtes Denken und haben die Ergebnisse des Denkens, mehr noch auf dem Papier als im Kopf, oft einen gewissermassen ordentlichen Charakter. Jedenfalls wünschen wir uns sauberes Denken. Um den Preis der Vergewaltigung der Dinge, der Einengung ihres Potentials? Sind wir immer noch mit Verlockungen und Macht in einen Bund Gezwungene, denen nach der Beschneidung der Lebenskraft (1. Mose 17, 7-14) und des Muts (5. Mose 10, 12-16) auch noch der Kopf um eine Hälfte eingekürzt werden soll (vgl. Miles 1996:70 und 172)? Wenn unsere Gedanken und Gefühle nicht von den Dingen um uns in ihrer Vielfalt, von den anderen Menschen um uns aus ihrem noch nicht entwickelten Potential, von unseren anderen Gedanken und Geschehnissen um uns im Werden und im Wandel bewegt werden, wenn sie uns nicht selber in Bewegung versetzen, und wenn sie nicht weitere Welten ausserhalb unseres Kopfes bewegen, dann sind sie, wie Robert Musil sagt, "tote" Gedanken, ob auf Dinge oder auf Menschen bezogen.

    Können Kognitionen, in ihrer verwesentlichten Form und eingeschlossen in die Köpfe von Individuen, solchen Wirkungszusammenhängen gerecht werden? In Maschinen möchten wir, dass jedes Teil genau das tut, wozu es entworfen und eingebaut worden ist. In der Wirklichkeit psychischer und sozialer Systeme, wie ja auch schon in Organismen, sind aber in aller Regel mehr Teile miteinander verbunden als in Maschinen. Fast alle unterscheidbaren Teile gewinnen ihren Wert gerade aus den vielfältigen Verbindungen, die sie eingehen können. Charles Peirce hat die Gefangenheit psychologischer Nominalbegriffe wie der "Gedanken" oder Kognitionen in den Köpfen mit diesem Bild aufgedeckt: wie wir nicht sagen, Bewegung sei in einem Körper, sondern ein Körper sei in Bewegung, sollten wir sagen, wir seien in Gedanken, und nicht, Gedanken seien in uns (Some Consequences of the Four Incapacities, 1968, CP 5.314).

     

    Kanonisierung

    Fixierungen psychologischen Denkens wie die beschriebenen wären fast beliebig zu vermehren und zu exemplifizieren. Es scheint tatsächlich, dass manche Wissenschaftler, wenn sie einmal auf bestimmte Wege in bestimmte Welten gelangt sind, wie Massentouristen den Blick nicht mehr auf die weitere Landschaft richten, in der sie gehen. Wie kommt es, dass Wissenschaftler, die angeblich rationalsten Exemplare der menschlichen Gattung, dermassen ihr Tun durch ihre eigenen Gefühle bestimmt sein lassen, nämlich die Bevorzugung dessen, was ihre Anführer und was die Mehrheit ihrer Kollegen tun, dessen, was sie einmal gelernt haben, und dessen, woran sie sich gewöhnt haben. Wie kommt es dazu, dass die Universitäten fast systematisch Absolventen "produzieren", deren wichtigste Lernerfahrung die Imitation des Gängigen darstellt? Das zweitgrösste Problem der meisten modernen Wissenschaften neben den problematischen Nebenfolgen ihrer Erkenntnisse scheint ihre institutionelle Kanonisierung zu sein, mit der sie ihren Nachwuchs ins Glaubensbekenntnis zwingen, um im Wettbewerb gegen die Nachbarwissenschaften kurzfristige Erfolge zu erringen. Dass dies so oft auf Disziplinierung, d.i. geistige Vergewaltigung der jungen Generation hinausläuft, scheint vielen führenden Wissenschaftlern gleichgültig zu sein.

     

    Personalisierung

    Ich habe hier in Form von wenigen ausgewählten und kursorischen Blicken auf wirkliche und mögliche Psychologie zur Beantwortung unserer Kann-Frage beizutragen versucht; es ist notwendig meine persönliche Sicht. Dass ich sie drastisch zeichne, hat mit dem Sachverhalt mehr zu tun als mit meiner Attitude. Die meisten werden mich als einen freundlichen Menschen kennen. Aber sie werden jetzt gespürt haben, dass ich kein Vertrauen mehr in die real existierende Psychologie setzen kann. Auch diese Bemerkungen werden mir von vielen meiner Fachkollegen weit herum wahrscheinlich übelgenommen werden. Das Betrüblichste meiner universitären Lage ist wohl die seit vielen Jahren andauernde Erfahrung der Diskussionsverweigerung. Dass meine wissenschaftlichen Diskussionsangebote so häufig als Angriffe auf Personen, und nicht wie intendiert als Untersuchungvorschläge von Gedanken, Gewohnheiten, angeblichen Selbstverständlichkeiten und dergleichen aufgefasst worden sind. Dass man mich in den Formen, nicht in den Inhalten kritisiert hat. Ich musste im Lauf der Jahre zunehmend deutlicher zur Kenntnis nehmen, dass es die Bevorzugung trendiger und trivialer Fragestellungen ist, welche Karrieren macht. Meine Überzeugung, Wissenschaft sei in erster Linie Kritik und Ablösung problematischer Überzeugungen, hat sich als eine soziale Täuschung erwiesen.

     

    Selbstzentrierung

    Mein Fach hat in den vergangenen Jahrzehnten in den Universitäten ein Milieu gefunden, in dem auch manche andere Diszplinen überwiegend ihr Spiel mit sich selbst betreiben können. Zur Rechtfertigung ihrer Existenz vor dem Steuerzahler hat man sich Klienten ausserhalb aufgebaut. Die Auseinandersetzung mit Disziplinen, die statt Unterstützung Kritik anbieten, hat man weitgehend aufgegeben. Den zurückgehenden Erfolg bei der Zuteilung von Mitteln zur Angleichung des Angebots an die Nachfrage hat man als Kollegenneid und "mangelnder Liebe zur Psychologie" gedeutet.

    Es ist offensichtlich zu einer Frage der Weite des Horizontes geworden, auf dessen Hintergrund man Wissenschaft macht. Ich verdiene wohl Kritik an meiner Unloyalität mit meinem Fach, wenn man das Fach selbst und seine Klientel zum Kriterium seiner Bewertung zu machen gewillt ist. Ob das auch gilt, wenn man die Sorge um die menschliche Kondition zum Kriterium wählt, überlasse ich dem Urteil anderer. Könnte nicht wenigstens etwa die Hälfte der Ressourcen in der Psychologie anstatt in Bemühungen zur Reparatur von Schäden, welche unbedachtes Umgehen mit Menschen anrichtet, in die Gewinnung besserer Grundlagen für den Umgang der Menschen untereinander investiert werden? Anhand der Projekt-Unterstützung etwa durch den Nationalfonds ist unschwer festzustellen, dass auch die Bedeutung des Begriff "Grundlagenwissenschaft" in wenigen Jahrzehnten zugunsten von Interessenlagen angepasst worden ist.

     

    Reformkräfte?

    In dieser Lage muss man wohl die Hoffnung auf Kräfte ausserhalb jeder einzelnen der wissenschaftlichen Disziplinen setzen, welche sich in Lagen wie die Psychologie begeben haben. Bei den Medien und den meisten Politikern fehlt die Einsicht in die Verhältnisse; und wenn sie besteht, fehlen kurzfristiger Partikularnutzen-Orientierung die Kräfte für Konsequenzen. Wie steht es innerhalb der Universität? Sind vielleicht Fächer wie die Psychologie symptomatisch für weite Bereiche der Universität? Sind Kanonisierung und Selbstzentrierung bei einigen Fächern, welche auf längere Traditionen hinweisen können, nur weniger leicht sichtbar? David Lindley, ein angesehener Physiker, vertritt in seinem Buch The End of Physics (1993) die These, die Physik der subatomaren Partikel sei ein reines Kunstprodukt, entstanden aus dem instutionellen Zwang, diese Wissenschaft mathematisch zu betreiben; hybridisiert, füge ich bei, mit der wie immer ungewissen, aber systematisch genährten Hoffung, die "saubere" Lösung des Energieproblems liege hinter diesen gewiss nicht billigen Experimenten. Aber die Experimente, sagt Lindley, werden ausschliesslich in einer selbstkonstruierten Eigenwelt durchgeführt, die aus nichts anderem als den zugrundeliegenden Theorien gebaut ist.

    Haben wir mit guten Gründen aus den Universitäten Unternehmen gemacht für Forschung zur Grundlegung von möglicherweise nützlichen Techniken und zur Ausbildung von Technikern für Sachen und Menschen, die damit die Menschheit beglücken? Bräuchten wir nicht ebenso dringlich, wenn nicht dringlicher, eine Institution, welche Orientierungsvorschläge entwickelt? Welche den Begabtesten aus der jungen Generation Gelegenheiten anbietet, Reflexionen dessen, was wir in den Wissenschaften eigentlich tun und mit ihnen bewirken, zu entwickeln und geltend zu machen? Ganz besonders, was die menschliche Kondition betrifft! Es gibt weitere Kunstprodukte in ihren selbstkonstruierten Eigenwelten unter den Wissenschaften, auch billigere, die man nicht länger bloss ihren Promotoren und Klienten überlassen darf.

    Inhalt

     

    3. Wie denn? -- Über Person und Kultur

    Wenn Wissenschaften vom Menschen zu Schlüsselwissenschaften des 21. Jh. werden sollen, aber in der Anlage, wie sie derzeit vorliegen, dazu wenig taugen, werden Sie mit Recht von mir eine Antwort auf die Frage verlangen: wie denn? Was sollen wir fördern, wenn wir zur Überzeugung gekommen sind, der Schlüssel für die Zukunft der Lage der Menschen und mehr auf diesem Planeten liege in einem realistischeren Selbstverständnis, in einem Menschenbild, welches der heiklen Lage dieser Gattung in einem umfassenderen evolutiven System und als Schlüsselfiguren für dessen weiteren Wandel und für ausreichende Stabilisierung gerecht werden könne?

    Hier ist nicht der Ort, die neuen konzeptuellen und methodischen Mittel systematisch darzustellen, welche ich Semiotische Ökologie nenne und die in den knapp zehn Jahren, seit ich den Schlüssel dazu gefunden habe, den Mittelpunkt meines Tuns bilden. In einer kleinen Mitarbeiter- und Studentengruppe arbeiteten wir sie aus und erproben sie insbesondere im Forschungsfeld der Wohnpsychologie oder Wohnökologie: "Menschen mit ihren Dingen in ihren Räumen". Wie vorhin anhand ausgewählter kritischer Momente möchte ich mit einigen Streiflichtern aufweisen, dass sehr wohl Wissenschaften möglich sind, welche die unübersehbaren Potentiale der menschlichen Kondition in ihrem Kerngehalt aufgreifen und erfahrungskontrolliert auf Begriffe bringen können. Solche Konzeptionen können ihrerseits helfen, Leitlinien und Kriterien zu erarbeiten, nach welchen Menschen sich und einander orientieren können. Freilich wird dabei, wenn denn die Menschen Bedingte und Bedingungen evolutiver Systeme sind, nicht nur unser Begriff von Wissenschaft eine bedeutende Ausweitung erfahren sondern auch unser Menschenbild einen recht radikalen Wandel durchmachen müssen. Aber genau das wollen wir ja im Geiste von Wissenschaftlichkeit unternehmen; und in Sorge um und in Verantwortung für unsere Enkel und Enkelsenkel und für etwas, was als Bedingtes und Bedingung auch über deren Lebenswelt hinausreichen wird.

     

    Evolution allgemein

    Ich habe im ersten Teil der Ausbreitung dieser Gedanken die menschliche Kondition als Teil eines unfassenden offen-evolutiven Systems charakterisiert. Es mag schon deutlich geworden sein, dass ich den Begriff der Evolution allgemeiner als üblich fasse und Bioevolution als einen Sonderfall davon verstehe. In der Tat ist die allgemeine Aneignung einer evolutiven und ökologischen -- das ist nicht real voneinander trennbar -- Grundhaltung immer noch weit im Rückstand. Zweihundertdreissig Jahre nach Herders und 140 Jahre nach Darwins Schlüsselbüchern sind wir immer noch tief gefangen in der dualistischen Timäuswelt, wie sie Plato vor zweieinhalb Jahrtausenden ersonnen hat. Diese hat nicht nur ins christliche Gottes- und Menschenbild, sondern auch in die modernen Wissenschaften metamorphisiert. Herder hat als erster eine im wesentlichen stimmige und vollständige Allgemeine Theorie der Evolution entworfen, und zwar am Beispiel der Kulturevolution in ihrer Verflechtung mit den Entwicklungen der individuellen Personen. Wo und wie unterrichten wir unsere Jugend, evolutiv zu denken und fühlen? Warum suchen die Wissenschaften auch der offensichtlich evolutiven Bereiche, von der Biologie bis zur Soziologie und allen ihren Satelliten immer noch nach "ewigen" Gesetzlichkeiten und verteidigen ihr Paradigma gegen die Postmodernen, welche in Überreaktion auf das Notwendigkeitsdenken alles für durch und durch beliebig deklarieren? Obwohl doch auch die meisten Physiker und Chemiker längst erkannt haben, dass auch ihre Interesssenbereiche Ergebnisse von Evolution sind; zugegeben, etwas längerfristiger stabile als jene der Psychologen? Wie ist es möglich, dass wir ausgehend von den harten Einsichten der Evolutionsbiologen nicht gründlicher und durchgehender über das Allgemeine in den verschiedensten Erscheinungsformen dieser kreativen Prozesse nachzudenken suchen?

    John Dewey hat schon 1920 die hocheinsichtige Konzeption der "Evolution der Evolution" geprägt. Dewey war die ersten 20 Jahre seiner akademischen Laufbahn ein Psychologieprofessor gewesen und hatte, weil seine Radikalkritik (1896) an der eben Moment gewinnenden mechanistischen Akademisierung einer psychologischen Disziplin nichts fruchtete, sein Leben der alten Trias von Philosophie in konzeptueller, Psychologie in erfahrungsbegründender und Pädagogik in praxiserprobender Perspektive gewidmet und mit einem vierten P der Pädagogik noch die Politologie beigefügt. In seinem Werk ist in meinem Urteil das in der westlichen Welt im 20. Jh. umfassendste anthropologische Verständnis der menschlichen Kondition und dem nötigen Verbund von empirischen, theoretischen und praktischen Wissenschaften und Vorgehensweisen entwickelt.

     

    Individualevolution

    In der Tat hat die Bioevolution Lebewesen hervorgebracht, welche über die Bildung des Artengedächtnisses in den chromosomalen Strukturen des Genoms hinausgehend als Individuen Erfahrungen sammeln und nutzen können. Nach allem, was wir verstehen, wird das Individualgedächtnis überwiegend in cerebralen Strukturen gebildet. Es ist im Vergleich mit dem Genom weit rascherem Wandel unterworfen. Es ist ebenso wie die Instinkte auf die Umwelt des jeweiligen Individuums bezogen, vermag aber weit grössere Flexibilitäten zu entwickeln, indem in den internen "symbolischen" Darstellungen, welche die umweltliche Wirklichkeit in den cerebralen Strukturen gewinnt, so etwas wie ein Zukunfts- oder Proto-Möglichkeitssinn Erwartungen über nie zuvor erfahrene Situationen begründen, freilich das Gegebene in der Darstellung sowohl verfälschen wie auch innovativ bereichern kann. Mit dem Instinktkonzept, das ich hier nur in seinen generellen Zügen behandeln kann, sind wir schon mitten im Bereich der psychologischen Wissenschaften. Segensreich in variablen Umwelten kann sich die mit wachsender Bedeutungung von Individualerfahrung einhergehende Diversifizierung des Verhaltens von zusammenlebenden Mitgliedern erweisen; im Vergleich mit den so zuverlässigen sozialen Instinkten freilich auch problematisch für einzelne oder alle in einem durch diversifiziertes Agieren dermassen angereichertem Gruppengeschehen. "Unerfreulich" unter Gesichtspunkten der Ökonomie und der Konsistenz ist und bleibt, dass jedes Individualgedächtnis einzeln mühsam gebildet werden muss und mit dem Tod des Individuums unwiederbringlich verlorengeht.

     

    Kulturevolution

    Die Bildung von Individualgedächtnis ist bei den komplexeren cerebralen Tieren weit verbreitet. Einige von ihnen, insbesondere die Menschen, haben in einer weiteren Evolution der Evolution eine Möglichkeit erfunden, einige dieser Beschränkungen der individuellen Erfahrungsnutzung und der persönlichen Weitergabe -- denken Sie daran, was kleine Kätzchen von ihrer Mutter lernen müssen -- durch die Bildung von organismus-externen Gedächtnisstrukturen zu erweitern, beinahe zu sprengen. Natürlich können solche allen Mitgliedern einer Lebensgeinschaft unmittelbar zugänglichen kulturalen Erfahrungsverkörperungen nur in engster Verbindung mit den Individualgedächtnissen der Beteiligten, der Erzeuger wie der Nutzer, überhaupt erst funktionell werden. Sie verleihen aber allen beteiligten Individuen eine weit über ihren Organismus und dessen raum-zeitliche Enge hinausreichenden Wirkungshorizont als Empfänger und als Geber. Ich spreche natürlich von der kulturellen Evolution. Beziehungsweise von den kulturellen Evolutionen; denn wie schon die Lebensentwicklung jedes Einzelnen sind natürlich die kulturellen Entwicklungen jeder Tradition von denjenigen anderer Traditionen verhältnismässig entfernt bis getrennt. Das hängt einfach von der Intensität des interaktiven Austausches unter den Beteiligten ab. Scharfe Grenzen zwischen kulturellen Traditionen lassen sich nicht ziehen. Denn sowohl individuelle wie kollektive Erfahrungsbildung und -nutzung wird durch Einflüsse aus anderen und in andere Lebensläufe und Traditionen gewaltig bereichert.

     

    Evolutionsverflechtungen

    Offensichtlich bedingen die drei Evolutionen einander wechselweise und nicht nur dergestalt, dass die früheren zu Grundlagen der späteren werden. Die Individualevolutionen wären ohne kulturelle Angebote und Zwänge ungemein armseliger; und in den Kulturen der Welt hat man zu unterschiedlichen Graden durch mehr oder weniger gezielte Selektion und Variationsbildung in den Lauf der Bioevolution eingegriffen. Derzeit sind (zunächst) die westlichen Menschen im Begriff zu lernen, die Bioevolution auch durch direkte Eingriffe ins Genom zum Objekt ihrer Machenschaften und damit in einer weiteren Evolution der Evolution zu einem Hybrid von kultureller und biotischer Evolution zu machen.

    Wie schon gesagt, war es Johann Gottfried Herder, der diese Zusammenhänge als erster in den wesentlichen Zügen ihrer unfassbaren Tragweite verstanden und daraus Konsequenzen für das menschliche Selbstverständnis gezogen hat. Mehr als ein ganzes Jahrhundert nach ihm hat Jakob von Uexküll dem Herderschen Denken eine explizite biologische Fundierung geben können und empirisch gezeigt, was Herder intuitiv eingesehen hatte, nämlich dass alle Lebewesen auf ihre artspezifischer Weise in ihre eigene Umwelt eingebunden sind. Das gilt für Menschen nicht weniger, auch wenn ihre Einbettung durch Individualerfahrung und kulturelle Bereicherung die Fixiertheiten der biotischen Einbindungen überwunden und damit deren evolutive Tragweite ungemein erweitert hat. Dieser Sachverhalt stellt den Kern ökologischen Denkens dar. Ich habe ihn in meinen ersten Studienjahren von Kurt Lewin gelernt. Seine nicht von irgendeinem prätentiösen Primat der Physik bestimmte, sondern zum vornherein vergleichende Wissenschaftslehre und seine auf deren Einsichten gründende ökologische Psychologie sind mir in meinen ersten Studienjahren zu den hauptsächlichen Richtlinien meiner eigenen Wissenschaftsentwicklung geworden, bis ich dreissig Jahre später in die Lage kam, mit Unterstützung von Herder, Peirce und Dewey auch deren Fixierungen zu sprengen.

     

    Wissenschaften vom Evolutiven

    Wenn Sie diese Sicht der Zusammenhänge in der menschlichen Kondition auch nur generell und ahnend nachvollziehen können, werden Sie wohl meiner völligen Konsternation über die Selbstdeklaration der Psychologie als Naturwissenschaft oder als Sozialwissenschaft nach ersterer Vorbild zustimmen müssen. Wie haben es diese meine Vorgänger nur geschafft, ein Jahrhundert lang zu forschen und zu lehren und dafür Studierende und Unterstützung zu gewinnen, obwohl sie diesen dritten und genuin menschlichen Evolutionsbereich in ihren Begrifflichkeiten und in ihrer Methodologie einfach ausblendeten? Unabhängige Wissenschafts- und Kulturhistoriker werden es angesichts der enormen Folgen für die Geschichte überhaupt -- hoffentlich bald! -- klären wollen. Vielleicht könnte ich leichter Nachsicht üben, wenn wenigstens biologische Leitmodelle berücksichtigt würden; aber da auch die übergrosse Mehrzahl der Biologen immer noch ihren Gegenstand, das Leben, auf physiko-chemische Gesetzmässigkeiten zu reduzieren suchen, würde sich dadurch wohl nicht sehr viel geändert haben.

    So lässt sich der Kern meiner Kritik an der akademischen Psychologie des 20. Jh. in die Formel fassen, sie verpasse den kulturellen, genauer, den kulturell-evolutiven Aspekt und damit die jeweilige Geschichtlichkeit und Geschichtsbezogenheit der menschlichen Kondition.

    Das ist aber, wie sich bald erwiesen hat, auch eine zwiespältige Formel. In der Kernaussage richtig könnte sie zum Beispiel zur Bildung von "Kulturpsychologie" als einer weiteren Subdisziplin führen, die mehr oder weniger fröhlichen Gemüts neben den anderen vor sich hin werkelte. Es geht aber darum, die Psychologie als ganze auf die Kulturalität und Historizität der menschlichen Existenz zu richten. Das kann mit Denkweisen und Begriffen, welche für nicht-evolutive Systeme gebildet worden sind, nicht gelingen. Ein radikaler Bruch mit den herkömmlichen Vorgehensweisen ist daher unumgänglich. Das heisst nicht, dass nicht manche Ergebnisse bisheriger Psychologie in den neuen Kontext eingebracht und einen neuen Stellenwert gewinnen können. Es stimmt nicht, dass ich mit dem Zweihänder rundum schlage; mit Posaunen freilich versuche ich manchmal schon zu wecken. Ist das nicht meine gesetzliche Pflicht?

     

    Evoluierende Wissenschaften

    Denn ohne radikale Neuorientierung, so habe ich mich mit der Zeit aus viel Erfahrung mit Missverständnissen überzeugt, kann es nur misslingen. Ich treffe auch immer wieder Kolleginnen und Kollegen, die das Problem bestens verstanden haben, aber aus manchmal nachvollziehbaren Gründen ihre Einsichten nicht öffentlich machen. Für kluge und ehrgeizige Nachwuchsleute kann diese Konstellation tragische Folgen zeitigen, für die Person wie für das Fach.

    Schlimmer noch, ich wage die Prophezeiung, dass in wenigen Jahren unter dem Druck der Plausibilität der hier von mir und anderswo von einer wachsenden Zahl von Kollegen vorgetragenen Forderung bald viele Psychologen von sich behaupten werden, sie seien selbstverständlich Kulturpsychologen, ohne dass sie ihre Begriffe und ihre Methoden im mindesten ändern werden. "Immer schon Kulturpsychologen gewesen." Denn sie erforschten ja kulturelle Systeme wie kognitive Strukturen, soziales Handeln, Kommunikation und Institution wie Arbeit, Familie, Erziehung, Bildung, und viel anderes dergleichen. Und werden es weiter tun mit konzeptuellen und methodischen Mitteln, die für mechanische Komplexe gebildet und auf elektronische Systeme übertragen worden sind. Evolution, gerade auch in den Wissenschaften, dh der Wissenschaften, braucht aber gründliche Auseinandersetzung zwischen Entwürfen; und echte Konkurrenz; auch Nischen für frühe Entwürfe; manchmal unvermeidlich auch schmerzhafte Revolution.

     

    Kulturbegriff?

