Alfred Lang | ||
Conference Presentation 1971 | ||
Schwierigkeiten einer ökologischen Psychologie | 1971.03 | |
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Habilitationsvortrag, Mai 1971 | © 1998 by Alfred Lang | |
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Manuskript des Vortrags im Mai 1971 vor der Fakultät im Rahmen des Habiliatationsverfahrens. Der Titel wurde von "Schwierigkeiten einer psychologischen Ökologie" in "Schwierigkeiten einer ökologischen Psychologie" geändert, wovon tatsächlich die Rede. Sonst ist der Text bis auf minimale redaktionelle sprachliche Retouchen unverändert. (AL, 1996)
- Methodische Ansätze der Psychologie
- physikalistische Psychologie
- phänomenologische Psychologie
- ökologische Psychologie
- Problem der Untersuchungseinheit
- "Metamethodeninvarianz"
- Konstanzproblem oder die Mehrdeutigkeit von psychophysischen Zuordnungen
- Ökologische Psychologie und psychologische Ökologie
Wenn man voraussetzt, dass es die Aufgabe der Psychologie ist, das Verhalten von Individuen (handelnden Personen, Agenten) in gegebenen Situationen zu erklären, dann gibt es drei Klassen von methodischen Ansätzen, um diese Aufgabe anzugehen.
Erstens besteht die Möglichkeit einer physikalistischen Psychologie. Es wird hier die gegebene Situation eindeutig beschrieben, und zwar wird sie in ihren raumzeitlichen Koordinaten und anderen geeigneten makrophysikalischen Dimensionen vermessen. In gleicher Weise wird das Verhalten des Agenten beschrieben, nämlich durch Vermessung der Wirkung, welche der Agent auf die gegebene und nach seiner Handlung veränderte Situation ausübt. Als Beispiele mögen erwähnt werden: Positionsveränderungen des Körpers des Agenten, Verschiebungen oder Verformungen von Gegenständen, oder zeitliche Verlaufe solcher Wirkungen z.B. Frequenzverlauf von Hebelbetätigungen oder der Schallwellen beim Sprechen.
Man stellt unter einem solchen Ansatz rasch fest, dass sich nicht alle Individuen in einer gegebenen Situation gleich verhalten, und folgerichtig versucht man, in der gleichen makrophysikalischen Sprache Merkmale an den Organismen zu registrieren, welche die Verhaltensvorhersagen (und damit die Erklärung) verbessern könnten, z.B. das Alter des Agenten, das Frequenzspektrum seiner Hirntätigkeit usf.
Die funktionellen Zusammenhänge zwischen solchen reizmässigen, organismischen und verhaltenseffektiven Grössen stellen unter dem physikalistischen Ansatz die psychologische Theorie dar. Es ist leicht einsichtig, dass in den meisten Fällen die verfügbaren Messgrössen zur eindeutigen Formulierung einer Funktion nicht ausreichen, so dass man genötigt ist, im Rahmen sog. black-box-Modelle weitere hypothetische Grössen, sog. intervenierende Variablen, auf gut Glück zu erfinden.
Unter diesem Ansatz haben in grossem Massstab vor allem der Behaviorismus und die Reflexologie in ihren Spielarten zweifellos eine Reihe von interessanten Gesetzmässigkeiten aufgedeckt. Aber es ist nicht zu verkennen, dass die gesicherten Erkenntnisse jeweils nur sehr spezielle und isolierte Einzelbereiche betreffen und überwiegend zu kaum verallgemeinerbaren und schon gar nicht integrierbaren Miniaturtheorien geführt haben. (Physikalistische Lerntheorien sind denn auch weitgehend irrelevant für Lernen und Lehren!) Anderseits sind die so gewonnenen Erkenntnisse in der Regel hochgradig öffentlich-wissenschaftlich, weil die zu ihrer Findung und Sicherung benutzten Verfahren operationalisiert sind und im Prinzip von jedermann nachvollzogen werden können.
