Alfred Lang | ||
Edited Book Chapter 1973 | ||
Der Umgang mit Dauer: Ein neues Modell der inneren Uhr [1] | 1973.01 | |
24 / 42 KB + 3 figs., 1 tabl. | ||
Pp. 587-596 in: REINERT, G. (Ed.) 1973. Bericht über den 27. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychologie in Kiel 1970. Göttingen: Hogrefe. | © 1998 by Alfred Lang | |
Scientific and educational use permitted | ||
Home || |
Zusammenfassung. Nach einer kurzen Kritik am mechanistischen Einheitenzählmodell (Momenttheorie) wird ein Alternativmodell der inneren Uhr als ein multiples System skizziert. Danach ist die Zeit des Individuums das organisierte Insgesamt der zentralen Repräsentation von vielen, ein breites Frequenzspektrum deckenden und partiell autonomen biologischen Rhythmen. Die wahrgenommene oder hergestellte Dauer eines gegebenen Ereignisses wird als eine Funktion der Kongruenz zwischen der Repräsentation des Ereignisses mit mehreren Teilprozessen des Systems bei unterschiedlicher Gewichtung derselben aufgefaßt.
Abstract. After a brief criticism of the mechanistic unit counting model (moment theory) the author Sketches a new model of the inner clock, suggesting the idea of a multiple system. Accordingly, the time of the individual is the organized sum total of the central representation of many and partially autonomous biological rhythms which cover a broad frequency spectrum. The perceived or produced duration of a given event is assumed to be a function of the congruence between the central representation of the event and several, differentially weighted part-processes of the system.
Nach den Einheitenzählmodellen sollen Wahrnehmung, Schätzung, Herstellung und Vergleich von Intervallen bestimmter Dauer dadurch möglich sein, daß wir über ein Einheitsintervall und einen Zählmechanismus, d. h. eine innere Uhr analog den physikalischen Uhren, verfügen. Dieses Prinzip geht auf Vorschläge von COLERIDGE (1817), VON BAER (1864), VON UEXKÜLL (1928) und anderen zurück und wurde besonders von STROUD (1955, 1967) in Form der kybernetischen Momenttheorie und von CREELMAN (1962) in einer stochastischen Variante erneuert (vgl. auch LANG 1971 a). Einen Verifikationserfolg kann man weder den älteren (z. B. MÜNSTERBERG 1889; BRECHER 1932) noch den neueren (z. B. TREISMAN 1963; MICHON 1967) empirischen Bemühungen attestieren.
Die Hauptschwierigkeit der Einheitenzählmodelle liegt darin, daß es nicht gelingt, die Einheitsdauer (den Moment oder die gezählten Ereignisse) und das Zählprinzip voneinander unabhängig in den Griff zu bekommen. Das ist aber notwendig, weil das Einheitenzählmodell multiplikativ ist. Die wahrgenommene oder produzierte Dauer ist gedacht als ein Produkt aus der Erstreckung der Einheitsdauer d(m) und der Menge oder Anzahl z der solcherart abgezählten Einheiten
Die verfügbare Forschung zeigt nun hinreichend, daß weder die Einheitsdauer eine konstante, empirisch faßbare Größe, noch daß der Zähler ein einfacher additiver Akkumulator ist (vgl. FRASSE 19672; BERGIUS 1969). Die Untersuchung des Moments setzt damit spezifische Annahmen über den Zählmechanismus voraus und umgekehrt, so daß sich die Forschung im Zirkelschluß bewegt. Soweit ich die Literatur überblicke, gibt es zur Frage des Zählers ausschließlich Spekulation; die vorgeschlagenen Operationalisierungen des Moments sind problematisch, und von keiner von ihnen ist nachgewiesen, daß sie für Zeitwahrnehmung und Zeitverhalten in eindeutiger Weise relevant ist.
Die "innere Uhr" als multiples System
Das Modell einer multiplen inneren Uhr geht von der Annahme aus, daß im lebenden Organismus jederzeit eine Vielzahl von zeitlich strukturierten Vorgängen, und zwar in der Mehrzahl zyklischen und quasizyklischen Prozessen, abläuft. Diese Vorgänge werden wahrscheinlich nicht wie im Computer von einem einzigen zentralen Taktgeber ausgelöst oder gesteuert, sondern sie sind voneinander wenigstens teilweise unabhängig. Ober die anatomisch-physiologische Grundlage dieser Prozesse mache ich mir zunächst keine spezifischen Vorstellungen. Es genügt mir die Tatsache, daß Biologie und Medizin eine große Zahl solcher "biologischer Rhythmen" nachgewiesen haben. Frequenzmäßig sind diese Rhythmen über ein sehr breites Spektrum verteilt; man findet Rhythmen mit Periodenlänge in Größenordnung von Sekundenbruchteilen bis zur Größenordnung von Monaten, ja vielleicht Jahren (vgl. z. B. SOLLBERGER 1965). Immerhin scheint festzustehen, daß die Mehrzahl der bisher isolierten Rhythmen endogener Natur ist. Nicht beliebige Frequenzen kommen vor, sondern bei einem gegebenen Prozeßtypus stets ganz bestimmte, die Art und das Individuum kennzeichnende Werte. Die Rhythmen sind ferner zumindest partiell autonom, insofern sie der Beeinflussung durch andere Rhythmen sowie der Synchronisation in Frequenz und Phase an periodische Umweltereignisse zwar unterworfen, aber nicht beliebig, sondern stets nur in begrenztem Ausmaß unterworfen sind. Ich erinnere zum Zweck der Konkretisierung dieses Begriffes der partiellen Autonomie an die bekannten Untersuchungen VON HOLSTS (1937) über die relative Koordination der Extremitätenbewegungen bei Fischen und Säugern.
Bei Pflanzen und niederen Tieren sind nun im allgemeinen die biologischen Rhythmen mit je bestimmten Auslösemechanismen verbunden, und jeder Rhythmus wird stets nur in seinem zugehörigen Funktionszusammenhang wirksam. Bei höher organisierten Lebewesen ist wohl ein großer Teil aller Rhythmen im Hinblick auf ihre Koordination zu einem funktionsgerechten Handlungsinsgesamt im Zentralnervensystem repräsentiert. Damit verbunden ist eine Einschränkung der Spezifität der Rhythmen. Das gilt auf kortikalem Niveau (man kann ja willkürlich im Rhythmus des Atmens schreiten oder kauen usw.), wahrscheinlich aber auch in allgemeinerer Weise; zum Beispiel beeinflußt der circadiane Aktivitätszyklus ganz verschiedenartige Effektorrhythmen (MILLS 1966). Mit anderen Worten: Die Periodik eines gegebenen Rhythmus kann für einen andern Prozeß, welcher nicht primär demselben Funktionszusammenhang angehört, relevant werden.
Damit habe ich einen der Wege skizziert, die mich zur Formulierung der folgenden allgemeinen Hypothese geführt haben (vgl. auch LANG 1970): Die Zeit des Individuums ist das organisierte Insgesamt der zentralen Repräsentation von vielen, ein breites Frequenzspektrum deckenden und partiell autonomen biologischen Rhythmen. Infolge der relativen Unspezifität der zentralen Repräsentation der biologischen Rhythmen ist denkbar, daß fast beliebige Ereignisse der wahrgenommenen Umwelt und Innenwelt auf diese multiple innere Uhr abgebildet (Zeitwahrnehmung) bzw. daß diese multiple innere Uhr zur Herstellung von fast beliebigen zeitlich strukturierten Akten (Zeitverhalten) eingesetzt werden kann. Die Dauer eines gegebenen Ereignisses ist demnach eine Funktion der Kongruenz zwischen der Repräsentation des Ereignisses mit mehreren Teilprozessen der multiplen Uhr:
Dabei stelle ich mir nun vor, daß je nach Art und Erstreckung des zu schätzenden Ereignisses diesem oder jenem der verschiedenen Rhythmen ein unterschiedliches Gewicht zukommt.