    Der Ausdruck Kultur ist seit Pufendorf (1686) als Indikator für spezifisch Menschliches verwendet worden; leider in Entgegensetzung zur Natur, der umgebenden und der des Menschen selbst. So ist der Begriff zu einem mächtigen Motor der Entzweischneidung der menschlichen Kondition geworden. Das Sprechen über diesen Term erfordert daher ein äusserst gründliches Vorgehen. Zunächst: Kultur als "die Kultur" lässt sich nicht sinnvoll definieren. Denn dermassen substantialisiert wird das Kulturelle seines evolutiven Charakters beraubt. Wohl aber lassen sich Differenzierungen in Zeit und Raum des Kulturellen unterscheiden: Differenzierungen beziehungsweise Ähnlichkeiten in den Lebensformen und Lebensumwelten, welche Gruppen von Menschen in Traditionen herstellen und brauchen; sowie Differenzierungen und Ähnlichkeiten auch der Menschen selbst, welche selbstdeklariert oder von anderen als solchen Traditionen zugehörig bezeichnet werden und welche solche Traditionen weiterführen und weiterdifferenzieren.

     

    Kulturalität und Kulturen

    Es lässt sich also wohl ein Verständnis des Kulturellen im Hinblick auf die Gesamtheit der lebensweltlichen Strukturen und Prozesse gewinnen, welche menschengenerierte Gemeinsamkeiten in der Überformung ihrer Umwelt und ihrer selbst bestimmen. Kultur, oder besser Kulturalität, ist also bloss eine Sammelbezeichnung für alle Prozesse und Strukturen, die in den Menschen und zwischen den Menschen im Rahmen von Traditionen gebildet werden und einen weiteren Einfluss ausüben. Bei einigen Tieren ist Ähnliches (überwiegend Homologes!) zu beobachten. Kulturalität ist ein allgemeiner Vorgang und muss als solcher in aller Klarheit auf Begriffe gebracht werden und das menschliche Selbstverständnis in entscheidender Weise bestimmen. In den verschiedenen Diversifizierungen des Kulturellen wird Kulturalität am sichtbarsten manifest. Die Anbindung der Diversifizierung an geographische, geschlechtliche, altersabhängige, schichtspezifische, bildungsorientierte und was weiss ich für weitere Erscheinungsformen des Kulturellen ist jedoch immer nur zweidrittelrichtig und so sehr von einer klassifizierenden Bemühung bestimmt, dass meistens der Blick auf den Prozess und seine Bedingungen und Wirkungen verstellt wird. Diversität als solche kann ebensowenig ein Wert sein wie Einheitlichkeit weltweit.

     

    Person und Kultur

    Im kulturellen Geschehen sind die Individuen und die Gemeinschaften gleichermassen wichtig; es ist kein Primat des einen vor dem andern möglich, wie man sofort einsieht, wenn man den Prozesse der Genese von Kultur und Person in der Zeit auslegt. Denn ein Individuum wird erst zu einer Person dadurch dass es die wesentlichen angebotenen Errungenschaften seiner Kultur auf eigene Weise sich zu eigen macht. Es ist irreführend, den Personbegriff auf die biologische Zugehörigkeit zur Gattung Mensch zu reduzieren. Auch in den Rechtswissenschaften sollte man sich klüger mindestens ebenso intensiv an der Kulturalität und nicht fast nur an der Biotizität der Menschen orientieren. Zum Beispiel haben auch Korporationen Personalität; das Strafrecht praktisch auf natürliche Personen zu begrenzen gibt manchen Korporationen einen allzu grossen rechtsfreien Raum. Anderseits sind die Gemeinschaften nicht bloss sozial, sondern eben auch deswegen wesentlich kulturell, weil es die Individuen sind, welche Innovationen in die Traditionen bringen, sei es durch eigene Erfindung oder durch Übernahme und Modifikation von Errungenschaften anderer Gemeinschaften. Und es sind, ebensowichtig, die Individuen, welche vorgeschlagene Innovationen aufnehmen und verbreiten und traditionelle Gewohnheiten wandeln oder aufgeben. Eine Formel, welche das prägnant fasst, spricht von der wechselseitigen Konstitution von Person und Kultur und beider regulativer Stabilisierung und Wandlung.

    Die Einsicht in die Verflochtenheit der drei Evolutionen fordert eine allgemeine Begrifflichkeit, welche die drei Evolutionsbereiche überspannt und so erst ermöglicht, die Unterschiede und die Wechselbeziehungen zwischen ihnen zu begreifen. Lassen Sie mich zwei bedeutende Aspekte aus dem evolutiven Geschehen mit Betonung der kulturellen Ebene herausgreifen, um Ihnen mein Denken über Kulturalität und Historizität der menschlichen Kondition konkreter zu erschliessen. Ich deute hier in einer bildhaften Weise kurz und flüchtig etwas vom begrifflichen Kern semiotisch-ökologischen Denkens an.

     

    Evolutive Dialoge

    Eine der dringlichsten konzeptuellen und methodologischen Fragen betrifft das Verständnis des allgemeinen evolutiven Geschehens. Für die Bioevolution ist das Geschehen heute sehr differenziert auf Begriffe gebracht, auch wenn viele Einzelheiten noch der Klärung bedürfen. Die biologischen Erklärungen dürfen jedoch nicht tel quel auf die beiden anderen Evolutionstypen übertragen werden wie das versucht wird (zB in Dawkins Gen-Mem-Analogie). Erst auf sehr hohem Abstraktionsniveau finden sich Äquivalenzen. Ein abstraktes Begriffwerkzeug vom Typus der semiotischen Ökologie ist unentbehrlich, weil nur so die Gemeinsamkeiten und die Unterschiede der verschiedenen Evolutionen herausgearbeitet und die Verflechtungen verstanden werden können.

    Es zeigt sich, dass eine Konzeption von Prozessen der Strukturbildung aus Wechselwirkungen zwischen so herausgebildeten Strukturen in allen drei Fällen das evolutive Geschehen erstaunlich einfach zu erhellen vermag. Es sind aber in den drei Evolutionstypen ganz unterschiedliche Strukturtypen in den beiden Grundvorgängen der Variationsbildung und der Selektion oder Bewertung am Werk.

    Für die Individualevolution gibt es meines Erachtens bis jetzt keine gültigen theoretischen Vorstellungen. Systemtheorien, homöostatische, äquilibrierende oder solche vom Typus der Selbst-Organisation erklären eher den Stillstand als die Entwicklung. Das rührt wohl zur Hauptsache daher, dass man unökologisch versucht hat, die Entwicklung von Individuen isoliert von der Entwicklung der Umwelt erklären zu wollen und ihren Wandel daher mit beliebigen situativen und handlungsmässigen Ereignissen in Verbindung gebracht hat.

    Für Individuen in der Kultur ist jedoch leicht zu sehen, dass beider Entwicklung in einem Zyklus wechselseitiger und in Teilen nachhaltiger Beeinflussung zusammen verstanden werden muss. Die cerebralen Symbolbildungen in den Individuen, die instinktuellen artspezifischen wie die individualerfahrungsbestimmten, sind in gewisser Weise Verkörperungen nicht nur von Eigenschaften der Umwelt, sondern ebensosehr von den Umgangsmöglichkeiten und Erfolgswahrscheinlichkeiten spezifischen Umgangs mit ihr. Ebenso sind die Veränderungen der kulturellen Welt, die kleinsten wie die grössten, die flüchtigsten wie die nachhaltigsten "Werke", welche alle agierenden Menschen fortlaufend in ihrer Umgebung hinterlassen, so etwas wie "Gedächtnisse" ihres Agierens und damit Darstellungen ihrer selbst in gewisser Hinsicht. Sie entstehen und vergehen, einige überdauern länger.

    Die Strukturbildungen in den Organismen und die Strukturbildungen zwischen den Organismen sind also evolutiv miteinander verflochten. Beide Typen sind "Bedeutungsstrukturen". Die Bedingungs-Wirkungs-Zusammenhänge laufen in einem Funktionskreis zwischen den organismischen und den umweltglichen Subsystemen der Ökosysteme hin und her. Transaktional sind solche "Dialoge" zwischen Strukturen unterschiedlicher Dauer, Komplexität und Flexibilität dann, wenn aufgrund der im "Dialogpartner" jeweils erreichten Strukturveränderungen das Verhalten ebendieses Partners seinerseits in der nächsten Phase verändert ist. Und so hin und her und in weiteren spiralenden Kreisen. Der Vorgang ist gemeinsame Entwicklung.