Unter der physikalistischen Vorgehensweise ist anscheinend die Erklärung eines Sachverhalts oder Prozesses fast ausschliesslich am Erklärungsgegenstand selbst angesetzt. Die Rolle des Erklärenden - abgesehen natürlich von seiner heuristischen Funktion - ist auf extrem reduzierte Phänomene beschränkt. Im Idealfall hat er nur Zeigerablesungen zu machen, und auch diese nimmt ihm die moderne Technik mehr und mehr ab. Alle übrigen Teile der Erklärung, d.h. sowohl der Aufbau dieser Messvariablen (ihre Operationalisierung) wie auch die Struktur ihrer funktionalen Zusammenhänge (die Theorie) sind weitgehend expliziert.
Für einen solchen Objektivitätsgrad muss naturlich ein Preis bezahlt werden. Dieser wird sichtbar, wenn wir dem physikalistischen Ansatz die phänomenologische Psychologie gegenüberstellen. Hier sind weder die Verbindungen zur Erfahrungswelt, die Phänomene, die der Erklärende "hat", noch die Struktur der Zusammenhänge zwischen ihnen, die psychologische Theorie, durch öffentlich-wissenschaftliche Operationen definiert. Man könnte sagen, die Phänomene und die Theorie sind dem Erklärenden implizit. Das hat zur Folge, dass jeder Erklärende notwendig seine nur ihm eigene Erklärung entwirft. Natürlich versucht er, zumeist indem er auf Beispiele der Phänomene hinweist und verbale Abbilder der Theorie zu Papier bringt, seine Erklärung andern Wissenschaftlern zur Kenntnis zu bringen. Die Wissenschaftsgeschichte der älteren Psychologie scheint nicht zu bestätigen, dass solchen Bemühungen sehr viel Erfolg beschieden ist, gibt es doch wohl mindestens soviele Psychologien wie Psychologen und wahrscheinlich mehr, weil viele im Lauf ihres Lebens mehrere Systeme entworfen haben. Das in diesem Bereich herrschende Sprachenchaos ist enorm. Ein Beispiel dafür ist die Psychoanalyse, welche im beschriebenen Sinn als ein Bündel von privaten phänomenologischen Psychologien in Anlehnung an diejenige ihres Begründers gelten muss. Das spekulative System FREUDs, weil es nicht hinreichend empirisch gesichert und also nicht öffentlich wissenschaftlich ist, hat bloss den Charakter einer Orientierungshilfe für die privaten Psychologien der andern Psychoanalytiker. Was letztere daraus an Nicht-Zutreffendem übernehmen, bleibt natürlich auch weiterhin irreführend, beispielsweise die falsch an gelegte Motivationstheorie FREUDs und die darauf abstellenden, populär gewordenen, aber nicht verifizierbaren Behauptungen über Aggression und Aggressivität.
Anderseits ist es der grosse Vorteil der phänomenologischen Ansätze, dass sie Problemstellungen von fast beliebiger Natur und Komplexität in Angriff nehmen können. Wir alle sind in unserem Alltag phänomenologische Psychologen, und zwar gar nicht schlechte - abgesehen natürlich von den Schnitzern und Patzern, die wir häufig begehen. Es ist nicht abzusehen, wie wir anders in dieser Welt fortbestehen und uns durchsetzen könnten, ohne überzufällig richtige Voraussagen über das Verhalten der andern zu machen, und das heisst eben einigermassen gültige Erklärungen verfügbar haben.
