Alfred Lang | ||
Newspaper Column 1993 | ||
Zu Tode reformieren? | 1993.26 | |
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Bund-Kolumne. Der Bund (Bern) Nr.182 vom 7.8.93, S.12 Abdruck in "Berner Schule" BS / EB 18 vom 3. September 1993, S. 395f. | © 1998 by Alfred Lang | |
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Haben Sie das Ungeheure schon begriffen? Dass die bernischen Behörden im Begriffe sind, drei der kostbarsten kantonalen Institutionen um ihren unersetzlichen Sinn zu bringen? Fast heimlich wurden diese gewachsenen und langezeit kräftigen Originale krank verwaltet und sollen nun durch Allerweltskopien ersetzt werden. Die Medien schweigen; die direkt Betroffenen scheinen bereits zu resignieren.
Die Rede ist vom Lehrerseminar, vom Gymnasium und von der Universität. Alle drei Einrichtungen bedürfen, es ist wahr, zusammen mit der Berufsbildung, dringend einer Erneuerung. Ich zweifle aber, dass man in die richtige Richtung geht. Denn diese drei Bildungsstätten haben einen doppelten Sinn. Es ist zu fürchten, dass von den Reformern nur der eine beachtet, der andere jedoch zu Tode reformiert wird.
Im Unterschied zu den anderen Ausbildungsstätten muss die Allgemeinheit die Lehrerbildung und die Wissenschaften gegen Interessen aller Art verteidigen und sie sogar vor einem übereifrigen Staat schützen. Jene können sich, wenn sie etwas taugen, selber erhalten. Hier werden jedoch nicht nur nützliche Fachleute ausgerüstet, sondern Persönlichkeiten sollen sich bilden, die dem Zusammenleben vor allem langfristig wertvoll sind. Neben ihrem speziellen Wissen und Können sollen sie etwas Unverzichtbares entwickeln. Es hat damit zu tun, dass sie nicht nur gut tun, was immer sie tun, sondern davon auch ein Stück weit Distanz nehmen können. Die Frage ist, wie man nicht nur dekretiert, sondern erreicht, dass sie ihr Tun in Zusammenhängen bewerten und zur erarbeiteten Bewertung stehen.
Das bernische Lehrerseminar hat bis nach der Mitte dieses Jahrhunderts unter Kennern hohes Ansehen genossen, weil es grossartige, eigenständige Lehrerpersönlichkeiten hervorgebracht hat. Seit einiger Zeit glaubt man jedoch, Lehren sei nicht eine Kunst und ein Ethos, sondern eine Technik wie jede andere. Lehrer seien also machbar. Gemachte Lehrer sind weit leichter zu manipulieren als gewordene. Und wie man sie "gemacht" hat, werden sie die ihnen anvertrauten Kinder nach den ihnen aufgetragenen Modellen "nachzumachen" versuchen. Wie man das macht? Die geplante "Akademisierung" verlegt die Lehrerausbildung auf Fachhochschulen, die vom Kindergärtner bis zur Hochschulprofessorin in arbeitsteiligen Unterrichts- und Übungsprogrammen alle Arten von "didaktisch-pädagogischen Ingenieuren" herstellen. Hier wird Schule, das ist das Bereitstellen von Entwicklungsbedingungen, mit Fabrik, das ist das geplante Herstellen von spezifizierbaren Produkten, verwechselt.
Das Gymnasium ist die Schule derjenigen, welche lernen können und wollen, die Welt auf den Begriff zu bringen. Abstraktes oder symbolisches oder wissenschaftliches Denken ist, ähnlich wie künstlerisches Schaffen, eine sehr spezielle und nicht jedermanns Sache. Es setzt entsprechende Begabung und intensive, früh einsetzende und langjährige Übung voraus. Leider haben sich Bewertungen herausgebildet, welche das Gymnasium für die Schule der Intelligenteren hält, damit völlig missversteht und so zu Unrecht zu einer erstrebenswerten Bildung für (fast) alle macht. Wer möchte denn schon nicht gern intelligent sein? Aber man sollte endlich aufhören wissenschaftliche Abstraktion mit allgemeiner Intelligenz zu verwechseln; sie ist bloss eine von verschiedenen Formen von Klugheit. Übrigens eine bösartige, wenn sie verwässert wird. Nicht weil es besser ist als andere, sondern weil es Spezialisten begrifflichen Denkens heranbilden soll, ist das Gymnasium eine wichtige Schule. Zu einem Instrument des sozialen Aufstiegs umfunktioniert und für alle Ehrgeizigen geöffnet, zerreisst sich diese Schule im Dilemma, entweder tausende von Kindern mit Aufgaben zu quälen, die ihnen nicht liegen, oder ihren Sinn gleich selber zu zerstören.
Gymnasium und Universität sind siamesische Zwillinge; sie wurden erst im 19. Jh. vom überwiegenden Nebeneinander zum heutigen Nacheinander reorganisiert. Das Gymnasium ist sinnlos, wenn es, wie die amerikanische High School, auf alles und nichts vorbereitet und die Universität ebenfalls zur Verwässerung zwingt. Die Universität kann das Verpasste nicht nachholen, ganz abgesehen davon, dass das zweite Lebensjahrzehnt zum Herausbilden der Grundkompetenz das günstigste ist. Zusammen bilden die beiden eine einzigartige Mischung von nützlicher Ausbildungsstätte und freier "Stabsstelle" der Selbstorganisation der Gesellschaft. Aber nach den vorliegenden Reformplänen soll die Beliebigkeit des Gymnasiums weiter gefördert und die Universität auf ihre Nützlichkeitsfunktion reduziert werden.
Das Hauptkriterium scheint darin zu liegen, diese Einrichtungen leistungseffizienter zu machen. Und dies für Lebensformen der Moderne, deren Bankrott deutlich genug bevorsteht. Die verhängnisvolle Spaltung in zwei "Kulturen" schreitet voran. Fachleute aller Art und mit hohem Können arbeiten wie verrückt für den Fortschritt und an der Milderung von dessen bösen Folgen. Aber sie wissen oft nicht, was sie tun; und sie haben keine Zeit, gemeinsam über seinen Sinn nachzudenken. Weder sachliche noch moralische Argumente können sie davon abhalten, solange ihnen kein kräftiger Gegenpol das abverlangt. Genau dafür zu sorgen, ist aber die Aufgabe des Staates im Dienste der Allgemeinheit. Nicht zuletzt als Raum für gemeinsame Sinnbildung von Erfahrenen und Werdenden sind diese drei Bildungsstätten herausgebildet worden.
Aber die Reformer scheinen sich an längst gescheiterten Modellen zu orientieren. Vielleicht ist es nur fahrlässige Tötung, was sie mit unseren Bildungsstätten vorhaben. Oder wissen die Planer der Regierung und die Vertreter des Volkes, die sie kontrollieren sollen, was sie tun?