     

    Generative Semiotik

    Die Strukturen in und zwischen den Lebewesen sind "Bedeutungsstrukturen". Die Organismen selbst und ihre Umwelten sind "Bedeutungsstrukturen". Was kann das heissen. Bedeutungen verstehen wir immer noch als etwas Geistiges, was etwas Materiellem zugewiesen wird von einem Deuter, einem Mind, einem Geist. Symbole, dh arbiträre Formen, welche Bedeutung "tragen" sollen, seien den Menschen vorbehalten. Wie sollen aber Tiere, von den komplexesten bis zu den einfachsten, in ihrer Umwelt bestehen können, wenn sie deren für sie bedeutende Teile -- Essbares, Giftiges, Gefahren, Artgenossen, Feinde, Geschlechtspartner, Brut, Freunde etc. -- nicht als das nehmen, was sie ihnen bedeuten? Ob angeboren oder gelernt, die internen Strukturen sind in einem ähnlichen Sinn arbiträr, ob Genom, Instinkt oder internes Gedächtnis etc., wie die externen Strukturen "beliebig", welche den kulturellen Prozess tragen, ob Werkzeuge, Kultzeuge, Sprache, Schrift, Gesang, Instrumente oder Häuser etc. Entscheidend ist nur, dass sie den mit ihnen interagierenden Strukturen in irgendeiner Weise "bekannt" sind.

    Die bei Charles Peirce gewonnenen Einsichten über das Bedeutungsproblem haben mich dazu geführt, in seinem Geiste eine generative Semiotik zu entwickeln, welche auf die Trennung von Bedeutung und Bedeutungsträger verzichten kann. Die im vorigen Abschnitt eingeführten Strukturbildungen sind allesamt semiotische Strukturbildungen. Ich bezeichne die Strukturen als Semionen; sie entstehen in und sie bedingen Semiosen. In der Tat ist der eben beschriebene Funktionskreis, der Lebewesen mit ihrer Umwelt verbindet und das Zustandekommen aller drei Evolutionen ermöglicht und sie auch miteinander verbindet, der bevorzugte Ort für Semiosen und Semionen. Der zugrundeliegende Semiosebegriff ist die allgemeine Form des Bedingungs-Wirkungs-Zusammenhangs oder der Verursachung in evolutiven Systemen. Es geht aber nicht an, einen Teil der sogenannten Natur mechanistisch zu deuten und dann an irgendeiner Stelle die sogenannten Bedeutungen einzuführen, ohne über deren Herkunft Rechenschaft abzulegen.

     

    Geschöpf und Schöpfer zugleich

    Das Eindrücklichste in der Beschäftigung mit jederlei evolutiven Systemen ist die unglaubliche Kreativität, mit welcher in solchen Systemen Gebilde und Ereignisse generiert werden, von denen sich nicht die kühnsten Träumer von Zukunft je irgendeinen Schimmer von Vorstellung über das Naheliegende hinaus hätten machen können. Das gilt gerade auch für die Kulturevolution, die in extrem kurzen Zeiträumen im Verhältnis noch grössere Vielfalt hervorgebracht hat als die in dieser Hinsicht gewiss nicht "knauserige" Bioevolution. Über die Individualevolutionen können wir uns in dieser Hinsicht heute wohl kein adäquates Bild machen. Während in der schönen Literatur ebenfalls die Vielfalt der Lebensläufe und ihrer Verwicklungen imponiert, hat sich das Instrumentarium der einschlägigen Wissenschaften und Techniken stark darauf konzentriert, alle über den gleichen Leisten zu schlagen und die Kreativität des menschlichen Tuns als ein kleines Nebenthema mit dem kleinen Finger anzutippen. Methodisch ist es wie wenn die Forscher ein Kreativitätsmonopol bezüglich ihrer Modellsituationen beanspruchten und den Untersuchten, in allgemeinpsychologischen Experimenten wie in individualdiagnostischen Untersuchungen, jegliche Innovationsfähigkeit absprechen, ja, sie eigens zu unterbinden versuchen würden. Wie originell die meisten der Untersuchungssituationen für Kreativität tatsächlich sind, darüber will ich mich nicht auslassen.

    Insofern nach reinen Gesetzlichkeitsvorstellungen natürlich auch die Kreativität der Forscher nur als zufällige Ausnahmen von der Regel zu betrachten wären, müsste das nicht verwundern. Aber es widerspricht dennoch den Beobachtungen im wirklichen Leben, wo doch wohl in den Kulturen der Welt eine ungemein grosse Vielfalt zustandegekommen ist, ohne das im mindesten die Verlässlichkeitsaspekte und der Stabilisierungsbedarf vernachlässigt worden wäre. In dem spiraligen Kreislauf des Gemachtwerdens und des Wieder- und Weitermachens von Menschen und ihren Verhältnissen ist gewiss Stabilität ebenso unentbehrlich wie Innovation. Obwohl das Wort von der Schöpfung ebenfalls im Rahmen eines Monopols geltend gemacht worden ist, ist der Herdersche Gedanke vom Geschöpf als Schöpfer seiner selbst ein tiefsinniger Vorschlag, die übliche Unterscheidung zwischen aktivem Schöpfer und passivem Geschöpf aufzugeben und das Zusammenfallen dieser beiden Rollen bzw. ihr Alterieren im evolutiven Prozess geltend zu machen und den Wissenschaften vom Menschen zur Richtlinie zu empfehlen. (Im Gedicht "Selbst", dem das Motto dieser Arbeit entnommen ist, scheint ohne weiteren Kontext die Formel auf den Dialog eines Individuums mit sich selbst zu weisen; für Herder ist jedoch dieser fortwährende Rollenwechsel unter Einbezug der geschaffenen und bildenden Dinge zur Hauptsache in den Gemeinschaften.)

     

    Methodologie

    Wenn Menschen diejenigen Lebewesen sind, welche die Oberfläche dieses Planeten so gründlich ändern können, wie sie dies in den letzten Jahrhunderten getan haben, dann geht es nicht an, sie in einem mechanistischen Paradigma zu studieren, welches vom Studium der Reaktionen von Billardkugeln auf Stösse und von Froschschenkeln auf Stimulation abgeleitet und falsch generalisiert worden ist und im Paradigma des Computers als Modell des Gehirns und der menschlichen Konstitution überhaupt -- angereichert mit etwas Neurophysiologie, Biochemie und Molekularbiologie, aber nicht eigentlich organistisch, sondern immer noch mechanistisch -- seine Vollendung zu finden droht.

    Menschen in psychologischen Untersuchungen müssten aber doch beispielsweise die Möglichkeit haben, zu zeigen, wie sie auf ihre Umwelt nicht nur reagieren, sondern sie auf ihre Weise gestalten. Daraus leiten sich methodologische Grundsätze ab, welche in der modernen Psychologie bisher praktisch keinen Raum gefunden haben. Mit der Fetischierung des Quantitativen wurde in hohem Masse versäumt, den Qualitäten und ihren Rollen und Wandlungen in den Bedingungs-Wirkungs-Zusammenhängen gebührende Aufmerksamkeit zuzuwenden. Man hat gewissermassen auf der Spitze eines Eisbergs gearbeitet und sich um dessen Basis nicht gekümmert. Werden heute alternative Methoden erprobt, so geraten sie fast unweigerlich in den Sog eines Gegensatzes, statt zu einer Grundlage für einen Teil der gegenwärtigen Methoden. Aber zählen und messen kann man doch immer nur, was eine ausgewiesene Qualität ist oder hat. Mit dem Trick Fechners, die Qualität aus den quantitativen Verhältnissen erst gewinnen zu wollen, bewegt man sich unter den zweifelhaften Magiern.

    Inhalt

    [Verursachung in Bedeutungszusammenhängen]

     

    Zeitlichkeit und Wissenschaften von evolutiven Welten

     

    Zeitlichkeit

    Eine der wohl entscheidenden Stellen in der Ablösung der dualistischen Denk- und Fühlweisen dürfte in der Konzeption von Zeit (besser Zeitlichkeit) und den damit verbundenen Wissenschaftszielsetzungen liegen.

