Alfred Lang | University of Bern Switzerland |
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Conference Presentation 2003 | ||
Denk mal das Tor, stell' dir Zusammenleben vor, ohne Turen, ohne Tor |
2003-03 DenkmalTor 30KB 2003-03 DenkMalTor 28KB |
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Worte zur Eröffnung der Ausstellung "Von Tür zu Tür"
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First
posted 2003.06.24 |
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1. Eigentlich ist die Tür, das Fenster, das Tor eine der tollsten Errungenschaften der Menschen, so einfach und mindestens so genial, doch raffinierter und nachhaltiger als das Rad. Das Rad war vielleicht folgenreicher. Aber das Rad hat die Menschen in eine Dynamik geschleudert, die sie auf Dauer kaum aushalten können.
2. Haben Sie gewusst, dass in einer vorkolumbianischen mittelamerikanischen Kultur das Rad auch, wohl unabhängig von der euro-asiatischen Tradition, erfunden worden ist? Doch sein Gebrauch blieb auf Kinderspielzeug* beschränkt. Natürlich wurde dieses Volk von Mächtigeren mit Hilfe von Gebrauchs-Rädern ausgerottet. In welcher Tradition waren die Menschen glücklicher?
2.1. Exemplare in der Sammlung Ebnöter im Museum zu Allerheiligen in Schaffhausen.
3. Tor und Rad sind beide Verwirklichungen des Prinzips von Nabe und Achse. Die Achse, das runde Stück, muss in eine begrenzte Leere, die Nabe, passen. Das Rad ist nur nützlich, wenn es sich dreht: um sich selbst; und meistens schnell, immer schneller. Es bedarf einer Schmierung. Das Tor öffnet die Grenze der Wand. Es tut dies und jenes: mal steht es zu, mal einladend offen: mal dreht es, auch im Wind; auf beiden Seiten begrenzt geht es nie nur rund herum. Man kann die Tür auch zuschlagen. Und abschliessen. Sogar den Schlüssel verlieren. Und viel anderes mehr.
4. Nun möchte ich eigentlich nicht Tor gegen Rad ausspielen. Das könnte uns nur spalten: die Fortschrittlichen gegen die Beharrenden, die Ingenieure, die Macher, gegen die Architekten, die Künstler. Die Denkmalpfleger sind in der ausgezeichneten Lage, beides sein zu müssen, beides sein zu wollen. Das ist schützenswert gegen jedes Auseinanderdividieren. Aber abwägend reflektieren möchte ich die beiden Errungenschaften schon.
5. Wir sind hier in der glücklichen Lage, einem Nebenprodukt von 115 Jahren eidgenössischer Koordination der Denkmalpflege begegnen zu dürfen, in Form einer Ausstellung ausgewählter Originalfotografien der Eingänge von Bürgerhäusern um 1900. Konfrontiert werden sie mit Videosequenzen aktuellen Gebrauchs dieser Tore. Die beiden Zugänge zeigen einen sehr begrenzten Aspekt des Tors.
6.Das Tor, die Tür: ein Ding, das man zu kennen glaubt: unentbehrlich, aber eine Zutat; wichtig, aber nicht selten ästhetisch und sozial unbefriedigend; unscheinbar oder protzig, nicht selten ein Streitobjekt; enorm aussagekräftig und total geeignet zum Verführen, Lügen, Vormachen, Ehrlichsein. Sie kennen die grandiosen Türen der Machthaber. Ich meine nicht die Eingänge, sondern die Tür im ersten Stock der Fassaden, nur auf einen schmalen Balkon führend, um den Huldigenden von dort oben herab gnädig zuzuwinken. Zum Hinausgehen gibt es für die dort Gefangenen manchmal noch eine Hintertür.
7.Tür und Tor sind ein kulturelles Produkt, ein kulturelles Objekt. So meinen wir jedenfalls. Verstehen wir Tür und Tor? Kulturelle Errungenschaften sind eigentlich nicht Objekte. Sie bedürfen eines Pendants in den Köpfen: etwas das im Laufe von persönlichen Erfahrungen gebildet worden ist, zugleich individuell und doch allgemein genug. Ohne solche nicht allzusehr abweichenden Begleiter in den Köpfen funktionieren kulturelle Errungenschaften nicht; oder allenfalls irregehend zu Konflikt und Machtkampf führend. Diese "Objekte" sind also nicht etwas uns Gegenübergestelltes oder "Vorgeworfenes". Mensch und Tor, Menschen und ihre Kulturdinge, kann man gar nicht separieren. Untersucht man sie je für sich, wie das weitgehend üblich ist, kann man sie nur verfehlen.
8. Tür und Tor sind wie alle kulturellen Errungenschaften eher als Systeme von Relationen zwischen Innenwelt und Umwelt der zusammenlebenden Menschen zu begreifen. Und Tore sind prototypisch für diese Relationen, indem sie das Zusammenleben von Menschengruppen in einen Innenraum und einen Aussenraum dynamisch trennen und verbinden. Stellen Sie sich Zusammenleben von Menschen ohne Türen und Tore vor! Aber seien Sie vorsichtig: das wenigste von dem, wie Türen auf uns wirken und wie wir mit ihnen umgehen, ist in unserem Erleben gegenwärtig und willentlich verfügbar.
9. Wahrscheinlich hat es Höhlen oder Hütten ohne Tür gegeben. Die erste grosse Errungenschaft zusammenlebender Menschen, die sich in Höhlen sesshaft gemacht und dann in den Höhlen und davor und dann irgendwo Hütten und Häuser gebaut haben, ist der Wall, die Mauer, der Zaun. Diese menschgemachten Strukturen trennen oder gliedern Menschengruppen (und übrigens auch Haus- gegen Wildtiere). So meint man. Und so sieht es unser Nachbarrecht, zum Beispiel. Und versucht durch saubere Grenzen zwischen dem Unseren und dem anderen, zwischen Uns und den Anderen, eine Ordnung zu erreichen, zu erzwingen. Abgetrennter Raum durch Gebautes und Verbrieftes. Entweder ist man drinen - oder draussen.
10. In Wirklichkeit bringen Zäune, Wälle und Mauern Menschen ebenso zusammen wie sie sie gliedern. Denn am Zaun kann man sich treffen und sicher sein: beide auf ihrer Seite daheim und auf die Andern orientiert, an den Anderen interessiert, für die Anderen bereit. Erst Jahre später ist mir der Sinn meiner Kindheitserinnerung aus unserem Reihenhaus aufgegangen: der Schwatz mit den Nachbarn über den Zaun. Bis die einen oder die anderen sagten: kommt doch herüber für ein Glas Wein oder Sirup. Als nach Kriegsende manche Nachbarn in den anderen Reihen ihre rostigen Zäune nicht ersetzten sondern entfernten, um eine mehrere Gärten zusammenfassende kleine Parklandschaft zu errichten, war das bald aus. Es traute sich kaum jemand mehr hinaus, oder nur noch organisiert. Man war nicht mehr ganz bei sich.
11. Die Mauer, der Zaun bringt eine wesentliche Gliederung des sozialen Raums. Die Tür, das Tor gliedert zusätzlich die Zeit. Sie stellen das Nacheinander von bei sich und bei den Andern nicht nur dar; sie regulieren überdies den Verlauf der Beziehungen. Wie man ein Kleinkind in ein Laufgitter setzt um es vor Gefahren zu schützen, umgibt man die Zusammenwohnenden mit Mauer und Zaun. Und die Tür, das Tor darin eröffnen den Weg in die grössere Welt draussen und erlauben den Einlass für Ausgewähltes und Auserwählte in die kleine eigene Welt da drinnen.
12. Türen sitzen also nicht nur in ihren Rahmen, sondern auch tief in unseren Köpfen. Wenn wir sie über das Benützen hinaus auch denken, riskieren wir, ihren Sinn zu vereinfachen. Eben, wir nehmen sie als zweckhafte Objekte "wahr", als Dinge unserer Verfügung, in unserem Belieben: zum uns Schützen, zum den Andern zeigen, wer wir sind oder sein wollen, zum Auftrumpfen oder zum Verstecken, zum Demütigen der Andern oder zu einer Geste der Verbundenheit. Eigentlich sind Türen aber doch Teile unserer Beziehungssysteme. Mit Türen wie mit vielen anderen Dingen gestalten wir nicht nur eine Umwelt, sondern pflegen, kultivieren wir unsere Mitmenschen wie auch uns selber.
13. Wie kommt es zu diesen Dingen, die in Wirklichkeit soziale Relationen darstellen und tragen und eigentlich -- das Beispiel Türen zeigt es besonders eindrücklich -- allen Individuen und Gruppen erleichtern, zugleich sich selber und mit den anderen zu sein? Um das besser verstehen zu können, empfiehlt sich ein kleiner Ausblick in die Ideengeschichte und ihre Folgen in Wissenschaft und Alltag, in unser gegenwärtiges Verständnis unserer menschlichen Kondition.
14. Weil wir abendländischen Menschen uns in einen Gegensatz zum Rest der Welt gesetzt haben, unsere Welt uns untertan und verfügbar machen sollen oder wollen, betrachten wir die Dinge als Objekte. Viel eher sind sie doch wohl Teile von uns, die einen randständig, andere ganz wesentlich in einer Weise, dass wir ohne sie kaum mehr existieren, jedenfalls nicht auf eine Weise existieren könnten, wie wir es gewohnt sind. Verluste mancher Dinger vertragen wir tatsächlich nur schwer. Wir sind im Tiefsten getroffen, wenn man einbricht und in unserer Wohnung ein Durcheinander anrichtet. Und wir verlieren unser Menschsein, wenn man uns einsperrt in fremde Räume oder wenn wir uns selber einsperren in Räume, aus denen wir uns nicht mehr hinauswagen ins Zusammenleben.
15. Wir haben einen merkwürdigen Begriff von uns selber errichtet. Früher haben wir uns als Gotteskinder verstanden, in seiner Hand und zu seinem Dienst. In der Moderne haben wir aus diesem Konzept beibehalten, dass uns die Welt verfügbar wäre. Aber nun eigenständig, ohne einer höheren Instanz Rechenschaft ablegen zu müssen. Und wir verändern unsere Welt und die Welt aller Lebewesen darin mit aller Macht und Geschwindigkeit, nur noch unserem Selbstzweck dienstbar, nicht einmal mehr unseren Kindern und Kindeskindern verantwortlich. Den früheren Wettlauf um einem Platz im Himmel, ob durch Verdienst oder durch Gnade, haben wir durch einen gnadenlosen Wettbewerb aller gegen alle um das bessere Plätzchen an der Sonne hienieden ersetzt. Dazu müssen wir alle Teile der Welt zweckhaft sehen, für unsere Ziele instrumentieren. Weiterkommen ist alles, wenn nötig auch leichtfertig auf Kosten von Anderen.
16. Zugleich definieren wir uns biologistisch als Tiere. Ein Mensch sei, wer ein Angehöriger der Gattung Homo sapiens sapiens ist. Als einzelnes Individuum übrigens. Seltsam, allein ist doch gar keiner lebensfähig. Menschen werden wir doch erst, wenn wir von anderen Menschen eingeführt sind und teilnehmen an einem Zusammenleben, das Generationen vor uns allmählich in bestimmten Formen herausentwickelt haben. In je eigenen Lebensformen der rund 8000 Kulturen der Welt und all ihren regionalen und lokalen Unterformen, die wir in den letzten Jahrhunderten gnadenlos zerrüttet und weitaus die meisten von ihnen ruchlos zerstört haben. Ist denn ein Mensch, wer anderen Menschen die Lebensgrundlagen stört und entzieht? Das kann doch jederzeit zurückwirken.
17. Es ist die Kulturalität --Türen sind nur eine von Hunderttausenden von kulturellen Errungenschaften -- welche Menschsein eigentlich ausmacht. