Alfred Lang | ||
Conference Presentation 1987 | ||
Wahrnehmung und Wandlungen des Zwischenraums --Psychologisches zum urbanen Platz | 1987.04 | |
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Vortrag beim Schweizerischen Werkbund, Sektion Bern, 25.2.87Vortragsvorlage 1987, Überarbeitung Oktober 1990, zur weiteren Bearbeitung vorgesehen | © 1998 by Alfred Lang | |
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Meine Damen und Herren!
Wir wollen heute abend über etwas ausserordentlich Schwieriges nachdenken, etwas, das es, wie sein Name sagt, gar nicht gibt, nämlich den Zwischenraum. Genauer den urbanen Platz, also etwas, was sich in doppelter Weise der Definition entzieht; denn so wenig wie schon jemand in gültiger Weise hat die "Stadt" definieren können, so wenig hat dies jemand für den "Platz" getan. Aber diese zweite Schwierigkeit scheint uns weniger bewusst zu sein, weil durchaus jeder sein Bild des Platzes, das was der Platz wirklich ist, in sich trägt und hegt.
Ein Bild sagt mehr als tausend Worte; und zwei Bilder sagen natürlich tausend im Quadrat, also mehr als eine Million Worte - auch wenn ich kein Baufachman oder Kunsthistoriker bin, möchte ich mich an den guten Sitten in diesem Milieu orientieren. Also einige Bilder zeigen, die ich zunächst - gewissermassen als Arbeitsintuition - mit dem Ausdruck "urbaner Platz" in Verbindung bringe.
Über die Auswahl der Bilder, mit denen ich "Platz" umrissen habe, könnten wir uns streiten; müssten immer neue Bilder beifügen. Wie habe ich sie denn ausgewählt? Warum gerade die? Kann ich mit Bildern "definieren", also abgrenzen: Plätze von Nichtplätzen?
Ich habe Fotos von Plätzen gewählt: kann man denn Plätze überhaupt fotografieren? Kann man nicht nur mit Fotos erinnern an die Plätze, die man schon erfahren hat? Oder vielleicht an ähnliche Plätze. An wirkliche Plätze, oder bloss an Platzvorstellungen? Ist also mindestes bei der Auswahl der Bilder doch schon ein Platz-Begriff bestimmend? Was zeigen die Bilder eigentlich von den Plätzen? Es gibt kaum etwas, das schwerer zu fotografieren ist als Plätze. Ist es nicht so, dass dann, wenn man Plätze abbildet, sie nicht mehr Plätze sind?
Ich will Ihnen ein ganz anderes Beispiel zeigen, dass Sie sicher schon kennen, von dem ich aber sicher sein möchte, dass Sie es so verstehen, wie ich es meine.
Ein Gesicht im Profil, ein Mensch ist abgebildet.
[Rubin Kippfigur, erste und dann zweite Hälfte, zuerst entfernt, dann näher]
Dazu ein zweiter, so dass ein Zwischenraum entsteht zwischen ihnen. Sie werden mir zustimmen, dass dies eine fundamental menschliche Situation der Beziehung darstellt. Gewissermassen der Prototyp menschlicher Begegnung.
Die beiden können einander etwas näherkommen... Und plötzlich ist der Zwischenraum weg, verwandelt sich im Sehen unwillkürlich in den bekannten Becher! Vor lauter Sehen können wir ihn nicht mehr sehen.
[Loderer, Fabriano: Umkehrung des Zwischenraum in Körper]
Wie ist das mit den Plätzen in der Stadt? Meine These dieses Abends: den urbanen Plätzen geht es wie dem Zwischenraum zwischen zwei Menschen in der bekannten Kippfigur - unversehens wird er, der eigentlich essentiell war für die Beziehung oder Begegnung, zu etwas ganz anderem: in der RUBIN-Figur zum Becher, in den konkreten Plätzen zu ... nun das wollen wir untersuchen.
Ich argumentiere ein bisschen dialektisch: ich habe Bilder benutzt, um ihnen die Bilder zu vermiesen. Als Wahrnehmungspsychologe kann ich mit der Rubin-Figur zeigen, dass (unter gewissen Voraussetzungen) ein Sehprozess sich selber hemmt oder zerstört. Das ist nichts Magisches, sondern einfach eine Eigenschaft menschlichen Wahrnehmens. Wir können eigentlich den Zwischenraum gar nicht sehen. Sobald wir ihn sehen verliert er seine Zwischenraumhaftigkeit, wandelt sich vom Grund zur Figur und ändert dabei eine Menge seiner Eigenschaften.
Die Rubin-Figur ist also ein Paradigma zum Betrachten von Plätzen. Meinen Vortrag wollte ich zuerst betiteln: "Von der Entdeckung und der Ermordung des Zwischenraums, eine Art Kriminal-Geschichte", bescheidener: "Vom Werden und Vergehen des Platzes". Aber ich kann in der verfügbaren Zeit keine Kulturgeschichte des Platzes liefern, das wäre auch nicht mein Fach. Hingegen kann ich als Psychologe, der sich ja mit lauter Dingen beschäftigt, die man nicht sehen und nicht greifen kann, zu zeigen versuchen, wie man so etwas Flüchtiges wie den urbanen Zwischenraum auf den Begriff bringen könnte.
Geschichtliches, nur in Fragmenten beigezogen, mischt sich dabei mit Typologischem, Wahrnehmungspsychologisches mit Sozialpsychologischem. Von der Konzeption des urbanen Platzes, die so entsteht, erwarte ich, dass sie umgreifender ist, als die innerhalb der Architektur oder der Kunstgeschichte übliche. Aber ich möchte die Psychologie nicht in einem Gegensatz zu diesen Fächern sehen; sie ist nur geeignet, etwas andere Akzente zu setzen, die vielleicht gelegentlich etwas übersehen werden.
Das heisst, ich versuche eine Formulierung über Plätze, die nicht von den konkreten Plätzen ausgeht, obwohl sie darauf bezugnimmt, sondern von den Menschen, die Plätze erfunden und gebaut und benutzt haben. Was ein Platz ist, kann nur verstanden werden, wenn man menschliches Handlen und räumliche Strukturen miteinander, in ihrem Zusammenspiel, untersucht.
Als Voraussetzung für die weiteren Überlegungen muss ich zunächst erklären, warum sich ein Psychologe für das Thema interessiert und sogar glaubt, etwas beitragen zu können.
Es geht um das Verhältnis des Menschen zur physischen, sozialen und kulturellen Welt, unserer sogenannten Umwelt. Die Psychologie, die sich mit diesem Bezug befasst, heisst denn auch Umweltpsychologie, wenn sie sich praktische Probleme vornimmt, oder Ökopsychologie, wenn sie Grundlagenfragen angeht. Das Universum der Wissenschaften ist durch eine fortschreitende, gewiss unentbehrliche, aber äusserst problematische Kompartimentalisierung gekennzeichnet. Die Welt in Abschnitte einzuteilen und sich daraus jeweils gerade nur einen vorzunehmen, ist in der Tat eine erfolgreiche Weltbewältigungsstrategie gewesen, genau so lange, bis die ausgeschlossenen Weltteile heftig zurückschlagen, wie das heute der Fall ist.
Die Psychologie hat sich das Erleben und Verhalten der Menschen herausgeschnitten. Dabei hat sie weitgehend übersehen, dass ein Mensch kein Mensch ist ohne seine ihm zugehörige Umwelt: die physische, dh die Natur und die menschgestalteten Räume und Dinge; die soziale, dh die andern Menschen, und die kulturelle, dh die gesamte Menge an Bedeutungen, welche diese Umwelt ausmacht. Auch diese drei Ebenen lassen sich nicht eigentlich separieren: ein kulturelles Objekt wie ein urbaner Platz ist immer zugleich physisch, von Menschen gemacht und getragen, und damit auch symbolisch, eine Sache mit Sinn.
Warum Menschen ihre Umwelt gestalten, warum sie bauen, ist nun wohl eines unserer grossen Daseins-Rätsel. Rasche funktionelle Antworten - Schutz vor Wetter, Horten von Vorräten u.dgl. - mögen irgendwo zutreffen, verstellen aber vor allem den Blick auf wesentlichere Gründe. Viele Tierarten haben Instinkte zum Bauen herausgebildet; wir verstehen sie zumeist als Partialfunktionen des Fortpflanzungsverhaltens; auch das ist gewiss nicht falsch, aber doch eine Halbwahrheit.
Mein Verständnisversuch des Bauens und Gestaltens - unter der Leitidee, das Gebaute und den Menschen als eine Ganzheit zu betrachten -- richtet sich darauf, dass vom Gebauten Rückwirkungen auf den Menschen ausgehen, auf den Bauer selbst wie auf andere, vor allem auch spätere. Das heisst, das Gestaltete, Gebaute hat funktionell die gleichen Eigenschaften wie das Gedächtnis: von den Vorgängen am Menschen schlägt sich etwas in einer Spur nieder, diese Information überdauert eine gewisse Zeit und sie repräsentiert etwas von den Vorgängen in einem umfassenderen Zusammenhang derart, dass es dann auf eine zugleich alte und neue Weise wieder wirksam werden kann.
Eine gleiche Speicherung stellt auch das Artengedächtnis dar: die im Gensatz jedes Individuums enthaltene Information repräsentiert die akkumulierte und integrierte Geschichte der Art, und diese wird auf dem Umweg über Form und Verhalten des Organismus so wirksam, dass Kontinuität, Identität, Stabilität, kurz Autonomie dieses lebenden Gebildes gewährleistet sind. Das Genom summiert ja auch die Geschichte der Auseinandersetzung der überlebenden Individuen dieser Art mit einem bestimmten Milieu, und so enthält es auch Vorhersagen darüber, wie die Umwelt voraussichtlich sein wird und wie man sie am besten bewältigen kann. In den Instinkten sind bestimmte Wahrnehmungen über Weltzustände mit bestimmten, idR erfolgreichen Handlungsverläufen gekoppelt, die sog. Schlüsselreize und Erbkoordinationen; sie sind bei Tier und Mensch ausserordentlich effizient.
Entsprechend ist das Gedächtnis jedes Individuums die akkumulierte und integrierte Erfahrung über den bisherigen Lebenslauf. Es sichert die Identität des Individuums mit sich selbst, es sorgt für Kontinuität, für Stabilität; aber auch für Flexibilität; denn das Gedächtnis ermöglicht ja den Vergleich zwischen früheren und jetzigen Situationen, die Feststellung von Unterschieden und das Eingehen auf sie. Das ontogenetische Gedächtnis lockert somit die recht starre Verbindung zwischen Welt und Verhalten. Und je umfangreicher, differenzierter das Gedächtnis im Lauf der Evolution des Menschen wird (Vergrösserung des Grosshirns), desto mehr wird instinktives Verhalten reduziert, die Freiheit des Handelns vergrössert.
Gleichzeitig sinkt aber auch die Verlässlichkeit des Verhaltens aus dem Gesichtspunkt des Andern. Auf die Instinkte, die das Zusammenleben (bei den Tieren so unglaublich effizient) regeln, ist nur noch teilweise Verlass. Nicht dass der Mensch nicht noch viele Instinkte hätte; aber das Leben bringt zu viele verschiedene und wenig geregelte Situationenen, die so nicht bewältigt werden können. Verlass auf den andern ist jedoch unentbehrlich.
Unter diesen Umständen, das ist meine These, "erfindet" der Mensch das Bauen und das Gestalten als eine weitere Form von Gedächtnis: Gebautes, strukturierter Raum, und Gestaltetes, Objekte, hat ausgezeichnete zeitliche Eigenschaften: es dauert mehrheitlich länger als der Mensch und ist stabiler; dennoch überdauert es nicht ewig, nimmt der neugewonnenen Kultur also nicht die Entwicklungsfähigkeit. Es ist dauernd wirksam, solange es da ist, und für alle ringsum; es ist also ein überindividuelles, kollektives oder soziales Gedächtnis; und es hat dynamischen Charakter, dh es ist nicht nur gespeichertes Wissen, sondern aktive Anweisung, Steuerung dessen, der sich ihm aussetzt; und es ist in praktisch jeder Kultur so sehr überall, dass man sich ihm eigentlich gar nicht entziehen kann.
Gebautes ist also eine überindividuelle Erkenntnis- und Handlungsstruktur, wie wir Psychologen sagen, dh ein Steuersystem des Handelns der Menschen, vor allem, aber nicht nur, als Sozialwesen. Das Haus, die Wohnung ist das Gefäss der Familie, der kleinen Gruppe; die Kirche ist nicht nur ein Symbol Gottes, sondern auch ein Träger der Gemeinschaft; das Rathaus eine Verkörperung der Idee des Staates usw. Bauen ist die älteste Schriftsprache. Gebautes ist nach den Instinkten der stärkste Faktor der Gesellung und der Vergesellschaftung.
Das alles mag vielleicht für Baufachleute trivial sein, es musste aber gesagt sein, wenn ich nun versuche, den urbanen Platz als einen Träger von sozio-kulturellen Prozessen verständlich zu machen. Ich müsste ausholen können über Grundformen des Bauens; ich will das auf eine einzige Form beschränken: die Grenze.
Die Grenze ist im Instinktrepertoire vieler territorial organisierten Tierarten und im Individualgedächtnis vieler Tiere vorgeprägt; wie das beim Menschen genau ist, wissen wir nicht; es wäre aber merkwürdig, wenn uns gar nichts davon übriggeblieben wäre. Die Menschen aber, die die Duftmarkierungen ihrer Ahnen durch Wälle und Mauern und Zäune ergänzt und ersetzt haben, haben wohl eine der fundamentalsten kulturellen Leistungen erbracht. Sie haben nicht nur eine Entwicklung eingeleitet, welche den Baufachleuten die Existenz ermöglicht, sondern auch sich selbst und uns bis heute gewaltig das Zusammenleben erleichtert. Stellen Sie sich zwei Gruppen sesshaft gewordener Leute vor - der Wall oder die Mauer trennt sie einerseits voneinander, verbindet sie aber zugleich; denn jeder ist auf seiner Seite sicher und kann sich so dem andern auf der andern Seite bis gerade an die Mauer heran annähern und mit ihm einen Austausch pflegen.
Die Mauer strukturiert den Raum. Der Mensch erobert sich den Raum, und zugleich damit leistet er eine Strukturierung der Gruppe, welche die vordem instinkthaft gegebene ergänzt, erweitert, deren Lockerung bestätigt und dennoch nichts an Sicherheit einbüsst. Auseinandersetzungsverhalten muss nun nicht bei jeder Begegnung neu ausgetragen werden, die Mauer erledigt das wie von selbst. Die Erfindung des Tors in der Mauer war so genial wie die des Rades; zur Raumstrukturierung trat die Bewältigung der Zeit: jetzt bin ich zugänglich - jetzt lass mich allein.
Damit komme ich endlich zum Platz. Warum machen die Menschen Plätze? Ich meine, eine notwendige psychologische Voraussetzung ist eine Gesetzmässigkeit der Wahrnehmung, welche dafür sorgt, dass unter gewissen Bedingungen aus einem Zwischenraum ein Etwas wird. Es gibt zwei Prinzipien, in welche man solche Bedingungen zuammenfassen kann, das Konturprinzip und das Fokusprinzip. Ohne sie wäre Wahrnehmung nicht möglich. Sie bestimmen das Zueinander, die Organisation von Elementen, die in der Realität unverbunden sein können, in der Wahrnehmung aber in ein Ganzes eingebunden werden. Es ist leicht nachzuvollziehen, dass das Bauen dieser Organisation des Sehens folgen muss, wie ihr ja auch das Zeichnen folgt und sich nur mühsam davon loslösen kann, etwa wenn man das perspektivische Zeichnen lernt.
Das erste Prinzip habe ich Ihnen schon mit dem Rubin-Becher gezeigt. Wenn Konturen so zueinander liegen, dass sie miteinander in Beziehung treten können - also nicht zu weit entfernt, in guter Fortsetzung der Linie, einigermassen geschlossen usf. - dann konstituieren sie ein Neues, eine Figur, eine Gestalt, den Platz.
[Virtuelle Konturen: Dreieck von KANISZA]
Ich zeige Ihnen noch einen Spezialfall davon, eine Demonstration von KANISZA: hier sind Konturen nur noch angedeutet, und unter gewissen Bedingungen entsteht trotzdem etwas Neues - ein Platz. In drei Dimensionen, räumlich, gibt es Analoges, das man weniger leicht demonstrieren kann.
Gehen wir zurück zur sozialen Situation der beiden benachbarten Gruppen mit ihrer Mauer zwischen ihnen, beide ausgestattet mit Wahrnehmung der beschriebenen Funktionsweise. Vielleicht können Sie sich vorstellen, dass die Entdeckung, dass die Spaltung der Mauer etwas Neues schafft, ähnlich wie das Tor, eine grosse Sache gewesen sein muss; wir haben uns so daran gewöhnt, dass wir eigens komplizierte Beschwörungen durchführen müssen, um es nachzuvollziehen.
Man kann von einer Platzbildung durch "Bauchung" sprechen: Wenn Konturen, Grenzen, Ränder von andern Gebilden so zu liegen kommen, dass ein Zwischenraum bleibt, kann der Zwischenraum einen neuen Charakter bekommen, ein Ventrikelplatz werden. (Natürlich ist der Name zur Zeit nur eine Behelfsbezeichnung; es ist nicht leicht, einen wirklich guten Namen für den eben gar nicht "wirklichen" Zwischenraum zu finden; für Anregungen bin ich dankbar. Immerhin ist die Anspielung auf den Stoffwechsel nicht ohne heuristischen Reiz, insofern er den psychischen und sozialen Informations- und Güteraustausch impliziert. Der Ausdruck Ventrikel konnotiert ja auch Höhlungen im Zentralnervensystem, so dass Austausch von Information mitgedacht werden kann.)
Ein Sonderfall des Ventrikelplatzes ist die Verdoppelung einer naturgegebenen Kontur, etwa der Seeuferplatz oder der Hügelrandplatz, die Öffnung auf eine weitere Welt, sei es in kommerzieller, sei es in ideell-ästhetischer Hinsicht.
Die psychosoziale Träger des Ventrikelplatzes ist die Idee des Austausches, im weitesten Sinne des Marktes, also des Austausches von Meinungen und Gütern, der Auseinandersetzung zwischen Gleichwertigen: ich gebe Dir und bekomme dafür, wir beide haben prinzipiell gleiche Chancen, mal kommst Du besser weg, mal ich. Verhandeln wir auf einem neutralen Platz, der keinem von uns beiden einen a priori Vorteil gibt, verzichten wir, jedenfalls für den Augenblick, auf Machtkampf; konzentrieren wir uns auf die Idee, wir könnten beide von unsrem Austausch profitieren. (Dass die Intention des Austricksens mit dazu gehört, versteht sich von selbst; der Ventrikelplatz ist damit nicht unbedingt eine stabile Sache.)
2.3.1.1 BEISPIELE Ventrikel
Einige Illustrationen:
CATALHÖYÜK 7000 vChr Hausgrundrisse mit Zwischenraum (unbekannter Funktion) Die Siedlungen scheinen keine Gassen gekannt zu haben, Verkehr über die Dächer.UR 2. Jt vChr Ansammlung von Häusern, es bilden sich lineare Verbindungen: Gassen, und gelegentlich platzartige Ausbauchungen.
YANKEZIA in Ghana Ein Wohnhaus einer Mehrfrauenfamilie mit einer zentralen Bauchung
Unsere Dielen, Küchen, Wohnräume, umgeben von Privatzimmern, sind ebenfalls bauchige Raumstrukturen. Sie bilden einen Platz, der keinem Familienmitglied eindeutig zugehört und damit allen in gleicher Weise zugänglich ist, ein neutralisiertes Territorium.
In arabischen Siedlungen lassen sich Bauchungen besonders schön nachweisen. Die Negativzeichnung des Flugbildes zeigt die resultierende Struktur, einschliesslich der linearen Gassen und der gebäudeumschlossenen Höfe.
ZOFINGEN viele kleine Ventrikel, kleine Dorfplätze in Städtchen.
CARCASSONNE die doppelte Ringmauer, das Niemandsland, das nicht zum Platz geworden ist.
Luftbild Aarehalbinsel: Die meisten Berner Plätze sind von ihrer Entstehung her Ventrikelplätze: die aufgefüllten Zwischenmauerbereiche und Stadtgräben des Theater- und Kornhausplatzes, des Waisenhaus- und Bärenplatzes, des Bubenbergplatzes, Hirschengrabens.
Paul HOFER gibt ein schönes Beispiel eines Ventrikel- oder Ausstülpungsplatzes, des heute allerdings flachgepressten Sinneplatzes in Thun. Thun hatte, zwischen Aare und Schlosshügel eingeklemmt, keinen Platz für einen Platz und hat sich jenseits der Aarebrücke ausgebaucht. Die jenseitige Grenze, Häuser und Turm mit Tor wurden durch die Ausstülpung verlangt. Begrenzung und Platz treten in ein gegenseitig konstitutives Vehältnis.
Der Sinneplatz ist allerdings nicht ein reiner Ventrikelplatz gewesen, ein zweites Element tritt dazu.
Das führt zum zweiten platzkonstituierenden Prinzip. Ich habe es Pol- oder Fokusprinzip genannt; Metzger spricht von Zentralität. Man kann es so formulieren: wenn immer in der Wahrnehmung in der Fläche, im Raum ein etwas, ein Figurhaftes gegeben ist, so hat es in der Wahrnehmung die Tendenz, auf seine Umgebung ringsum auszustrahlen, um sich einen Hof zu bilden, derart, dass benachbarte Elemente davon betroffen werden. In der Wahrnehmung können wir örtliche Verlagerungen, Verkleinerungen, Vergrösserungen, Veränderungen in der Erscheinungsweise u.a.m. der peripheren Elemente nachweisen. Im konkreten Raum kann sich um einen solchen Fokus ein Platz bilden, ein Fokusplatz.
Das Pol- oder Fokusprinzip ist wohl ebenso fundamental wie das Ventrikelprinzip; es entspricht ja schon den "Distanzblasen" zwischen Individuen im Sozialkontakt und hat wohl, jedenfalls auf Personen bezogen, eine instinktuale Basis. Seine Übertragung auf zentrale, ausstrahlende Objekte liegt also nahe.
Prüft man prähistorische Anlagen, so lässt sich das Fokusplatzprinzip praktisch bei den frühsten nachweisbaren Bauten belegen. Die sog. Terra Amata Hütten von homo erectus, ca 400 000 vChr, sollen eine Zentralstruktur um die Feuerstätte aufweisen.
Der reine Typ dieses Platzes ist aber vermutlich älter als das Bauen. Ich stelle mir die grosse alleinstehende Linde oder Eiche vor, oder die Felsnadel, welche um sich herum einen Raum schafft und die Leute anzieht.
Der zentrumsorientierten Raumstruktur entspricht natürlich eine zentrumsorientierte Sozialstruktur. Der Fokusplatz ist also nach seinem Bildungsprinzip der Herrschaftsplatz, der Platz der asymmetrischen Begegnung: wer das Zentrum beherrscht, bestimmt auch über das Umfeld. Hier kommen Herr und Knecht zusammen, sei es um ihre Beziehung zu bestätigen, sei es um zu versuchen, sie zu ändern.
Gesellschaftliche Strukturierungsrituale wie Investition, Verkündigung, Gericht, Unterwerfung unter eine weltliche oder ausserweltliche Instanz usw. bedürfen der zentral strukturierten Plätze.
2.3.2.1 BEISPIELE FOKUSPLATZ
Illustrationen:
KOLOMIJSCINA im südlichen Russland, 5000 vChr: zwei grössere Häuser in der Mitte als Fokus, darum scharen sich die übrigen Häuser der Siedlung im Kreis.Allerdings sagen mir die Archäologen, dass nicht alle Siedlungsausgrabungen in ihrer Struktur leicht zu deuten sind, weil oft unklar datierte Überlagerungen vorkommen.
Fokalplätze sind wohl auch die mythischen, unter grösstem Bauaufwand konstruierten Versammlungsplätze des Neolithikums (AVEBURY 3.Jt. vChr, STONEHENGE 2750-1500 vChr). Sofern sich Menschen dort wirklich versammelten (?).
Das ostasiatische Brettspiel GO ist im wesentlic hen ein Spiel mit dem Fokusprinzip. Obwohl wie beim Schachspiel auf einer endliche Zahl von Felderngespielt wird, lässt sich die Fernwirkung jedes Steines nicht wie beim Schach "rational" überblicken, sondern kann als ein zentrisches Gebilde mit gegen die Peripherie abnehmender Wirkungsstärkeverstanden werden; reizvoll sind nun die "Feld"-verstärkungen und -verfomrungen und -- mit der Vermehrung der Zahl der Foken -- das "Umspringen" auf das Grenzprinzip.
Die grosse Zeit des Fokalplatzes beginnt mit den Tempelbauten. Denn was würde einen wichtigeren Fokus abgeben als jene höhere Instanz, auf die sich das Leben der Kulturgemeinschaften ausrichtet? Der Platz vor dem Tempel, vor der Kirche ist ein Platz, der durch Ausstrahlung der hohen Instanz entsteht.
Analoges gilt für die Paläste der Herrschenden, die Raum brauchen, um sich sichtbar abzusetzen, um die Beherrschten versammeln zu können, etc. etc. Es wäre äusserst reizvoll, die verschiedenen Strukturvarianten grösserer Siedlungen unter diesem Gesichtspunkt näher anzuschauen und mit der Entwicklung der jeweiligen Herrschaftsformen in Bezug zu setzen.
Solche Strukturen charakterisieren nicht nur die mesopotamischen, die ägyptischen, die hellenischen und römischen Stadtsiedlungen; häufig tritt die erhöhte Lage bei Kirchen und bei Schlössern oder Rathäusern als Verstärker hinzu; sie sind uns vor allem vertraut aus der mittelalterlichen Stadt, deren Struktur ja die meisten unserer Städte von heute noch bestimmt. Dabei insbesondere die Konkurrenz zwischen Kirche und Staat, die Doppeltheit von Kirchenplatz und Rathausplatz.
Bern hat nur "anderthalb" Fokusplätze, der Münsterplatz ist der ganze und der Rathaussplatz der halbe. In Bern hatte es vielleicht die Obrigkeit nicht nötig, sich dem Volk aufzuerlegen, sich des Volkes zu vergewissern, ihre Macht zu demonstrieren; vielleicht konnte sie auch vermeiden, sich dem Volke auszusetzen. Die relativ späten Pläne, einen echten Rathausplatz auszuschlagen, sind nie realisiert worden. Die Obrigkeit war sich des Volkes immer schon sicher, bis vor kurzem.
Übrigens gibt es auch in Japan mit seiner traditionell überaus straff strukturierten Gesellschaft keine Fokusplätze.
Jetzt habe ich natürlich, wie immer wenn man die Sache auf einen Begriff bringen will, radikal vereinfacht. Ventrikel- und Fokusplatz sind natürlich mehr Idealtpyen als reale Plätze. Immerhin, wie die Beispiel zeigen, gibt es sie. Häufiger aber sind die Mischtypen.
Und da lohnt es, Überlegungen zur Schwachstellen, Labilitäten dieser Platzkonzepte anzustellen. Das Problem des Fokusplatzes sind seine Grenzen: bis wie weit reicht der Einfluss des Fokus, wie stark ist der Fokus, worauf trifft die Ausstrahlung? Kann legitimerweise ein Gegenüber entstehen, oder schliesst die Mächtigkeit alles andere aus. Ist es kühn bis riskant, einem Fokus einen Gegenfokus aufzustellen? Einige Städte des Mittelalters haben Kathedrale und Rathaus am gleichen Platz gegenüber, etwa CREMONA. Kann ein Machthaber seiner Sache so sicher sein, dass er die Vasallen um einen Platz versammeln und sie dennoch dominieren kann (Place Royale bzw. Vogesenplatz, Paris)? Aber der Fokusplatz hat immer eine starke innere Struktur, so eine Art Radialstruktur (in SIENA ist sie auf den Platz gepflästert).
Die Schwachstelle des Ventrikelplatzes ist hingegen gerade das Fehlen einer solchen inneren Ordnung. Er nimmt deshalb leicht Sekundärzentren an, häufig durch Platzfunktionen unterstützt, etwa Brunnen und Pavillons oder Kioske und Bedürfnisanstalten.
2.3.3.1 SEKUNDÄRFOKUS auf Ventrikelplätzen und Fokusplätzen
Am Umgang mit Standbildern, Reiterstatuen, Denkmälern etc. kann man die Plätze gut typisieren. Einem eigentlichen Fokusplatz ein Standbild zuzusetzen ist widersinnig, es sei denn, es diene der Widerlegung des alten Fokus, in der Regel mit zweifelhaftem Erfolg. So war die Erlachstatue auf dem Münsterplatz eben ein Unding bzw. ein missratener Säkularisierungsakt; und eine feinsinnigere Generation hat ihn wieder weggebracht. - Auf Ventrikelplätzen kann man hingegen solche Dinge fast beliebig aufstellen, aber wie die Erfahrung zeigt, tobt der Streit über den einzig richtigen Standort. Dass weder Erlach noch Bubenberg wirklich richtig stehen, stimmen Sie mir vermutlich mehrheitlich zu - Ventrikelplätze haben eben ein schwache Struktur; in selten Fällen gelingt die Beifügung.
Und hat man eigentliche Ventrikelplätze durch eine Randauszeichnung nachträglich zu Pseudofokusplätzen gemacht, so hat man auch seine liebe Not damit, wenn man den Pseudofokus mit einem weitern Fokus ergänzen oder neutralisieren möchte. Der Waisenhausplatz ist ein durch das Waisenhaus fokalisierter Ventrikelplatz; da müsste sogar ein Super-Oppenheim-Brunnen Mühe haben; und ein möglicher Ort wäre nur genau die Platzmitte; dass sich die Polizei dagegen wehren würde, ist zu erwarten.
Ventrikelplätze hingegen, die zwei Pole oder Foci haben - zwei Eingänge/Ausgänge zB - haben eine stärkere Struktur. Der einst wunderschöne Ventrikelplatz zwischen Christoffelturm und Murtentor - ein richtiger Begegnungsort zwischen Stadt und Land - hat zuerst sein äusseres Tor und dann den inneren Fokus, den Turm, dem Verkehr opfen müssen. Das Burgerspital oder die Heiliggeistkirche, weil quer zur polaren Platzstruktur stehend, haben die Fokalfunktion nicht übernehmen können. Damit war der Beliebigkeit des Bebauens, des Aufstülpens von Funktionen Tür und Tor geöffnet, und wir haben die heutige skandalöse Katastrophe.
Nun habe ich anhand dieser Typologie und mit Beispielen von räumlichen Strukturen, wie sie die Wahrnehmung behandelt, gesprochen; Natürlich sind solche Strukturen die Grundlage des Umgang mit dem Platz, sowohl durch das das benutzende Publikum wie durch die Bauverantwortlichen. Nun müssen wir uns, wie das schon mehrfach angedeutet wurde, mit den gesellschaftlichen Prozessen, die nach unserer Rahmenvorstellung von den Plätzen getragen werden, beschäftigen. Es ist schon klar geworden, was ich in die verkürzende Formel zusammenfasse: der Ventrikelplatz ist eher der demokratische, der Fokusplatz eher der aristokratische Platz; Durchmischungen und Vermengungen sind notwendigerweise mit der Geschichte des Abendlandes verbunden.
Lassen Sie mich diesen Gedanken noch durch einige Beispiele plausibler machen und auf die Probe stellen.
Das Forum Romanum ist in der Republik zweifellos ein Ventrikelplatz. Es ist ja ursprünglich das freie Feld zwischen den sieben Hügeln, also der Begegnungsplatz mehrer Gemeinschaften, das in der Zeit der staatlichen Institutionenbildung nicht nur verkleinert und funktionalisiert wird, sondern wesentlich stärker als ein freies Feld eben die Auseinandersetzungprozesse zwischen den Beteiligten zusammenhält, ihnen Permanenz gibt, der Platz des Senats. Wie drückt sich in der Veränderung der Raumstrukturen die Aristokratisierung, die Verfestigung von Herrschaftsstrukturen in Rom aus?
Nun, die Tempel spielen eine wenig zentrale Rolle, vor allem auch dadurch, dass es mehrere gibt. Charakteristisch ist die Auseinandersetzung um die Rostra: Vollendung und Entartung der Rhetorik drücken sich in den zunehmend barockeren Rednertribünen und weiteren Repräsenationsbauten auf dem Forum aus, immer grösser, immer drastischer, bis zum multiplen Fokalkonglomerat der Kaiserforen und der besondern Bedeutung des Kapitols und fortgesetzt bis zum Monstrum für Vittorio Emmanuele. Misslungene und partiell sich durchsetzende Foki begleiten die Geschichte des Herrschaftswandels.
Ein zweites Beispiel: die griechischen Städte, Muster der Demokratie, haben wohl Fokalplätze vor den Tempeln, aber keine eigentlichen Ventrikelplätze, werden Sie einwenden. In der Tat, meine Deutung des Ventrikelplatzes als Begegnungsort von Gleich zu Gleich kommt ins Wanken; allerdings nur, wenn wir unser schönes Demokratiebild der Griechen nicht hinterfragen. Am Beispiel der Neustadt von OLYNTH, 432 vC wird das klar: einen so sauberen Plan kann nur ein Mächtiger durchsetzen.
Olynth, Stadtplan
In der Tat: Olynth hatte keine demokratische Verfassung. Man vergleiche diese Ordnungen einerseit mit den chaotischen Stadtstrukturen von Mesopotamien, anderseits mit dem Grundriss der Siedlung, die für die Bausklaven der grossen Pyramiden in Aegypten bereitgestellt wurde.
Ur, StadtplanÄgypten: Sklavensiedlung Pyramidenbau
In Olynth gehört dem Tempel sein Platz und dem Herrscher sein Platz. Allerdings ist Understatement Trumpf. Diese "Agora" ist vermutlich ein Fokalplatz ohne strukturell erkennbaren Fokus. Die Herrschenden tun so als ob sie nicht herrschen würden. Ihre Macht ist aber im Gesamtgrundriss längst stark genug ausgedrückt; die Wahrscheinlichkeit, dass von den vielen Gleichgemachten einige allzu stark werden, geht gegen null. Sie kennen vielleicht die kluge Theorie über Kleisthenes, den Begründer der Athener Demokratie, er habe als bedrängte Tyrann die Demokratie so eingerichtet, dass ihm aller reale Einfluss geblieben ist.
Die Monarchen der Neuzeit sitzen hingegen noch in ihren Palästen inmitten herrlicher Fokalplatzstrukturen; aber sie haben die Macht längst abgetreten. Nur wenige moderne Regierungen verzichten mehr oder weniger freiwillig auf Fokalplätze: Bonn, Bern (das sich damit begnügt hat, einer Ventrikel, die ursprünglich Nord-Süd orientiert war, eine Ost-West Richtung umzudrehen und den Hauptfokus der Bundeshausfassade durch zwei Nebenfoki, die beiden Bankgebäude, schamhaft zu neutralisieren..
2.4.2.1 ASHIHARA
Grade der Geschlossenheit: konkave Ecken; Bern
Wie eng die Raumstrukturen und die Sozialprozesse zusammenhängen, möchte ich mit einem Schema von Yoshinobu ASHIHARA veranschaulichen. Nicht nur fokale Objekte strahlen in ihre Umgebung aus, sondern auch Ränder. Wie kann man Menschen deutlicher auf einem Platz festhalten, mit Seitenwänden oder mit konkaven Ecken? Zweifellos mit Ecken. Selten ist ein Fokusplatz rein, in dessen vier Ecken Strassen münden. Die Place Royale (Vogesen) hat immerhin nur deren zwei.
ASHIHARA The Aesthetic Townscape, Fig. 49 und 50, Degrees of Enclosure
Aber die Idee der Offenheit/Geschlossenheit von Plätzen muss nicht unbedingt mit der Ventrikel-/Fokusidee zuammenfallen, obwohl sicher eine Affinität besteht. Es wäre reizvoll, auch den sozialen Prozessen bei Offenheit/Geschlossenheit detaillierter nachzugehen.
Haben Sie auch schon festgestellt, dass in der Berner Altstadt und erst recht in den Aussenquartieren abgesehen von Höfen kein einziger Platz konkave Ecken aufweist? Der Rathausplatz hat als einziger wenigstens eine.
Ich fasse die Prinzipien der Typologie zusammen: wir haben eine Parallele zwischen psychischen (Wahrnehmungsprozesen) und sozialen (Gesellschaftsformen) einerseits und räumlichen Strukturen Platztypen anderseits herausgearbeitet und exemplifiziert. Herausgekommen ist eine relative Schwäche der "quasi-demokratischen" Ventrikelplätze, und die Neigung von Herrschaftsinstanzen, wo immer möglich die Plätze zu fokalisieren, dh ihrer Bedeutung als Herrschenden einen Ort am Platz zu geben, möglichst einen fokalen, sei es durch zentrale Symbole, sei es durch Aneignung und Ausbildung von wichtigen Platzrändern. Dem weiten und riskanten Raum soll Struktur auferlegt werden, die zeigt, wo die Macht steht und wer das Geschehen bestimmt.
Das wichtige ist mir allerdings nicht die Platztypologie, so erhellend sie im einzelnen sein mag. Was ich mit dem Ventrikel- und dem Fokalprinzip geleistet habe (oder geleistet zu haben meine), ist das Aufzeigen von Konstituierenden für Plätze, von Konstituierenden die in der menschlichen Verfassung, biologisch, psychologsich und soziologisch verstanden, ihren Ursprung haben und im Gebauten ihren Ausdruck finden.
Zum jetzigen Zeitpunkt konnte ich nicht mehr als ein paar Beispiele geben. Die Bedeutung von Fassaden und Monumenten als Repräsentanten von Macht und Einfluss ist natürlich nicht neu sondern in der Literatur verschiedener Disziplinen wiederholt aufgewiesen worden. Die Rückführung dieses Gestaltungsprinzips auf Gesetzlichkeiten der Wahrnehmung und seine Einbettung in einen Zusammenhang von gesellschaftlichen Ordnungsprinzipien im allgemeinen dürfte allerdings dem Verständnis neue Horizonte eröffnen. Sowohl die Architekturgeschichte wie auch die Ereignis- und Sozialgeschichte und natürlich auch der künftige stadtplanerische Gestalungswille dürften daraus gewinnen. Reizvoll wäre es, die These von der Dialektik zwischen Ventrikel- und Fokalprinzip an einem grossen Material von Stadt(bau)geschichte auf die Probe zu stellen.
Die Situation in Bern scheint mir gekennzeichnet durch a priori sehr schwache Plätze und mithin um so ausgeprägterer Fokalisierungsneigung der verschiedensten Herrschaftsansprüche, weniger der staatlichen als verschiedener anderer Interessen.
Können wir nun auf dem Hintergrund dieser Einsichten und unter der Voraussetzung, dass sie einer kulturhistorisch detaillierteren Analyse standhalten, Schlussfolgerungen für die Beantwortung von Fragen nach dem Sinn von urbanen Plätzen heute ziehen? Ich will die Meinung vertreten, dass dies möglich ist und im folgenden, wiederum exemplarisch, zu zeigen versuchen.
Eine erste allgemeine Folgerung muss wohl sein, dass es verfehlt wäre, den urbanen Platz seinem Sinn nach als etwas Eindimensionales, Unifunktionales, auf einen einfachen Nenner zu Bringendes verstehen wollen. Das wird immer wieder mal versucht, obwohl in der Literatur längst eine Serie von Platzfunktionen beschrieben worden sind.
Aus der jeweils konkreten Auseinandersetzung um eine bestimmte Gestaltungsfrage ist durchaus verständlich, dass sich die Parteien jeweils eine ausgewählte Funktion auf ihre Fahne schreiben. Plätze mit traditonellen Begegnungsfunktionen können sich dem Gerangel entziehen, solange ihre Funktion (ein Markt, ein Spektakel) lebendig ist. Auch Kirchenfokusplätze geniessen eine gewisse Immunität gegen solche Versuche und mit ihnen auch alle anderen Fokusplätze, die sich eines hohen kunsthistorischen Ansehens erfreuen können, seien sie genuin oder gut usurpiert, als Plätze oder bezogen auf einige Rand-Gebäude. Nicht so ist es mit den weniger glücklich fokalisierten Ventrikelplätzen und mit Fokalplätzen, deren Fokusidee an Ansehen oder Wert verloren hat.
Unsere Leitidee könnte sich nun als nützlich erweisen deswegen, weil sie möglicherweise gestattet, die verschiedenen Platzfunktionen nicht als eine lineare Liste, alle mit gleichem Anspruch zu behandeln, sondern weil sie eine Rückführung der gängigen Platzfunktionen auf zugrundeliegende Prinzipien gestattet und mithin einen echten Vergleich zwischen den Ansprüchen verschiedener Funktionen.
Da ist zunächst eine kleine Liste der gängigen Platzfunktionen angezeigt. Ich weiss, dass das ein Unternehmen für sich wäre. In der mir verfügbaren Literatur über Plätze habe ich noch nie eine umfassende solche Liste gefunden, die mich wirklich befriedigen würde; immer sind einige Partialfunktionen vernachlässigt oder vergessen.
Mukarschowsky glaubt, dass jede Funktion einer Sache in mehr oder weniger ausgeprägtem Mass unter 5 Aspekten gesehen werden kann, die sich natürlich gar nicht ausschliessen, aber im Kongruenz oder im Widerspruch untereinander realisiert sein können:
Eine aktuelle Verwendung (zB Parkplatz) kann mit den Gehalten der historischen Entstehung und Wandlung kongruent sein (etwa temporäres Warenlager) oder im Widerspruch (etwa Erhabenheit der Kirche oder des Bundeshauses). Eine gesellschaftliche Organisation (bei Architektur eben meist irgend eine Symbolfunktion, etwa die Repräsentaton) wird überlagert von individuellen Bedeutungen (habe ich auf dem Bundesplatz des Kriegsende erfahren oder auf dem Rathausplatz getanzt). Dazu tritt, für Mukarschowsky in Sonderstellung der Selbstzweck, die ästhetische Funktion. Viele von Ihnen werden mir mit einem gewissen Recht vorwerfen, dass ich das Ästhetische herunterspiele; es scheint mir, das man es nicht aus dem psycho-sozial-räumlichen Kontext lösen und fuer sich behandeln darf, doch habe ich mich jetzt auf das psycho-soziale konzentriert, weil man darüber seltener spricht.
Nun greife ich gängige Platzfunktionen heraus und versuche sie auf die beiden Bezugssysteme, die Funktionsaspekte und die Konstituenten der Ventrikel-/Fokus-Typologie zu projizieren. u ä.
2.5.3.1 MACHTSYMBOLE for various governing bodies
Der Platz stellt ein Feld für architektonische Symbole von regierenden Instanzen bereit:
Ist das nun der aktuelle Zweck eines Platzes oder das Ergebnis einer historische Entwicklung? Stimmt die Zuordnung noch, oder muss sie nicht notwendig in Widerspruch geraten mit dem ]berdauernden Gebauten, weil Macht rascher wechselt und man auch nicht immer gleich umbauen kann; auch kann sich ja aktuelle Macht fremde Symbole aneignen. Muss sich der einzelne Platzbenützer nicht auch immer eine bestimmte gesellschaftliche Organisation erst aneignen, bevor sie wirksam werden kann? Warum soll sich Macht in Schönheit repräsentieren und nicht gerade im Auferlegen von Hässlichkeit? Sind jetzt die Autos, die unsere Plätze zur Hauptsache übernommen haben, ausserhalb der Diskussion (man kann sie ja wohl gut nicht Architektur nennen), oder geht es hier nicht um Macht? Könnten wir die Autos wegverbannen, als eine falsche oder zu besiegende Macht verbieten, und dann hätten wir wieder die klaren Plätze von vorher? usw. usw. - Sie sehen, die Betrachtungsweise bringt mich in lauter Schwierigkeiten, sie greift zu wenig tief bis ins Sehen und Handlen der Menschen, sie hat den Platz verobjektiviert und dann eine seiner Bedeutungen abgespalten.
Wenn ich den Platz aus seinen bauchenden und fokussierenden Konstitutenten verstanden habe, dann entgeht mir nicht, dass der Prozess der Fokussierung natürlich nie aufgehört hat; sondern dass nur in der Epoche des grandiosen Bauens - Renaissance, Barock in den Kernstädten, Prämoderne und Moderne in den Vorstädten - enorm viel auf eine bestimmte Art und Weise verfestigt worden ist, aufgrund von äusserst einseitigen Kriterien: Repräsentatin, Grandiosität, Verkehrsflüssigkeit usw. Dann kann ich auch vermuten, dass heute noch "fokalisiert" wird, freilich mit etwas andern Mitteln. In der pluralistischen Gesellschaft hat sich das Protzen mit Palästen in die Villen- und Industriequartiere verlagert; dort können sie sich leisten jeder für sich zu stehen, auf Platzbildung ganz zu verzichten. Aber die traditionellen Plätze dürfen nicht ein Vakuum bilden, sie müssen entfokalisiert werden: das geparkte Auto ist ein wunderbarer Entstrukturierer oder Primitivstrukturierer nach dem Prinzip der Reihung von Gleichem. Auf die Usurpation der schwachen Plätze durch den Kommerz werden ich noch kommen.
Eine interessante Idee für den Stadtplaner, so ein bisschen Sandkastenallmacht steckt da schon drin. Und die Verabsolutierung dieser Funktion ist natürlich geschehen, in den Vorstädten und Vororten. Von historischer Entwicklung und gesellschaftlicher Organisation ist nicht viel zu spüren; so etwas gehört aufs Reissbrett des Planers. Der aktuelle Zweck und die individuelle Bedeutung überschwemmen (fast) alles. Ästhetik? Ja, wenn auch mehr zum Denken als zum Sehen, vielleicht auf dem Stadtplan oder dem Luftfoto. Die Folge? - Plätze als Haltestellen der Verkehrsmittel, Plätze mit Traminseln als Fokus, Untergrundbahnstationen: der echt hohle Platz.
Vom Menschen her betrachtet scheint mir hinter dieser Funktion die Idee zu stecken, dass Bauchungen eine optimale Grösse nicht überschreiten können. Der Dorfplatz, glaube ich aus der frühen Architekturgeschichte herauslesen zu können, war eine ziemlich natürliche Errungenschaft, eine Bauchung zwischen den benachbarten Häuser, der kleine Kreis, der sich fast automatisch aus gemeinsamen Tätigkeiten ergab. Für die frühen Städte, war der Platz möglicherweise eine Sache, die erst erfunden werden musste. Es scheint mir, dass es dann ein Optimum an Grösse gibt für die verschiedenen Austauschgüter, die eines neutralen Grundes bedürfen. Für Meinungen im Prinzip ein Kreis von einander mehrheitlich nur flüchtig Bekannten, also vielleicht einige hundert bis tausend Personen; für Gütermarkt, je nach Gütern, Wochenmarkt oder Jahrmarkt, etwas grösser. Nur der Fokusplatz oder der fokalisierte Platz kommt "auf die Idee" ins Überdimensionierte zu wuchern und zu wachsen.