Der phänomenologische Psychologe glaubt also, die Verhaltensbedingungen eines Agenten, nämlich die ihn beeinflussende Umweltssituation sowie seinen Zustand, seine Fähigkeiten, Motive und Intentionen einigermassen direkt erfassen und/oder erschliessen zu können. Dass er sich dabei leider allzuoft irrt, war eine der ersten Einsichten der frühen angewandten Psycholoyie. (Darauf fusst die Bemühung zur Entwicklung von Hilfsmitteln, insbesondere dir gesamte Testpsychologie. Diese Hilfsmittel schneiden zwar gegenüber den unmittelbaren Beurteilungen etws besser ab; aber vor Irrtümern mit manchmal schwerwiegenden Folgen vermögen sie durchaus nicht zu schützen. Das ist eine wichtige Einsicht der angewandten Differentialpsychologie des vergangenen Jahrzehnts.) Denn man stellt fest, dass zwei "Psychologen" von einer gegebenen Situation haufig unterschiedliche Beschreibungen geben. Entweder muss also mindestens einer vnn ihnen die gegebene Situation und das Verhalten des Agenten inadäquat erfasst und falsche Schlussfolgerungen gezogen haben, oder sie sind zumindest nicht in der Lage gewesen, ihre Feststellungen und "Erklärungen" in unmissverständlicher Weise einem Dritten mitzuteilen. Aber sogar dann, wenn verschiedene Beobachter gleiche Beschreibunqen geben, steht noch nicht unbedingt fest, dass sie einen Sachverhalt adäquat registriert haben. Beispielsweise hat NORMAN (1963) gezeigt, dass Urteilen von Studenten über andere Studenten die gleichen Bedingungen zugrunde liegen, ob die Beurteiler ihnen bisher Unbekannte während weniger Minuten schweigend auf einem Stuhl sitzen sehen oder ob sie ihnen wohl vertraute Kommilitonen beurteilen. Die Frage stellt sich also, zu welchem Anteil solche Personwahrnehmungen durch die Eigenschaften des Wahrnehmungsgegenstandes oder durch den Kategorienraster des Beobachters determiniert sind.
Damit scheint es mir, dass die phänomenologische Psychnlogie in ein Dilemma führt, welches nur durch einen Verzicht auf eine intersubjektive Wissenschaft gelöst werden kann. Man kann zuwar sehr komplexe Sachverhalte einer Erklärung zugänglich machen, aber die Gültigkeit der Erklärung lässt sich nicht sichern. Ich weiss aber nicht, ob wir uns leisten konnen, das Verhalten der Menschen unerklärt zu lassen, nachdem wir in der wissenschaftlichen Erfassung der übrigen Natur sehr weit gegangen sind und es immer Menschen sind, welche über die darauf gründenden technischen Möglichkeiten verfügen.
Ich würde nun dem phänomenologischen Psychologen zugestehen, dass er zumindest insofern recht hat, als er den Ort der Erklärung vom Erklärungsgegenstand weg an einen dritten "Ort" verlegt. Denn der Erklärungsgegenstand umfasst eine unendliche Menge von Teilen oder Aspekten -- das Individuum wird von einer nicht aufzählbaren Menge von Weltdingen her beeinflusst und wirkt ebenfalls in eine nicht aufzählbare Menge von solchen hinaus --, während eine Erklärung, soll sie rational sein, stets nur eine endliche Menge von Elementen berücksichtigen kann. Das hat zur Folge, dass eine Erklärung eines psychischen Voranges immer nur approximativ sein kann, bzw. nur unter spezifizierten Grenzbedingungen gilt. Denn das offene System des Erklärungsgegenstandes muss zuerst in ein geschlossenes System, die Theorie, überführt werden, welches nicht mehr der Erklärungsgegenstand selbst ist, aber diesen bestenfalls in relevanten Aspekten repräsentieren kann. Der phänomenologische Psychologe begibt sich nun jedoch zum vornherein der Möglichkeit, die Grenzbedingungen seiner Erklärung und damit auch ihren Approximationsgrad zu spezifizieren, weil hier das repräsentierende System, das heisst die Theorie in seinem Bewusstsein und deren verbaler Schattenriss auf dem Papier, wiederum ein offenes System mit einer nichtendlichen Menge von Elementen darstellt.
Anderseits verkennt der physikalistische Psychologe, insofern er beansprucht, die zu erklärenden Sachverhalte wirklich objektiv, d.h. unabhängig vom Erklärenden selbst zu vermessen, dass seine Zeigerablesungen letzlich immer ein Phänomen sind, welches nur er allein genau auf diese Weise "hat", und dass eine explizierte Theorie immer auch die Struktur seiner eigenen Denkmöglichkeiten mit enthält. Allerdings legt er zwischen Phänomen und Erklärungsgegenstand eine Messeinrichtung, durch welche per conventionem eine ausserordentlich hohe Intersubjektivität der Feststellungen gesichert wird. Aber wiederum gehen in den Aufbau dieser Messeinrichtungen bereits die Eigenheiten seiner perzeptiv-kognitiven Organisation mit ein.