Ich beschränke mich darauf, zwei wichtige Konsequenzen des multiplen Modells der inneren Uhr zu nennen: (1) Die multiple Uhr ist in hohem Maß stabil gegen Störungen. Das entspricht der tatsächlichen Alltagsleistung unseres Zeitverhaltens im Schlaf und im kognitiv unbelasteten Wachzustand, während möglicherweise die Standardexperimente zur Zeitwahrnehmung mit ihren so widersprüchlichen Ergebnissen im Sinne einer Partialisierung der multiplen Uhr wirken, so daß durch die Dominanz eines einzelnen und den weitgehenden Wegfall der übrigen Teilprozesse eine analoge Situation entsteht wie beim Größenkonstanzverlust unter Wegfall der unabhängigen Distanzinformation. (2) Die multiple Uhr ist ökonomisch, da zur Schätzung der Dauer eines gegebenen Ereignisses stets auch Teilprozesse mit Periodenlängen von ähnlicher Größenordnung eingesetzt werden. Beim einfachen Einheitenzählmodell ist hingegen die für kurze Ereignisse notwendige hohe Präzision bei längeren Ereignissen reine Verschwendung; es muß dann postuliert werden (z. B. TREISMAN 1963), daß sie in der Verarbeitung irgendwo verlorengeht, da bekanntlich die Unterschiedsempfindlichkeit mit zunehmender Dauer eher abnimmt.
Experimentelle Strategie und Versuchsanordnung
Das Prinzip meines Experimentierens besteht darin, die wechselseitige Abhängigkeit von ineinander verschachtelten Dauerschätzungen festzustellen. Dabei geht es mir zunächst um den Nachweis, daß ineinander verschachtelte Dauerschätzungen eines Individuums Systemcharakter haben. In zweiter Linie möchte ich allmählich dazu kommen, einzelne Teilprozesse des Systems im oben beschriebenen Sinn zu isolieren und derart zu manipulieren, daß ihre Rolle für das Zeitverhalten insgesamt spezifiziert werden kann. Ob diese Bemühungen schließlich zu einem falsifizierbaren Modell der multiplen inneren Uhr führen werden, das auch in formaler Hinsicht die heutigen Ansprüche zu befriedigen vermag, müssen Zeit und Geduld erweisen. Aus erwähnten Gründen experimentiere ich grundsätzlich innerhalb des Individuums; die allgemeinere Gültigkeit der Aussagen wird durch Aufzeigen analoger Strukturen bei mehreren Individuen gerechtfertigt.
Die Vpn -- mehrheitlich Hausfrauen, die während mehreren Wochen täglich eine l- bis 2-stündige Sitzung absolvieren -- bekommen also den Auftrag, durch Knopfdruck ein bestimmtes Intervall, z. B. 1 bzw. n Minuten zu produzieren. Ein paar Rückmeldungen über die Leistung zu Beginn jeder Sitzung vermindern ziemlich rasch die Varianz dieser längeren Produktionen sowie das anfängliche Unsicherheitsgefühl, ohne physische Uhr zu arbeiten. Während jeder Sitzung produziert nun die Vp wiederholt dasselbe längere Intervall ohne Rückmeldung. Das Intervall wird ausgefüllt durch ein zeitlich strukturiertes Verhalten, welches die Beurteilung eines oder mehrerer Teilprozesse der multiplen Uhr bzw. Aussagen über die Periodik von m, erlauben soll. Dabei wird angenommen, daß die Zeitpunkte der einzelnen Akte dieses zeitlich strukturierten Verhaltens auf irgendeine Art und Weise Manifestationen der postulierten Teilprozesse der multiplen Uhr darstellen. Ich muß also hier eine methodisch bedingte Zusatzannahme einführen, über deren Berechtigung erst post hoc entschieden werden kann. Die Verifikation des Modells bestätigt die Richtigkeit der Zusatzannahme; hingegen ist bei seiner Falsifizierung unsicher, ob das Modell als Ganzes oder nur diese Zusatzannahme ungültig ist. Immerhin ist traditionellerweise die Spontanfrequenz von Tapping als ein Indikator des persönlichen Tempos oder desgleichen betrachtet worden, und diese stellt natürlich in meinem Ansatz den Fall dar, wo ein Teilprozeß aufs Mal manifestiert wird. Die Manifestation mehrerer Teilprozesse zugleich wird dadurch erreicht, daß die Vpn irgendwelche variierende Aspekte von dargebotenen Bildern in Betrachtungsdauer kodieren. Praktisch sieht das so aus, daß zu Beginn der längeren Produktion ein Bild erscheint, z.B. 3 längliche Rechtecke (mmmm mmmm mmmm ). Jedesmal, wenn die Vp mit einem Griffel ein Plättchen berührt, wechselt unmittelbar das Bild: Es erscheinen jedesmal Rechtecke von unterschiedlicher Länge (z. B. mm mm mm oder m m m m m m). Die Vp hat nun den Auftrag, den Bildwechsel zeitlich so zu strukturieren, daß die Betrachtungsdauer jedes einzelnen Bildes ungefähr proportional zur Länge der Rechtecke auf dem betreffenden Bild ist. Das heißt: Je kürzer die Rechtecke, desto kürzer die Betrachtungsdauer, und je länger die Rechtecke, desto länger die Betrachtungsdauer; natürlich werden auch der umgekehrte Kodierschlüssel sowie auch andersartiges Bildmaterial eingesetzt. In der Wahl der Dauer der einzelnen Betrachtungsintervalle ist die Vp völlig unbeeinflußt und frei mit Ausnahme der Restriktion, daß gleiche Strichlängen nach Möglichkeit in stets gleiche Betrachtungsdauern kodiert werden sollen, und zwar ohne jedes Zählen oder Taktieren. Die meisten Vpn lernen und stabilisieren diese Kodiertätigkeit im Verlauf von 2 bis 5 Sitzungen zu einer erstaunlichen Regelmäßigkeit. Trotz der offensichtlichen Monotonie empfinden praktisch alle Vpn diese Tätigkeit als eine anspruchsvolle und vor allem faszinierende Aufgabe.
Die Bilderreihen werden elektronisch erzeugt und auf einem Oszillographen dargeboten. In einer Variante kommen auch Dia-Serien zur Verwendung. Pro Versuchseinheit, d. h. im Zeitraum der von der Vp produzierten n Minuten, werden gewöhnlich zwei bis vier verschiedene Bilder oder Bildklassen mit einer irrelevanten Variation innerhalb der Klassen in zufälliger Reihenfolge und mit bestimmten Wahrscheinlichkeiten dargeboten. Die physische Dauer jedes einzelnen Betrachtungsintervalls wird elektronisch gemessen. Ein kleiner Rechner erlaubt die unmittelbare Verarbeitung, Speicherung und Darstellung dieses zeitlich komplex strukturierten Verhaltens in Form von Häufigkeitshistogrammen über der Betrachtungsdauer. Pro Versuchseinheit fallen als Ergebnis jeweils ein Häufigkeitshistogramm der Betrachtungsdauern sowie ein Wert für die produzierte Dauer des längeren Intervalls an. Letzteres wird zum Zweck der Vergleichbarmachung als Quotient (Produktion durch Standard) verrechnet und einer logarithmischen Transformation unterzogen; die resultierenden u-Werte zeigen bei 500 die Obereinstimmung der inneren mit der sozial-physikalischen Uhr an; u < 500 bedeutet Unterproduktion, z.B. entspricht u = 403 einer Produktion von 80% des Standards; u > 500 bedeutet Oberproduktion, z. B. u = 579 entspricht 140%.