Platz als Verkehrsverteiler und -vermittler
Merkwürdigerweise hat Korosec-Serfaty die Platzfunktion, unter deren primären Ägide im 20. Jahrhundert fast alle Plätze, neu und alt, entworfen und umgestaltet wurden, nicht in ihrer Liste (obwohl sie sie am Rande behandelt), nämlich die Funktion der Verkehrsleitung, Knotenpunkt, Verteiler, Vermittler zwischen verschiedenen Verkehrsformen usf. Damit hat sie wohl die Mehrzahl der neuen Plätze in der industrialisierten Welt ausgeblendet - diejenigen, die vom Verkehr nur nachträglich usurpiert worden sind noch gar nicht gezählt. Diese Plätze sind Sache der Ingenieure - Arbeitsteilung. Welche Funktionsebene hat hier Kriterien abgegeben? Die ästhetische wohl nur dekorationshalber; die historische Entwicklung wenig, auch wenn die Bahnhofplätze zunächst viel von den Kirchen- und Rathausplätzen übernommen haben. Die individuelle Bedeutung ist ambivalent: den Anwohner stört der Lärm; doch erleichtert der Busstop das Leben. Die gesellschaftliche Organisation ist uns in dieser Hinsicht aus den Händen geraten. Ich stehe fassungslos vor der Beliebigkeit des Planens und Bauens, das Realität geworden ist. Uneingebundene Funktionalität. Wenn ich das ganze Getriebe solcher Ver- und Entflechtungssysteme anschaue, komme ich in Versuchung, die edle Definiton des Schönen, nämlich dass es seinen Zweck in sich selbst trage, darauf anzuwenden. Perpetuum mobile, gut geölt, läuft in und für sich selbst.
Ich will nicht einfach nur in die Klage einstimmen, dass uns das Auto (übrigens auch das Tram und der Bus) die Plätze geraubt habe. Sondern wieder versuchen die postulierten Konstitutenten des Platzes daraufhin zu befragen, wie sie die überbordenden Verkehrssytemen erklären, insbesondere die unentbehrlichen Knotenpunkte, genannt Plätze.
Ich erinnere an einige der ganz alten Städte, die halb eingegraben waren; und die Dächer der Häuser waren wunderbare Verkehrswege, nein, -flächen im eigentlichen Sinn; vor der Erfindung des Platzes eigentlich die ganze Stadt ein Platz, die Wege zu wählen blieb dem Städter so frei wie dem Wanderer im Wald, ein vielknotiges Netz. Dann kam das lineare Wegnetz und die Ausbauchung von Plätzen. Entsprechen Linearität und Netzhaftigkeit bestimmten gesellschaftlichen Strukturen? Ich habe keine Antwort, weise nur auf die Linearität unseres vorherrschenden Denkens hin, dem die Vermeidung von Bauchungen voll und ganz entspricht. So haben wir die wenigen Bauchungen gestreckt und mit Verkehr gefüllt. Plätze als Verkehrsteiler sind so verstanden gar nicht Plätze, sondern "Weichen" im Linearsystem der Beziehungen. Und der Verdacht drängt sich auf, dass man von "providing a break" spricht und eigentlich "crossroad function" meint.
2.5.3.3.1 UND LINEARITÄT Platz vs. Gasse
Berns eigentlicher Platz im Mittelalter war wohl die Hauptgasse, die vom Breiten-/ Höhenverhältnis eher ein Platz als ein Verbindungsweg war. Wir haben das perfekt linearisiert.
Bern Kramgasse weit - Postgasse eng
Marktgasse Fussgänger - mit Tram verstopft
2.5.3.4 WEITERE FUNKTIONEN
Die Zeit reicht nicht, weitere Funktionen in ähnlicher Weise zu diskutieren. Ich zähle nur auf (nach Korosec-Serfaty u.a.):
Die Liste sollte genügen, um die Beliebigkeit solcher funktionaler Betrachtungen deutlich zu machen; nur darauf kam es mir hier an.
Eine zweite Nutzanwendung des Verständnisses von Plätzen aus ihren Konstitutenten sehe ich in der Ausweitung des Blicks. Wenn wir Plätze verstanden haben als raumstrukturelle Steuerungsformen des Austausches und der Auseinandersetzung, so ist es wahrscheinlich, dass es weitere Materialisierungsformzeigen und deuten, die ich in ihrer psychosozialen Bedeutung mit den urbanen Plätzen vergleichen kann; und manche von ihnen sind, gemessen an Zeit und Geld, die damit verbunden sind, den Plätzen heute haushoch überlegen. Ich bediene mich wieder des Bildmediums, weil mir die Zeit eine Analyse nicht erlaubt. Ich will hier bloss evozieren oder provozieren.
Gibt es Raumstrukturen etc. mit ähnlicher Funktionalität? Wieder einige Bilder anstelle von oder zur Einleitung von rationalem Diskurs:
Ich hatte angestrebt, auf der skizzierten Grundlage so weit vorzustossen, dass Kriterien erkennbar würden, nach denen man den Gebrauch von Plätzen, reale und gedachte, bewerten könnte. Beachten Sie wohl: nicht Plätze, sondern den Gebrauch von Plätzen.
Die Ausgangsüberlegung war: Austausch ist nicht an sich gut noch schlecht, jede Gemeinschaft braucht aber ein gewisses Mass davon, vermutlich auch wechselnd viel in einer gewissen Spielbreite, und das Komplement davon wäre Abschirmung, Rückzug auf sich selbst und auf die Kleingruppe. Analog ist Herrschaft nicht an sich schlecht, so wenig wie Unterordnung; es sind die Extreme, die uns aufstossen; auch dafür sind wohl Spielbreiten unentbehrlich, egal ob eher im demokratischen oder autokratischen Bereich; denn die Verunsicherung durch durchgehende Gleichheit kann ja ebenso schwer zu tragen sein wie der Zwang zur Unterordnung.
Meine Leitidee war, dass man diskutieren und vielleicht in einem politischen Entscheidungsprozess festlegen könnte: hier in diesem Quartier, in diesem Stadtteil möchten wir gewissermassen soviel Austausch und soviel Herrschaft realisieren und uns einen Spielraum von der und der Breite offenhalten. Das würde bedeuten, dass man die Platzstrukturen in Richtung Ventrikularisierung oder in Richtung Fokussierung allmählich schrittweise verändern müsste; und den Entscheidungsprozess immer wieder mal neu durchgehen könnte.
Ventrikelbetonung oder Austauschförderung würde heissen, das man bestehende Raumstrukturen vermindert, dass man die Ränder des Platzes hart macht (konkave Ecken zB) und allen Funktionalisierungen allenfalls temporär Chancen gibt: Markt am Freitag, Zirkus am Samstag, Konzert am Sonntag usf. Keine Dauereinrichtungen. Denn wer die Einrichtungen besitzt und unterhält, der unterschiebt uns ja einen Fokus; auch wenn es die demokratisch gewählte Stadtverwaltung ist, sei es in Form von Blumenkisten oder von Verkehrstafeln. Vom radikalen Demokraten müssten wir erwarten, dass er sich daran stösst; Vandalismus an Platzeinrichtungen ist zwar nicht entschuldbar, aber durchaus folgerichtig.
Fokusbetonung oder Herrschaftsförderung würde heissen, dass wir bestehende Strukturen verstärken oder ersetzen wenn sie falsche Bedeutungen markieren, und neue Strukturen einführen; Permanenz ist gefragt, denn nur eine schwache Herrschaft lässt sich auf Provisorien ein, obschon sie ja sicher früher oder später abgelöst wird.
Die Frage stellt sich dann nach den Subjekten der Herrschaft. Das Auto und was es symbolisiert sind wir im Begriffe von den Plätzen zu verbannen. Dagegen ist nichts einzuwenden, obwohl auch das Auto (ein sauberes Auto) seinen Platz braucht. Leider schafft das ein Vakuum und andere Herrschaften drängen herein. Besser wäre die gezielte Ablösung durch klug gewählte Herrschaftsträger bzw. -symbole. Da das Volk sie unter den heutigen Umständen wählen oder zumindest bestätigen muss, komme ich ein bisschen in Verlegenheit, konkrete Empfehlungen zu machen. Ich kann nur Vermutungen darüber anstellen, wer in ein Vakuum vorstossen würde; denn das ist ja schon deutlich und seit längerem im Gang.
Der wahre Platz unseres Zeitalters in unserer Zivilisation ist ja der Konsumtempel. Nicht der Bazar, wo der Austausch symmetrisch sein kann. Im Warenhaus, das aus seinen oft prominenten Orten am Platzrand nicht selten auf den Platz vorstösst, macht der Inhaber die Angebotspalette und den Preis. Unser ist ja ein Zeitalter der Herrschaft; wir merken es nur nicht, weil wir dauernd von Gleichheit reden. Aber schauen Sie die modernen Plätze zB in Bern an: nicht mehr die Hauptgassen, die sind linear geworden; sondern die seitlich ausufernden Passagen sind bauchig angelegt; das Shoppyland ist bauchig gebaut - aber alle diese Warenhäuser sind hochgradig fokussiert, auf die Ware und ihren Umsatz.
LOEB, Warenhauseingang - SHOPPYLAND-Passage
Ich hatte dann gedacht, über eine grössere Stadt mit mehreren Plätzen könnten die Sollwerte unterschiedlich angesetzt werden. Das gäbe uns und vor allem unserer jungen Generation die Chance, die verschiedenen Platzarten auszuprobieren: herschaftlichere, von diesem oder jenem Herrschaftssubjekt, oder herschaftsfreiere, zentralstrukturierte oder randstruktrierte, riskante oder sichere, grandiose oder bescheidene.
Aber das war alles viel zu blauäugig gedacht. Anwendbare Kriterien für die Platzbeurteilung sind das nicht geworden; ich hatte mir offensichtlich etwas zu viel vorgenommen.
Persönlich wünschte ich mir übrigens auch Plätze, die man nicht benützt; das scheint uns zu fehlen. Das wären wohl starke Fokusplätze; aber die herschende Instanz hätte sich selber die Schranke auferlegt, die Herrschaft nicht auszuüben.
japanischer ShintoShrine Leerplatz, alternierend mit Bau (Ise)japanischerZen-Buddhismus- Klostergarten, Kies und Steine
Was bleibt vom Einbringen des Menschen in das Verständnis des Platzes? Die Beurteilung muss ich Ihnen überlassen.
Ich versuche zusammenzufassen. Zunächst dachte ich, eine Neudichtung von Morgensterns Lattenzaun könnte alles Wesentliche aufnehmen. Aber heute und hier bin ich ja Analytiker. Gefragt ist nicht neue Kunst, die verwedelt, sondern Aufhellung. Also nur eine erläuternde Paraphrase des Galgenlieds von Christian Morgenstern (das wohl bekannt sein dürfte?)
Es war einmal ein Lattenzaun,mit Zwischenraum, hindurchzuschaun.
Nicht nur Lattenzaun, überhaupt Zaun, Mauer, Grenze; und durchaus ein Zwischenraum, ein Niemandsland, ein Für-Alle-Land; nicht so sehr hindurchzuschaun, als eine Raumstruktur, die das Widersprüchliche schafft, nämlich zugleich trennt und verbindet, für sich zu sein und mit den andern auszukommen.
Ein Architekt, der dieses sah,stand eines Abends plötzlich da -
und nahm den Zwischenraum heraus,
und baute draus ein grosses Haus.
Das so wesentliche Nichts, der Zwischenraum, wird zu einem Etwas gemacht, und zwar zu einem grossen Haus. "Grosses Haus" - das ist so ungefähr das Umfassendste, was man sich denken kann, enthält einfach alles andere in sich. Also die Repräsentation, die Einschüchterung, die Sicherheit, die Permanenz... eben den Platz in allen seinen Facetten, vor allem den fokalisierenden, den repräsentierenden, den herrschaftlichen.
Der Zaun indessen stand ganz dumm,mit Latten ohne was herum.
In der Tat, diese Superplätze mit ihren grossen Häusern - das noch bescheidene Kapitol in Rom, aber schon der Petersplatz, der Markusplatz, die Plaza Major (Madrid), die Place de la Concorde, die Place de l'Etoile - die für uns die grossen Modelle des urbanen Platzes geworden sind, denen wir nachtrauern, von denen wir träumen, und die doch so unmöglich sind, dass nur noch hohle Regierungen solche zu bauen trauen, in zeitgemässer Vergrösserung natürlich - die Piazza Venezia des Mussolini, das Vakuum in Brasilia etc. etc. Sie haben die Repräsentationsfunktion des Platzes, die Herrschaftsidee, voll verabsolutiert. Als Plätze jedenfalls, als Zwischenraum, in den Menschen einströmen könnten um sich zu treffen, taugen sie nicht. Es sei denn, wir betrachteten den Touristen als den eigentlichen Menschen unserer Tage. Andere "Baumeister" haben aus der Interaktionsidee grosse Häuser, will sagen Plätze, gebaut: die riesigen Verkehrsmaschinen an den Verzweigungen der 12-spurigen Autobahnen in Los Angeles und anderswo; die Flugplätze für die weltumspannende Interaktion, die keine ist, weil dort ja alles gleich ist wie hier; die Sendetürme der Medien, die jeder besseren Stadt eine neue Vertikale geben; die gigantischen Markthallen und Shopping-Tempel, die längst auch den Markt, den Prototyp sozialer Symmetrie, zu einer Herrschaftssache gemacht haben.
Ein Anblick, grässlich und gemein.Drum zog ihn der Senat auch ein.
In der Tat grässlich und gemein. Doch findet sich kein Senat, der ihn einziehen könnte oder gar wollte. Und wenn es einer tut, wie der Pariser Stadtrat mit den Markthallen, dann nur, um aus einem halbwegs erträglichen Interaktionsplatz, deren zwei unmögliche zu machen: eine Konsummaschine, die zwischen der Agrar"kultur" und dem Konsumenten vermittelt - nur Spezialisten zugelassen, aber sie herrschen darüber, was wir essen -, und eine "Kultur"maschine, die Kreativität konzentriert und austeilt - jederman und jedefrau eingeladen, aber nur zum Konsumieren der Kultur, die andere stellvertretend gemacht haben. Warum sollte Herrschaft so treffliche Herrschaftsplätze einziehen?
Der Architekt jedoch entfloh,nach Afri- od- Ameriko.
Hier ist auch Morgenstern nun ganz seinen eigen blauen Augen verfallen. Der Architekt entfloh natürlich nicht, er ist ein ehrenwerter Mensch, er lebt mitten unter uns und bastelt weiter an seinen Platzprojekten. Aus Zwischenraum baut er grosse Häuser. Nicht selten ist er zwar etwas verdutzt über sein eigenes Tun. Dann veranstaltet er Ausstellungen, Vortragsreihen, usw., mit dem besten Willen zur Verbesserung der Verhältnisse. Wir wollen und können ihm nichts nachtragen. Er trägt schliesslich zu unser aller Kultur bei. Und wenn er sich gegen die Füllung des restlichen Zwischenraums, und gegen seine Fokalisierung wehrt, so ist er sogar sehr sympathisch. Ich jedenfalls wünsche ihm Erfolg!
Zusammenfassung:
Im Rahmen einer ökopsychologischen Konzeption des Mensch-Umwelt-Verhältnisses wird der Frage nachgegangen, warum Menschen Plätze machen. Aus der Wahrnehmungspsychologie sind zwei Prinzipien bekannt, nach denen aus einem Zwischenraum ein bedeutungsvolles Etwas wird: das Kontur- und das Fokalprinzip. Überträgt man die Wahrnehmungsweisen auf den Umgang mit Raum, analysiert also Architekur als Objektivierungen des Psychischen, so lässt sich eine Typologie der urbanen Plätze entwerfen.
Zum "Ventrikelplatz" wird die ausgebauchte Grenze, das Niemandsland zwischen zwei Bereichen, auf dem symmetrischer Austausch von Meinungen und Gütern erfolgen kann. Zum Fokalplatz anderseits kommt es, wenn durch ein Wahrzeichen eine Ausstrahlung auf die Umgebung erfolgt. Ein Fokus (konkret ein Baum, ein Standbild, eine Fassade) repräsentiert in der Regel eine gesellschaftliche Instanz, wodurch die psychosoziale Dynamik auf dem Fokalplatz asymmetrisch wird; es geht also um Herrschaft. Die beiden Platztypen werden anhand von Beispielen erläutert und in ihren historischen Wandlungen aufgezeigt. Durch das Aufzeigen der psychosozialen Konstituierenden von Plätzen ergibt sich ein systematisches Verständnis der Platzfunktionen.
In der modernen Gesellschaft haben im wesentlichen andere Objektivierungen die Funktionen des urbanen Platzes übernommen: Medien, Telefon, Computernetze u.a.; doch bleibt die Sehnsucht-- zwar nicht nach dem Dorfplatz, doch nach dem urbanen Platz der Kleinstadt des Mittelalters.