    Wir haben heute ein immer noch von platonischen Idealen und newtonischen Rechenmodellen geprägten Zeitbegriff. Aufgeben musste man unter dem Druck der Beobachtungen das Realistische an der Umkehrbarkeit der Zeit, nämlich die aus der Eleganz der Gleichungen so lange in die reale Mechanik und andere Wissenschaften übertragene und dort weiterwirkende Annahme, Vorwärtszeit und Rückwärtszeit seien symmetrisch und austauschbar. Sie wurde aufgrund der Gesetze der Thermodynamik durch die Vorstellung eines gerichteten Zeitpfeils abgelöst. Aufgegeben wurde eigentlich auch der apriorische Charakter der Zeit, die doppelte Annahme der allgemeinen Vorausgegebenheit von Zeit: (A) als vorausexistierendes "Gefäss" von aller Stofflichkeit und Energetik (Newton); (B) als vorausexistierende Form aller Erkenntnis des Physischen wie des Psychischen (Kant). Beides wurde gewiss relativiert. Überwiegend das erstere bestimmt aber nach wie vor die kosmologischen Theorien wie die biologischen, psychologischen und soziologischen Entwicklungsmodelle und unser Alltagsdenken. Unsere Welt- und Menschenmodelle rechnen immer noch mit einer einheitlichen und pervasiven, alles andere bestimmenden Zeit. Sie steht aber mehr und mehr mit Vorstellungen bloss lokaler, systembestimmter Zeiten in Konkurrenz. Immer noch sehr selten und zögernde lassen wir uns auf Beobachtungen und Schlussfolgerungen ein, Zeiten und Räume könnten Ergebnisse anstatt Voraussetzungen evolutiven Geschehens darstellen. Die Wissenschaften haben ihre Beobachtungen von ihren Vorstellungen über die Wirklichkeit nicht ausreichend separiert, dann irreführend generalisiert und diese Nominalien schliesslich für Realien ausgegeben.

     

    Vergangenheit und Zukunft

    Die Untersuchungen der sogenannten Geisteswissenschaften -- weil ohne Nutzen, allenfalls der Erholung dienend und nicht ohne Zustimmung von manchen ihrer Vertreter zu einem Luxus erklärt -- wurden von einer breiten Schicht von geschulten Menschen nicht ernst genommen. Die Sprachwissenschaftler allerdings zeigten überzeugend, dass alle Sprachen der Welt Formen entwickelt haben, mit der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft -- und oft auch mit den Verhältnissen zwischen ihnen -- unterschiedlich umzugehen. Das müsste ja wohl für das Verständnis von Zeitlichkeit wegleitend sein. Leider würde es aber den physikalischen Modellen ihre Eleganz rauben. Die Verwechslung der Theorien der Physik mit der Wirklichkeit ist Allgemeingut geworden und hat sich dann weitherum verhängnivsoll ausgewirkt.

    Ein von solchen Vorurteilen befreites Beobachten von Sachverhalten kann leicht zeigen, dass in einer evolutiven Welt Vergangenheit und Zukunft real völlig unterschiedlichen Charakter haben müssen. Denn die Vergangenheit, genauer das vergangene Geschehen in irgendeinem System, und ja wohl auch im Gesamten der Welt, ist nachträglich nicht zu ändern. Die Geschichte -- die Spuren, das Nacherzählen, Nachmodellieren, Nachsymbolisieren vergangenen Geschehens -- freilich ist weniger unerbittlich, wie Orwell und Stalin oder andere Despoten und wirklichkeitssensible Möglichkeitsphantasten sehr wohl gezeigt haben. Vielmehr ist unter Umständen, wünschbar oder nicht, nur die Geschichte fälschbar; die Vergangenheit jedoch bloss verkennbar.

     

    Notwendigkeit, Zufall und Wirklichkeit

    So hatten die Naturwissenschaftler recht, der tatsächlich vergangenen Vergangenheit Notwendigkeitscharakter zuzuschreiben. Aber was hat sie bloss veranlasst, diesen Charakter in die Zukunft zu extrapolieren und die Gegenwart einfach auszublenden? Es muss pure Phantasie, die Eleganz der Formen, das Wunschdenken in Sachen Sicherheit und dergleichen platonistische Idealisierung mit im Spiel gewesen sein. Nähme es uns nicht allen Möglichkeitssinn? Zerstörte es uns nicht jeden Sinn für Verantwortung und die Verantwortlichkeit selbst? Eine notwendige Zukunft nimmt unerbittlich sogar dem Begriff des Zufalls jeden realen Sinn; macht die angeblich so realistischen Naturwissenschaftler zu perversen Kantianern, welche den Zufall gewissermassen in den Unreinheiten des menschlichen Verstandes zu begründen suchen.

    Aber entspricht es nicht den wirklichen Sachverhalten (ausser in künstlich abgeschlossenen Systemen, die eigens zum Zweck solcher Nachweise gebastelt worden sind), dass wir die Zukunft nicht nur nicht sicher vorhersagen können, sondern dass so mancher, partiell kontingente evolutive Schritt Möglichkeiten eröffnet, die ohne diesen Schritt Unmöglichkeiten geblieben wären? Die Evolution der Evolutionen ist in ihren Spuren beobachtbar und kleine Stückchen weit verfolgbar, sogar machbar. Wir dürfen endlich eine gründlich folgenreiche Wahl nicht länger aufschieben, müssen sie mutig treffen: die Welt entweder als notwendige oder als evolutive aufzufassen. Beides zugleich zu wollen, kostet den Preis eines tiefen Bruchs. Eine Mischung, Notwendigkeit mit einer Prise reinen Zufalls, ist Selbstbetrug und Betrug.

     

    Offene Evolution

    Evolution in einem offenen oder infiniten System heisst doch, dass der jeweilige Stand von Dingen, die aufeinander Wirkungen ausüben können, sich aus den vergangenen Wirkungen in ihrem System ergeben hat; und daraus kommen immer wieder auf diese Weise Geschehnisse und Wirkungen zustande, wie sie nach dem Stand der Dinge niemals unmöglich, sondern möglich und nach den momentanen raumzeitlichen Kontingenzen im System wahrscheinlich sind. Und immer so weiter, und zwar nur in der jeweiligen Gegenwart des Systems, dh dann, wenn einige seiner Bestandteile in Wechselwirkung miteinander treten. Das Ergebnis solcher Wechselwirkung wird unmittelbar zu einem Schritt in der Geschehenskette -- sie gleicht tatsächlich eher einem Netz oder Geflecht aus Verbindungen zwischen Begegnungen --, die wir Vergangenheit nennen. Jede Menge von Gegenwarten in Form von Einwirkungen von Gebilden aufeinander folgen einander und bilden so deren Zeit und konstituieren die Vergangenheit eines Systems von aufeinander einwirkenden Entitäten.

     

    Symbolisierte Zukünfte

    Eine Zukunft jedoch gibt es nicht wie die Vergangenheit. Die Zukunft ist "nur" symbolisiert eine Zukunft; wirklich, dh als eine als solche wirkende, gibt es sie nicht. Sehr wohl aber können Darstellungen von mutmasslich Künftigem wirken; denn Darstellungen, Vorstellungen, allgemein: Symbolisierungen, nicht aber das Künftige selbst können Teile der Gegenwarten bilden und die Konstitution der Vergangenheit mitbestimmen . Auch fast beliebig "manipulierbar" ist die Zukunft; was für die Vergangenheit Fälschung oder Verkennung ist, bedeutet für die Zukunft Irrtum oder Täuschung.

    Nahezu immer ist die Zukunft mehrere, viele Zukünfte. Sie ist ein verzweigender Baum von möglichen Zukünften; in jeder Gegenwart brechen ihr alle Äste ausser einem ab. Denn das "Künftige" kann in jeder der Gegenwarten eines betrachteten Systems durch die beteiligten Systemteile wirklich bestimmt werden; dadurch freilich wird es schon zur Vergangenheit. Das bedeutet, dass, was wir Zukunft nennen, nicht in gleicher Weise existieren kann wie das ein für allemal fixierte vergangene Geschehen oder das in aller relativen Bestimmtheit relative offene Gegenwartsgeschehen. Die Zukunft existiert vielmehr nur als ein Satz von vormodellierten, voraussymbolisierten, möglichen und mehr oder weniger wahrscheinlichen Gängen der Dinge.

    Noch einmal anders gesagt: die Zukunft hat viele, aber nicht unendlich viele mögliche, keine unmöglichen, einige wahrscheinliche, viele unwahrscheinliche, auch einige erwünschte und viele unerwünschte Verläufe. Erwünschte und unerwünschte Varianten sind natürlich nicht für alle Systemteile dieselben. Das lässt sich in Symbolisierungen eines Spektrums von möglichen und umöglichen, vielleicht auch wahrscheinlichen und unwahrscheinlichen Zukünften für jede Gegenwart ausmalen. Aber immer nur eine der wahrscheinlichen Zukünfte wird durch die Ereignisse der Gegenwart zum nächsten Schrittlein einer einzigen und unveränderlichen Vergangenheit des betreffenden Systems.