Einige Ergebnisse und ihre Bedeutung
In der geschilderten Versuchsanordnung sind sicher eine Reihe von Faktoren wirksam, die ich experimentell nicht (oder noch nicht) beherrsche. Die relativ großen Streuungen nötigen, jeweils über eine gewisse Zahl von Versuchseinheiten Durchschnitte zu bilden. Innerhalb dieser Klassen, die in der Regel aus Daten desselben oder wenigstens unmittelbar aufeinander folgender Versuchstage einer Vp gebildet sind, ist eine Spontanvariation des Zeitverhaltens gegeben, welche sich einerseits als Prüfstreuung eignet (und zwar als recht konservative Prüfstreuung, die nur deutliche Effekte akzeptiert), und welche anderseits auch zur Hypothesenbildung für das weitere Experimentieren herangezogen werden kann.
Abbildung 1. Häufigkeitsdiagramme und durchschnittliche u-Werte der Versuchsperson FJ in einem 4x4Versuchsplan mit zwei Betrachtungsdauer-Klassen. Die Sitzung B erfolgte am Tage nach der Sitzung A um dieselbe Uhrzeit. Der Standard der längeren Produktion betrug eine Minute. Jedes einzelne der 16 Histogramme ist die Summe, und der zugehörige u-Wert ist der Durchschnitt von vier Versuchseinheiten. Je höher die Punkte über der jeweiligen Grundlinie liegen, desto mehr Betrachtungsintervalle der betreffenden Dauer sind von der Versuchsperson hergestellt worden. Eine doppelte Varianzanalyse ergibt, bei nichtsignifikanter Spaltenwirkung und Spalten x ZeilenWechselwirkung, auf dem 5%-Niveau gesicherte Unterschiede zwischen den Zeilen (F = 3,28 bei 3 und 57 Freiheitsgraden). Die Zeilenunterschiede erklären 16,6 Prozent der erfaßten Varianz.
Die Abbildung 1 enthält die Ergebnisse von insgesamt 64 Versuchseinheiten einer Vp. Durch ein entsprechendes Angebot von Rechtecklängen wurde die Vp zur Herstellung von 2 Klassen von Betrachtungsintervallen, nämlich von relativ kürzerer und von relativ längerer Dauer, induziert. In jeder Spalte sind die kürzeren Betrachtungsdauern konstant gehalten (die linken Verteilungsberge, die jeweils ziemlich genau übereinander liegen), während die längeren Betrachtungsdauern in 4 Stufen manipuliert worden sind. Mit zunehmender Dauer des längeren Betrachtungsintervalls (von oben nach unten) nimmt die subjektive Dauer der produzierten Minute sukzessive ab (u-Werte). Dieses Ergebnis widerspricht natürlich der naiven Erwartung, daß längere Einheitsdauern zu längeren Dauerschätzungen führen müßten. Ebenfalls im Widerspruch zur Voraussage, welche die Theorie von FRAISSE (19672) machen würde -- je dichter die Ereignisse, desto schneller die innere Uhr, desto kürzer die Produktion --, tritt also bei der Herstellung des längeren Intervalls eine Kompensation für die länger werdenden Betrachtungsintervalle ein, und zwar eine Überkompensation.
Abbildung 2. Häufigkeitshistogramme und durchschnittliche u-Werte der Versuchsperson FK in drei Versuchsplänen mit je drei Betrachtungsdauer-Klassen. Die Sitzungen A, B und C erfolgten an drei verschiedenen Tagen. Die Zahl der Versuchseinheiten pro Histogramm beträgt 5 im Versuchsplan 1, 9 im Versuchsplan 2 und 7 im Versuchsplan 3. Die Prüfung der Unterschiede zwischen den u-Werten erfolgte in separaten einfachen Varianzanalysen (siehe Text).
Tabelle 1 Signifikanzniveau der Mittelwertunterschiede (SN) und Prozentsatz der Varianz (PV) in den u-Werten, die durch unterschiedliches Reizangebot bei 3 Standardlängen der Produktion erklärt werden (Vp : FK)
Standard | Variation der Betrachtungsdauera | |||||
---|---|---|---|---|---|---|
kurz | mittel | lang | ||||
SN | PV | SN | PV | SN | PV | |
1/2 Minute | ||||||
1 Minute | ||||||
2 Minuten |
- a Bei Konstanthaltung der beiden übrigen Betrachtungsdauern.
- b p < .0l.
- c p < .05.
Auf dem Hintergrund des oben skizzierten multiplen Modells der inneren Uhr würde dies bedeuten, daß hier zwei verschiedene Teilprozesse manifest geworden sind, von denen sich nur einer für Dauerschätzungen von 1 Minute als relevant erweist, und zwar in einer Art und Weise, die den Schluß auf den Systemcharakter des Gesamtprozesses nahelegt. In Abbildung 2 sind Ergebnisse einer andern Vp zusammengefaßt, wobei von 3 Klassen von Betrachtungsdauern jeweils 2 konstant gehalten und die dritte in 4 Stufen variiert worden ist. Während in den beiden unteren Versuchsplänen die Variation von kurzen und mittleren Betrachtungsdauern ohne Einfluß auf die Dauer der längeren Produktion bleibt, ergibt im obersten Versuchsplan die Variation der langen Betrachtungsdauern eine deutliche systematische Variation der u-Werte, die den oben dargestellten Resultaten entspricht. Tabelle 1 gibt weitere Resultate derselben Vp im Überblick. Von 3 manifestierten Teilprozessen der multiplen Uhr scheint demnach nur der längste für Dauerschätzungen in der Größenordnung von Minuten relevant zu sein.
Der Anspruch auf allgemeinere Gültigkeit dieser Aussagen sei durch die in Abbildung 3 dargestellten Ergebnisse dreier weiterer Vpn bekräftigt. Die Histogramme (in logarithmischer Ordinatenskala) zeigen deutlich, daß jede Vp trotz des gleichen Reizangebotes ganz unterschiedliche Dauern der kurzen, mittleren und langen Betrachtungsintervalle wählt. In jedem Fall nehmen jedoch mit der Verlagerung des Zeitverhaltens auf längere Betrachtungsdauern die u-Werte ab.
Abbildung 3. Häufigkeitshistogramme, durchschnittliche u-Werte und Summenkurven von drei Versuchspersonen mit drei Betrachtungsdauer-Klassen. Die Manipulation des längsten Betrachtungsintervalles erfolgte hier durch ein unterschiedliches Angebot an Diapositiven, wobei die Dichte von zufälligen Lichtpunktanordnungen in Betrachtungsdauern zu kodieren war. Bei allen Versuchspersonen war im oberen Histogramm gegenüber dem unteren ein Teil der Dias mit mittlerer Dichte durch solche mit höherer Dichte ersetzt worden. Die statistische Beurteilung der Unterschiede in den u-Werten ist hier wegen der erwartungsgernäss signifikanten Interaktion Versuchspersonen X Reizstufen problematisch.
In den kumulativen Summenkurven wird noch deutlicher die jeweilige Übereinstimmung bei den kurzen und die relative Verlagerung von den mittleren auf die langen Betrachtungsdauern erkennbar. Bei Vp MH kommt es zu einer Art Kontrastbildung im Gesamtsystem, insofern hier die Vermehrung der längeren Betrachtungsdauern eine relative Verkürzung der mittleren zur Folge hat.
Wenn ich die gesamten bisher vorliegenden Ergebnisse von 10 Vpn vorsichtig zusammenfassend zu interpretieren wage, dann lassen die demonstrierten Abhängigkeiten die folgenden Verallgemeinerungen zu: (1) Die Verteilungen der Betrachtungsdauern haben Systemcharakter, d. h. es werden nicht beliebige, sondern bevorzugt Intervalle von bestimmter Dauer hergestellt, und häufig zieht die Veränderung eines Intervalls Verschiebungen in andern nach sich. (2) Die Betrachtungsdauerverteilungen sind in systematischer Weise für das Zeitverhalten relevant, insbesondere für Schätzungen in der Größenordnung von wenigen Minuten.