Dabei läuft er Gefahr, um der Einhaltung dieser Messkonventionen willen seinen Gegenstand zu verfehlen. Denn die physikalischen Variablen, die ja letztlich aus komplexeren Phänomenen zum Zweck der Beschreibung und Erklärung von andersartigen Naturereignissen abgeleitet worden sind, sind nur auf ausserordentlich weiten Umwegen wieder auf das zu beziehen, was dem phänomenologischen Psychologen ganz selbstverständlich als der eigentliche Gegenstand seiner Bemühung erscheint: die Bedeutungen der gegebenen Situationen und der Handlungen des Agenten. Ich will dies nur an einem einfachen Beispiel zu demonstrieren versuchen: man kann sehr wohl das Klopfen an die Tür und das Aufstehen, zur Tür Gehen und die Türe öffnen mit Hilfe eines Systems von Differentialgleichungen über Bewegung von Massen beschreiben; aber dass ein Mensch einen andern besucht und von ihm vielleicht bloss höflich, vielleicht freudig empfangen wird: das in physikalischen Grössen auszudrücken, wäre schon eine vertrackt schwierige Aufgabe.
Ich meine, dies liesse sich dann erreichen, wenn man als phänomenologischer Psychologe eine Zielvorstellung entwickelt, worauf es nun bei diesem Sachverhalt ankommen könnte, um dann gewissermassen physikalistisch eine hinreichend gute Approximation daran in Form operationalisierter Variablen zu realisieren. Damit habe ich nun gewissermaßen auf einem dialektischen Umweg zu zeigen versucht, was mit dem dritten methodischen Ansatz, der ökologischen Psychologie, gemeint sein soll. Die ökologische Psychologie kann als eine Synthese aus physikalistischer und phänomenologischer Psychologie dargestellt werden. Sie ist, im weiten Sinn des Wortes physische und soziale Umwelt einschliessend, ein methodischer Ansatz, der von Bedeutungseinheiten der Individuum-Umwelt-Interaktion ausgeht.
Und damit habe ich Sie auch schon mitten in die vielleicht bedeutendste Schwierigkeit der ökologischen Psychologie und möglicherweise der Psychologie überhaupt hineingeführt: namlich das Problem der Untersuchungseinheit.
In einer ökologischen Psychologie sind die Untersuchungseinheiten psycho-ökologische Bedeutungseinheiten, Wie sollen sie abgegrenzt werden? Ist nicht zu erwarten, dass die Antworten auf eine Problemstellung unter Umständen ganz verschieden ausfallen, je nach dem, was für nicht weiter reduzierte Elementargegebenheiten ausgeschieden und in welchem Kontext ihre Beziehungen untersucht werden? Mit Untersuchungseinheit meine ich im folgenden sowohl die elementaren Einheiten (auf der Ebene der Protokollsätze) wie auch die gesamte Beziehungshierarchie solcher Elemente, welche im Hinblick auf eine gegebene Fragestellung ausgewertet wird. Denn diese sind wie Teile und Ganzes einer Struktur, sie bedingen einander wechselseitig.
In der phänomenologischen Psychologie gilt natürlich das als Untersuchungseinheit, was einem Beobachter als einheitlich erscheint. Abgesehen von der mangelnden Intersubjektivität solcher Untersuchungseinheiten scheint dies eine beträchtliche Gefahr der willkürlichen Zweckorientiertheit der Wissenschaft mit sich zu bringen. Es ist nicht schwer, Resultate der sog. social perception-Forschung zusammenzustellen, welche belegen, dass Wahrnehmungen in sehr hohem Mass von Werthaltungen beeinflusst sein können Der Beobachter ist geneigt, die Phänomene unter dem Einfluss von Erwartungen oder Befürchtungen usf. zu entstellen, bzw. zu berücksichtigen, was ins Konzept passt und zu übersehen, was ihm widerspricht. Natürlich haben die Gestaltpsychologie und ihre Vorläufer (v.a. RUBIN) eine Reihe von Prinzipien angegeben, welche über das Aussondern von Einheiten, die Abhebung der Figur vom Grund, bestimmen. Es handelt sich dabei aber um eine unvollständige Liste, und die Übertragung dieser Prinzipien auf andere Bereiche als einfache Wahrnehmungsgegenstände ist äusserst fraglich.