    Nur eine, und eine nicht nur wahrscheinlich, sondern zwingend zur Vergangenheitskette gefügte Zukunft gibt es nur in abgeschlossenen Systemen. Diese können, aber müssen nicht so beschaffen sein, dass die Gegenwartsbedingungen den jeweils nächsten Schritt eindeutig und notwendig bestimmen. Dafür, und nur dafür, gelten die Differentialgleichungen der sogenannten Naturwissenschaftler. In der Natur kommen abgeschlossene Systeme kaum je vor; so weit wir sie fassen können weder im Kosmos noch in der mineralischen Welt. In einer streng und eng abgeschlossenen "Lebens"welt erlischt das Leben. Abgeschlossene, in aller Regel aber nur annnähernd abgeschlossene, Systeme gibt es auch in den Kulturen nur sehr selten. Meistens werden solche Systeme mit besonderen Absichten hergestellt, am ehesten in wissenschaftlichen Anordnungen. Und sogar diese haben in einem Experiment nur einen Sinn, wenn sie dem Forscher zeigen können welche der mehreren möglichen Zukunftswege in gewissen Systemgegenwarten zu dem einen Vergangenheitsstrom gebildet werden. Der Aufwand, auch in eigens hergestellten Situationen die Kontingenzen auszuschalten oder, wenn unmöglich oder unverantwortlich, statistisch auszusondern, ist nicht selten beträchtlich. Die sogenannten Naturwissenschaftler müssten also eigentlich Wissenschaftskultur-Wissenschaftler heissen, sofern sie nicht Naturgeschichte betreiben.

     

    Gegenwartsreihen

    Der Möglichkeitssinn der Menschen schafft es in experimentellen und in fast allen Realsituationen, sich die mutmassliche Linie der Vergangenheit, die Bedingungen einer kleinen Reihe von einander folgenden Gegenwarten und ein Spektrum, einen Fächer, einen verzweigenden Baum einer Reihe möglicher und mutmasslicher Zukünfte zu symbolisieren. Und ihr Wirklichkeitssinn erlaubt ihnen, in den jeweiligen Gegenwarten sich für die eine oder die andere der Möglichkeiten einzusetzen oder gegen die eine oder andere etwas vorzukehren. Dies hoffentlich im Sinne einer Humanität von der Art wie sie Herder evoziert hat. Daraus entspringt, wie eingangs ausgeführt, für alle Menschen und für die menschlichen Kollektive, die sich dem Möglichkeitssinn nicht entziehen können, ein Stück Verantwortung für den Lauf der Welt. Und ich bin versucht, entgegen meiner aufgeklärt-freiheitlichen Haltung beizufügen: und keine Menschengruppen können und sollten sich Mitglieder ohne Möglichkeitssinn leisten. Und wenn die Welt global vernetzt ist, können die Menschen nicht anders als auch dafür sorgen, dass an keiner Stelle der Welt Menschen ohne Möglichkeits- und Verantwortungssinn Wirkungen entfalten können, welche über lokal begrenzte und behebbare Systemstörungen hinausreichen.

     

    Wissenschafts-Erwartungen

    Wenn diese in der Formulierung sehr abstrakte, aber sehr konkrete Sachverhalte meinende Beschreibung der Zeitlichkeit der Subsysteme der Welt nicht grundverkehrt ist, dann folgen aus ihr wohl gänzlich andere Erwartungen bezüglich dessen was wir von wissenschaftlichen Unternehmungen zur Erforschung des Geschehens in evolutiven Systemen gewohnt sind zu erwarten. Egal ob wir vom "Verhalten" von evolutiven Ideengebilden, von Menschen in ihrer Welt oder von Teilen oder vom Gesamten kultureller Systeme mit ihrer biotischen und individuellen, dinglichen und ökonomischen, physischen oder symbolischen Komponenten sprechen: Extrapolationsempfehlungen aufgrund der Vergangenheit, ob in Gesetzes- oder narrativer Form dürften nur ausnahmsweise und unter sorgfältig gesicherten Rahmenbedingungen sinnvoll sein. Ich skizziere mit wenigen Worten, wie ich mir Vorgehen und Ergebnisse psychologischer oder sozialwissenschaftlicher Forschung vorstellen kann.

     

    Wissenschaftspraxis

    Ich möchte in praktisch jedem Fall sorgfältige Beschreibungen einer Strecke der Entwicklung von realen ökologischen Systemen bekommen, zusammen mit Angaben über die Umstände der Generation dieser Beschreibungen. Die Beschreibungen müssten mir exemplarisch so realitätsnah wie möglich, in breiterer Auswahl und in nachvollziehbaren Verfahren auf einen überschaubaren Umfang transformiert werden derart, dass ich verstehen kann, warum die Autoren gerade diese ihre Deutung -- warum nicht mehr als eine, wenn es denn wahrscheinlich verschiedene Deutungen gibt? -- der Geschehnisse für mitteilbare mögliche und bevorzugte halten. Aber es dürfte mir nicht die Möglichkeit genommen werden, das Material auch nach anderen Gesichtspunkten zu verwerten.

    Generell könnten vielleicht die meisten der Berichte einer Form folgen, welche eine Strecke vergangener Geschehnisse des interessierenden Sachverhalts unter Aufweis der Rolle der fokussierten dinglichen, individuellen, sozialen und kulturellen Systemteile dokumentiert. Das könnte dann auf die Darstellung der Interaktionspotentiale dieser real aufgewiesenen und sorgfältig auf Begriffe gebrachten Entitäten in einer Reihe von möglichen Gegenwarten hinauslaufen, besser noch auf die Nach- und Vorzeichnung einer Region von Verzweigungen um die Vergangenheitslinie herum und im Möglichkeitenbaum der wahrscheinlichen Zukünfte. Manchmal dürfte der Aufweis befürchteter, aber unwahrscheinlicher Zukünfte und ihrer Bedingungen angezeigt sein. Es wäre mir lieber, die Wissenschaftler würden nach Möglichkeit reale Systeme zur Darstellung bringen -- Unkenntlichmachung der realen Beteiligten selbstverständlich vorausgesetzt --, als dass sie ihre eigenen Modellsituationen konstruieren. Wenn sie in vorausgehenden Untersuchungen sehr spezifische Teil-Fragen gewonnen haben, werde ich gerne auch ein entsprechendes Modellexperiment zu schätzen wissen.

    Im Hinblick auf umsichtigen Gebrauch der Ergebnisse der Forschung ist generell erwünscht, die Ergebnisse sozial- und personwissenschaftlicher Untersuchungen in Form eines Stücks von dem Möglichkeitenbaum mitzuteilen, wie ihn die Forscher nach ihren systematischen Erfahrungssammlungen und -verarbeitungen sehen und wie sich ihr Möglichkeitenbaum von den Sichten der Dinge ohne diese Forschung unterscheiden würde. Denn weil ich und andere nicht für alle uns interessierenden Systemtypen mit der gleichen Gründlichkeit stellvertretende Untersuchungen machen können, wollen wir unser Verständnis ja auf die Einsichten anderer abstützen, sofern wir uns ihrer Umsicht und Verlässlichkeit vergewissern können. Die Forscher sollten bei ihren Kommunikationen an unsere Situation angesichts von Entscheidungszwängen in Optionenlagen denken. Sie müssten uns im Regelfall wohl mehrere mögliche und wahrscheinliche Zukünfte ausmalen und uns zeigen, welche Bedingungen ihrer Meinung nach, und warum, für das Zustandekommen oder das Vermeiden dieser oder jener möglichen Zukunft sprechen. Je mehr sie sich auf eine einzige Sicht der Dinge beschränken würden, desto misstrauischer würden sie mich in aller Regel ihnen und ihrer Arbeit gegenüber wohl machen. Verfolgen sie eine Absicht oder sind sie naiv?, müsste ich mich in solchen Fällen wohl fragen.

    Ich hoffe, dass diese kurze Skizze ausreicht, eine Ahnung davon zu bilden, dass fast jeder Nutzer von sozialwissenschaftlicher Forschung mehr hätte von solcherart angelegten Untersuchungen und Berichten als von den üblichen aus Stichproben und arbiträren Variablen gestützten Behauptungen: so und so ist es und so und so wird es weiter gehen. Denn die Nutzer wissen in aller Regel, dass in der für sie relevanten Situation einige oder alle Voraussetzungen ganz anders sind als in den untersuchten Bedingungen. Forschungsnutzer müssen die Befunde und Empfehlungen sowieso in ihre eigene Aufgabensituation übertragen. Mit Untersuchungsberichten des skizzierten Formats wären sie um Einiges näher an ihre eigene Wirklichkeit herangeführt.