Es dürfte sich also wohl lohnen, durch parametrische Untersuchungen, verbunden mit einer vorsichtigen Mathematisierung, die Vorstellung der multiplen inneren Uhr in ein präziseres Modell umzusetzen. Ein Ansatz zu einer echten Alternative zum mechanistischen Einheitenzählmodell liegt hier vor, welcher vielleicht formal nicht so leicht zu bewältigen sein wird, welcher jedoch viel besser zu unserem allgemeinen Wissen vom Wahrnehmen und vom Handeln paßt.
Note
[1] Mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung, Projekt Nr. 5247.1. <<<<<
BERGIUS, R. 1969. Vom Zeitsinn zum Verhaltensparameter Zeit. In: IRLE, M. (Ed.) Bericht über den 26. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Psychologie Tübingen 1968. Göttingen: Hogrefe. p. 1-21.
BRECHER, G. A. 1932. Die Entstehung und biologische Bedeutung der subjektiven Zeiteinheit des Moments. Zeitschrift für Vergleichende Physiologie 18, 204-243.
COLERIDGE, T. S. 1817. Biographia Literaria (Republikation: 1908. London: Dent).
CREELMAN, C. D. 1962. Human discrimination of auditory duration. Journal of the Acoustical Society of America 34, 582-593.
FRAISSE, P. 1967, 2. Aufl. Psychologie du temps. Paris: Presses Universitaires de France.
LANG, A. 1970. Ober den Primat der subjektiven Wahrnehmungsdimension, dargestellt am Beispiel der Zeitpsychologie. Schweizerische Zeitschrift für Psychologie und ihre Anwendungen 29, 45-51.
LANG, A. 1971 (a). Die innere Uhr als multiples System: Beitrag zur Psychologie der Zeitwahrnehmung und des Zeitverhaltens. Bern: Psychologisches Institut der Universität Bern (Unveröffentlichtes Manuskript).
LANG, A. 1971 (b). Psychologie der Zeit. In: ARNOLD, W., EYSENCK; H. J. 8r MEILI, R. (Ed.) Lexikon der Psychologie. Band 1. Freiburg i. Br.: Herder. p. 38-43.
MICHON, J. A. 1967. Timing in temporal tracking. Soesterberg (Niederlande): Institute for Perception RVO-TNO.
MILLS, J. N. 1966. Human circadian rhythms. Physiological Review 46, 128-171.
MÜNSTERBERG, H. 1889. Beiträge zur experimentellen Psychologie, Heft 2. Freiburg i. Br.: Siebeck.
SOLLBERGER, A. 1965. Biological rhythm research. New York: Elsevier.
STROUD, J. M. 1955. The fine structure of psychological time. In: QUASTLER, H. (Ed.) Information theory in psychology. Glencoe, Ill.: Free Press. p. 174-207.
STROUD, J. M. 1967. The fine structure of psychological time. Annals of the New York Academy of Science 138, 623-631.
TREISMAN, M. 1963. Temporal discrimination and the indifferente interval: Implications for a model of the "internal clock". Psychological Monographs 77 (13, Whole No. 576).
VON BAER, K. E. 1864. Welche Auffassung der lebenden Natur ist die richtige? In: VON BAER, K. E. (Ed.) Reden, gehalten in wissenschafflichen Versammlungen, und kleinere Aufsätze vermischten Inhalts. 1. Teil: Reden. Rede No. 5, gesprochen 1860. St. Petersburg: Schmitzdorff. p. 237-283.
VON HOLST, E. 1937. Vom Wesen der Ordnung im Zentralnervensystem. Naturwissenschaften 25, 625-631, 641-647.
VON UEXKÜLL, J. 1928, 2 Aufl.. Theoretische Biologie. Berlin: Springer.