In der physikalistischen Psychologie anderseits ist die Willkür bei der Wahl der Untersuchungseinheit wenn möglich noch grösser. Die herrschenden Kriterien sind hier geradezu die Verfügbarkeit der Messgeräte und die Praktikabilität der Variablen Die typische Antwort von Behavioristen auf die Frage, was sie forschen, gibt nicht eine Umschreibung der Problemstellung, sondern eine Liste der untersuchten Variablen.
Blättert man Lehr- und Handbücher auf der Suche nach Kriterien dafür durch, wie denn eigentlich der Psychologe dazu kommt, jeweils gerade jene Aspekte für eine Fragestellung zu berücksichtigen, die er berücksichtigt, und nicht mehr oder andere oder weniger, so kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass wir das Problem der Einheitenbildung in der Psychologie tabuisiert haben. Erwarten Sie also nicht von mir, dass ich Ihnen heute eine Lösung dieser Frage vorlege. Das Problem ist extrem schwierig; aber auch enorm wichtig.
Bei näherem Zusehen habe ich Ihnen nämlich als physikalistische und phänomenologische Ansätze zwei Strohpuppen vorgegaukelt, die es in reiner Form nicht gibt, obwohl sich natürlich ihre beidseitigen Vertreter nach Kräften zerzausen, wenn sie nicht vorziehen, sich verächtlich vom andern abzuwenden. Aber wenn es an die Festlegung von Untersuchungseinheiten geht, dann kann man immer wieder feststellen, dass auch der abgebrühteste Physikalist zur phänomenologischen Methode greift und umgekehrt. Denn wie anders käme der Behaviorist dazu, ein Hebeldrücken oder das Kuchenessen seiner Ratten als Verhaltenseinheiten in sein Kalkül einzusetzen, wenn es sich dabei nicht um phänomenale Einheiten handelte? Und insofern ist auch jeder Phänomenologe ein bisschen Physikalist, wenn er etwa räumliche oder zeitliche Erfahrungen auf dem Hintergrund eines homogenen und isotropen bzw. isochronen Kontinuums verarbeitet; denn vergleichende Skalierungsbefunde in verschiedenen Raumrichtungen belegen unzweideutig, dass der Raum der unmittelbaren Erfahrung durchaus nicht isotrop ist, und ebensowenig lässt sich Zeitverhalten durch ein isochrones Modell der inneren Uhr erklären. Ist also vielleicht die Phänomenologie des Alltags mit einem Anstrich von Allerweltsphysik überzogen, welcher jedermann in unserer Kultur ausgesetzt ist? Kulturvergleichende und entwicklungspsychologische Untersuchungen zur Raum- und Zeitwahrnehmung scheinen diese Annahme zu stützen.
So gesehen wäre also eigentlich jede Psychologie gewissermassen von selbst "ökologisch", also Mensch und Umwelt einschliessend. Durch die dialektischen Extreme, die ich zu schildern versucht habe, ist jedoch ein weiter Bereich angegeben, innerhalb dessen die Wahl der Untersuchungseinheiten der Willkür des Untersuchers bzw. der Tradition der Forschung anheimgestellt ist. So ist der ökologische Ansatz streng genommen nur dann sinnvoll, wenn er ausdrücklich unter dem Gesichtspunkt thematisiert wird, dass Kriterien für die Wahl der Untersuchungseinheit angegeben werden können.