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    4. Zur Aufgabe der Universität

    Lassen Sie mich noch einige weitere Gedanken zur Universität anfügen. Denn das Gesagte steht in einem Spannungsverhältnis zu der Art und Weise, wie wir das wissenschaftliche Tun organisieren.

    Neben den gefühlsbasierten religiösen, den diskursiven politischen und den intuitiven künstlerischen gehört der reflektierenden oder begrifflichen Strategie, mit der menschlichen Lage zurechtzukommen, zweifellos ein bedeutender Platz. Historisch lässt sich der Wandel dieser Strategien an der Bildung der vier Fakultäten nachvollziehen: die alte Universität leistete die drei wichtigsten Berufsvorbereitungen für eine begrifflich operierenden Praxis: für das ewige Leben der Seele (Theologie), für das Leben selbst (Medizin) und für das Zusammenleben (Jurisprudenz); diese "höheren" Fakultäten sollten ein Fundament in allgemeinen metaphysischen, methodologischen und substantiellen Erwägungen und Erkenntnissen bekommen (Philosophie). Die allmähliche Differenzierung der Fakultäten in Disziplinen und Subdisziplinen lässt sich verstehen. Weniger freilich deren Verselbständigung und Isolierung gegeneinander; und noch weniger die zunehmende Vernachlässigung des Interesses der Wissenschaften am ganzen Menschen. Die beiden humanistischen Reformen waren Einflüssen von aussen zu verdanken, aber versandeten in ihrem Hauptanliegen in der Universität eigentlich beidemal recht bald oder wurden und haben sich selbst ghettoartig eingehagt. Was schlicht jeder Rationalität entbehrt -- wir sind im Reich des klaren, eindeutigen, umsichtigen Vorgehens! --, ist die Behandlung, welche das Menschliche in dieser Unternehmung zur wissenschaftlichen Bewältigung unseres Daseins und in dieser Pflanzschule oder Reproduktionsanstalt ihres Personals und ihrer Ausgesandten erfährt.

     

    Zerstückelung des Menschen

    Alle behandeln je ein Stückchen dieses Menschen und seines Umfeldes, um welches sich schliesslich alles dreht. Die Mediziner und Biologen den Leib, die Neurologen, Philosophen, Psychologen, Pädagogen den Inhalt des Kopfs, die Geisteswissenschaftler seine Produkte, die Juristen den Zusammenstoss und das Auseinanderhalten der Köpfe, die Ökonomen die Substitution der Köpfe und ihrer Produkte durch das Geld, die Soziologen ihre Klassifikation, die Physiker und Chemiker die Unterlage und die Kräfte die auf den Leib und die Produkte wirken können, und zusammen mit weiteren Disziplinen begründen sie jene unendlichen Verstärkungen der Augen und Ohren, der Hände und Füsse, welche die Welt bis hin zur Rückseite des Mondes verändern, aber doch im ganzen recht kopflos erscheinen. Wo in der Universität widmet man sich der menschliche Lage insgesamt? Manchmal komme ich mir vor wie im Anatomiesaal; dort allerdings zerstückelt man Leichen.

    Aus Gründen, die merkwürdigerweise bisher nicht ausreichend reflektiert worden sind, ist die Rolle der Menschen in der Erzeugung und im Gebrauch der kulturellen Produkte zwar unbestritten; aber diese Rolle ist in keiner Weise wissenschaftlich geklärt. Menschen sind in jeder Hinsicht das Eigentliche von allem Kulturellen. Sie müssten eine strategische Schlüssel-Position in den Kulturwissenschaften einnehmen. Von Philosophie als Anthropologie, von Psychologie, von Ethnologie, von Erziehungswissenschaften (auch von Soziologie, Ökonomie, Politikwissenschaft) sollte daher eine entsprechende Ausrichtung eingefordert werden.

     

    Zentrierung

    Diese Forderung gilt gleichermassen konzeptuelle wie empirisch. Die Wissenschaftsgeschichte zeigt überzeugend, dass Verständnisbemühungen in dieser Hinsicht, welche diese Aufgabe entweder nur gedanklich oder nur empiristisch angehen, überwiegend grosses Unheil angerichtet haben und anrichten. Deshalb muss grösste Sorgfalt auf eine gültige Verbindung konzeptueller und erfahrungsorientierter Forschung und Lehre gerichtet werden.

    Die Universität ist zu einem Rad geworden, das hektisch dreht, und keiner weiss woran. Denn bei einem Rad ist die Nabe, obwohl leer, das Herzstück seines Funktionierens. In der Darstellung, in der Theorie des Rades gehört sie ins Zentrum. Fehlt sie, so ist das Rad nicht verstanden. Wenn Universität beansprucht, die Verantwortung für die Zusammenschau, die Theorie oder das Ensemble der Theorien des Gesamten der menschlichen Lage zu tragen -- was soll sie denn anderes? -- so muss ich feststellen, dass sie die Nabe oder den Sinn des Ganzen einfach übersehen, vergessen, ausgeblendet hat, auf Nachfrage auch praktisch unter ihrer Hektik in der Beschäftigung mit Einzelheiten verleugnet. Aber diese Nabe des Geschehens auf diesem Planeten, genannt "Mensch" ist überaus greifbar.

    Einer der trefflichen Gedanken von Friedrich Dürrenmatt ist hier am Platz, aus den Mitmachern (1973). Bill, ein Biologie, zur Soziologie hinübergewechselt, ein Wissenschaftler, nicht ein Moralist, erklärt: "Dem Menschen hilft das Studium der Natur erst wieder weiter, wenn er gelernt hat, mit seinesgleichen zusammenzuleben." (Die Mitmacher. Zürich, Arche, 1980:45)

    Inhalt

     

    Danksagung

    Es ist mir ein Anliegen, diese Vorlesung mit dem Ausdruck meiner tiefen Dankbarkeit zu schliessen. So viele Menschen haben mir in meinem universitären Amt und darum herum so viel an Anregungen, Ideen, Spiegelungen, Kontrasten, Verstärkungen, Warnungen, Unterstützungen, Einschränkungen und viel anderes mehr gegeben, dass ich nur hoffen kann, nicht nur diesen selbst auch etwas zurück-, sondern besonders auch vielen anderen etwas weitergegeben zu haben und weiterhin geben zu können. Von all den vielen will ich nur meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eigens erwähnen; Sie werden demnächst verstehen weshalb.

    Ich habe immer versucht, Universität als wechselseitigen Austausch, als Gelegenheit für den Dialog zwischen den besten begrifflich Orientierten einer älteren und einer jüngeren Generation zu verstehen, auch wenn mich die fortschreitende Verfestigung der Studien- und Prüfungsverhältnisse zunehmend daran gehindert hat. Sollte ich jemandem etwas Zustehendes genommen oder vorenthalten haben, so bitte ich dafür um Verzeihung.

    Dass ich zum Thema dieser Abschiedsvorlesung entsprechend der neuen dritten Zwecksetzung im neuen Universitätsgesetz (Art. 2 Abs. 3) eine "Reflexion der Voraussetzungen und Wirkungen wissenschaftlicher Tätigkeit", der Voraussetzungen und Wirkungen meiner wissenschaftlichen Tätigkeit gewählt habe, hat seinen Grund auch in dem besonderen Privileg, dass ich als ein Hiesiger eine Laufbahn habe gehen können, welche mich nur minimal zur kompetitiven Anpassung an Glaubensbekenntnisse zeitgenössischer Wissenschaftspraxis genötigt hat. Vielleicht sollten wir Älteren wirklich nicht von allen begabten, klugen und einsatzfreudigen jungen Menschen zuerst eine Anpassungsleistung verlangen sondern viel eher eine Haltung des Zweifels an unseren Fixierungen und Besessenheiten. Wie kostbar Sie ein solches Privileg einschätzen und ihm im Sinne des im zitierten Zweckartikel Gesetz gewordenen Auftrags einen Platz im Gesamt der Universität einräumen wollen, muss ich den weiterhin dafür Verantwortlichen unter Ihnen überlassen.

    Ich darf Sie jetzt alle herzlich zum zweiten Teil des Anlasses hoch oben im Kuppelsaal der Universität einladen. Offenbar wollen meine Mitarbeiter Ihnen und mir dort noch eine Überraschung bereiten.

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