Im Hinblick auf die Erarbeitung solcher Kriterien möchte ich ein Postulat zur Diskussion stellen, von dem ich allerdings gleich betonen muss, dass ich noch nicht absehe, wohin und wie weit es mich führen wird. Es basiert auf der vorher diskutierten Voraussetzung, dass eine Erklärung stets nur in einem geschlossenen System möglich ist, also z.B. in einer endlichen Menge von Sätzen enthalten sein muss. Im Prinzip stellt, wie eingangs dargestellt, der funktionale Zusammenhang zwischen einer Reihe von Messgrössen ein System von empirischen Sätzen und mithin eine Erklärung dar. Solche empirischen Erklärungen haben allerdings in der Regel einen begrenzten Allgemeinheitscharakter. Dieser ist umso grösser, je umfassender die Methodeninvarianz der in ihnen enthaltenen Begriffe ist. Die meisten physikalischen Begriffe sind hochgradig methodeninvariant, weil mehrere verschiedene Operationen oder konkrete Messvorschriften in einem gegebenen Fall zu gleichen Messwerten führen oder jedenfalls zu Messwerten führen, welche rational aufeinander bezogen sind. Extrem niedrig ist infolge ihres privaten Charakters die Methodinvarianz von phänomenologischen Aussagen. Die meisten Wissenschaften streben darnach, ihre empirischen Sätze in Systemen von formalen Sätzen (mathematische, logische Kalkül, etc.) derart zu repräsentieren, dass geregelte Operationen in der Struktur der formalen Sätze Rückschlüsse auf eine nicht identische Menge von empirischen Sätzen erlauben. Das heisst, wenn einmal feststeht, dass eine gegebene formale Struktur eine bestimmte empirische Struktur gültig repräsentiert, dann sind auf Grund der in der formalen Struktur zulässigen Regeln Voraussagen über Veränderungen in der empirischen Struktur möglich, welche nicht schon vorher bekannt waren. Die formale Struktur ist dann eine viel allgemeinere Erklärung als die Struktur der empirischen Sätze selbst, aber nur dann, wenn formale und empirische Struktur einander so zugeordnet sind, dass aus unterschiedlichen Methoden stammende empirische Strukturen die gleiche formale Struktur enthalten. D.h die formale Struktur muss für Gruppen von empirischen Sätzen invariant sein. Ich möchte dies mit dem Ausdruck Metamethodeninvarianz bezeichnen und als Kriterium für die Abgrenzung von echten Untersuchungseinheiten vorschlagen. M.a.W. genau jene Menge von empirischen Sätzen definieren eine Untersuchungseinheit, welche metamethodeninvariant sind, derart dass empirische Variablenänderungen stets zu formalen Variablenänderungen führen, aber niemals die Weglassung oder Hinzunahme von formalen Elementen erfordern.
So ganz abstrakt klingt das Postulat der Metamethodeninvarianz zunächst vielleicht plausibel; schwieriger und nicht abzusehen ist, wie gesagt, seine Realisierung. Eine (unvollständige) Reihe von Konsequenzen kann ich nur nennen, nicht ausführen: Das Prinzip zwingt jedenfalls die Psychologie zu einem ökologischen Ansatz, weil es in phänomenologischen Ansatz nicht nachprüfbar ist (empirische und formale Sätze sind ununterscheidbar und das Erklärungssystem ist nicht geschlossen) und weil im physikalistischen Ansatz die Wahrscheinlichkeit seiner Erfüllbarkeit bei nicht-trivialen Gegenstandsbereichen einfach zu klein ist. Gleichzeitig schützt es wenigstens im Nachhinein eine ökologische Theorie gegen Unverbindlichkeit und vor Dogma, indem es Grenzbedingungen für die Synthese von physikalistischer und phänomenologischer Psychologie setzt, ohne im geringsten eine inhaltliche noch eine systemfremde formale Einschränkung aufzuerlegen. Das Prinzip sichert ferner den methodischen Primat der Theorie, weil per Induktion nie mit Sicherheit ein formales System angegeben werden kann, welches eine offene Klasse von empirischen Sätzen in der beschriebenen Weise ein-mehrdeutig repräsentiert. Weiter enthält das Prinzip der Metamethodeninvarianz möglicherweise eine gewisse Garantie gegen nicht-rationale Transformationen zwischen mehreren empirischen Sprachen, beispielsweise bei der Reduktionsbemühung psychologischer Konstrukte auf physiologische Prozesse. Noch nicht überschaubar sind für mich die Konsequenzen in bezug auf solche probabilitischen Theorien in denen die Elemente ausschliesslich hypothetischer Natur, also nicht auch Gegenstand der empirischen Sätze sind. Sollte meine Vermutung zutreffen. dass in solchen Theorien infolge der Unbestimmtheit der formalen Struktur das Kriterium der Metamethodeninvarianz nicht anwendbar ist, so hätte man einen guten Grund, die unabsehbare Proliferation von bloss mathematisch interessanten, aber empirisch irrelevanten Modellen zu verhindern. Auf probabilistische Modelle mit empirisch identifizierbaren stochastischen Elementen, sollte das Kriterium durchaus anwendbar sein.
So weit zum Problem der Untersuchungseinheit und einer Möglichkeit ihrer Bestimmung. Ich möchte nun zum Schluss auf eine andere Schwierigkeit der ökologischen Psychologie eingehen, die eng mit dem Einheitenproblem zusammenhängt und vielleicht geeignet ist, die obigen Überlegungen etwas zu konkretisieren. Das ist das sogenannte Konstanzproblemoder die Mehrdeutigkeit von psychophysischen Zuordnungen.
"Konstanzproblem" ist eine merkwürdige Bezeichnung, weil derselbe Auzsdruck für zwei völlig konträre Prinzipien verwendet wird. Zur Vereinfachung seien die folgenden Ausführungen auf den Bereich der Wahrnehmung beschränkt, also jenen Ast der psycho-ökologischen Beziehung, der die Aufnahme von Information und ihre Verarbeitung im unmittelbaren Erleben betrifft. Die Operationalisierung von Wahrnenmungen ist mit Hilfe von psychophysischen Skalen zwar nicht problemlos aber doch einigermassen gut möglich.
Der klassischen Wahrnehmungspsychologie liegt die sogenannte Konstanzannahme zugrunde (die Bezeichnung von KÖHLER war polemisch gemeint. Unter der Konstanzannahme wird der perzeptive Apparat als passiver Aufnehmer aufgefasst; zwischen den Elementen der Reizwelt einerseits und den Elementen der Empfindung oder Wahrnehmung anderseits bestehe, so wird postuliert, eine direkte und eindeutige Korrespondenz. Infolge der angeblich passiven Natur der Informationsübertragungs-Kanäle ist dieselbe eindeutige Korrespondenz auch auf allen Zwischenstufen zwischen Reizquelle und Phänomen impliziert.
Problematisch für diese Konstanzannahme erwies sich schon früh die Möglichkeit von Wahrnehmungstäuschungen, was zur Trennung von Empfindung (periphere Aufnahme, unter Wahrung der Korrespondenz) und Wahrnehmung führte (zentrale Weiterverarbeitung, unbewusste Schlüsse, wo erst die "Entstellungen" sekundär hineinkommen sollen). Das Konzept der Empfindung liess sich jedoch weder operationalisieren, noch gar phänomenanalytisch festlegen.
Vielmehr zeigte sich, dass das Ausmass, in welchem ein Gegenstand der Umwelt in der phänomenalen Welt intentional realisiert ist (Ausdruck von BRUNSWIK), in vielen Fällen gerade dann am grössten ist, wenn Information nicht bloss vom betreffenden Gegenstand allein, sondern von einem weiteren Umfeld des Gegenstandes und weiteren Umständen der Wahrnehmungssituation ins Phänomen einfliessen kann. Dafür hat sich der Ausdruck "Wahrnehmungskonstanz" eingebürgert. Ein schönes Beispiel ist etwa die Grössenkonstanz der Sehdinge: ausserhalb des Greifraumes und innerhalb eines beträchtlichen Teils des Wahrnehmungsraumes, der sich in der Horizontale 30 bis 50 m erstrecken kann, in der Vertikalen freilich wesentlich weniger, sehen wir in der Regel die Gegenstände in "konstanter" Grösse, nämlich etwa in jener Grösse, die ihnen zukäme, wenn wir hingehen und sie dort messen könnten, während natürlich die Grösse ihres Abbildes auf der Netzhaut des Auges umgekehrt proportional zu ihrer Entfernung vom Auge abnimmt. M.a.W., im Phänomen realisieren wir das "konstante" Ding in gewissen Grenzen unabhängig vom perspektivischen Bezug. Es lässt sich nachweisen, dass die Grössenkonstanz entfällt, wenn keine unabhängige Information über die Distanz des betreffenden Gegenstandes verfügbar ist.
Das bedeutet, dass Wahrnehmen nicht ein einfacher Informationsübertragungsprozess sein kann, sondern eine echte Informationsverarbeitung darstellt.
Die psychophysische Relation konvergiert von mehreren physischen auf die eine phänomenale Variable der Grösse. Gleichzeitig kann aber jede einzelne physische Variable im Hinblick auf mehrere verschiedene Phänomene verwertet werden, beispielsweise enthält gerade die Netzhautbildgrösse oder der Sehwinkel eines Gegenstandes Information sowohl über die von weiteren inneren Variablen voneinander separiert werden.
Somit stellt sich die Relation zwischen einem wahrnehmenden Individuum und seiner Umgebung eigentlich stets als eine Überlagerung einer divergenten mit einer konvergenten Informationsverarbeitung. Zur gleichen Festellung kommt übrigens auch die Neurophysiologie; und mit der Relation zwischen Situation und Handlung des Agenten ist es nicht anders. Die Untersuchung entweder physikalistisch auf den konvergenten Ast oder phänomenanalytisch auf den divergenten Ast beschränken zu wollen, führt - abgesehen von trivialen FäIlen - zumeist in die Irre. Die Überlagerung der beiden Äste - BRUNSWIK hat sie anschaulich als "Linsenmodell" bezeichnet ist die psycho-ökologische Relation. Sie ist der Gegenstand des ökologischen Ansatzes in der Psychologie.
Ich hoffe nun, dass es mir einigermassen gelungen ist, Ihnen auch die Bedeutung eines Postulates wie der Metamethodeninvarianz verständlich zu machen. Das Postulat würde generell fordern, dass die formale Struktur einer Erklärung auf jene Stelle des empirischen Gefüges bezogen werden muss, wo die Konvergenz-Divergenz der psycho-ökologischen Beziehung maximal ist. Um auf das Beispiel der Grössenwahrnehmung zurückzukommen: es sind etwa ein Dutzend verschiedene Kriterien für die wahrgenommene Raumtiefe bekannt, welche also in ihrem Zusammenspiel untereinander und mit dem Sehwinkel eines Gegenstandes in eine Theorie seiner Grössenwahrnehmung eingehen (bzw. kontrolliert werden müssen). Auch auf der divergierenden Seite kennt man eine Reihe von Korrektur- und Rekonstruktionsfaktoren (vor allem die Verhältnisgrösse und die Gedächtnisgrösse) sowie Kompensationsvariablen aus Eigenbewegung und andern Modalitäten, welche insgesamt in einem metamethodeninvarianten Modell der Grössenwahrnehmung nicht unberücksichtigt bleiben dürfen.
Offensichtlich habe ich meinen Vortragstitel allzu optimistisch gewählt. Denn ob allem, was ich über eine ökologische Psychologie zu sagen hatte, blieb nicht Zeit, auch etwas über die Schwierigkeiten einer psychologischen Ökologie zu sagen. Unter psychologischer Ökologie wäre eine Wissenschaft zu verstehen, welche die Welt als Umwelt der Menschen beschreibt und begreift und damit Voraussetzungen erarbeitet, die wechselseitigen Beziehungen zwischen dem menschlichen Verhalten und der Umwelt zu untersuchen; dabei wäre im weiteren die Sozialpsychologie mit eingeschlossen, im engeren Sinn länge die Betonung auf der Bedeutung der physischen Aspekten dieser Umwelt.
Die beiden Wissenschaften sind mithin komplementär und nicht getrennt voneinander durchzuführen. Die Schwierigkeiten einer psychologischen Ökologie sind also auch die Schwierigkeiten einer psychologischen Ökologie.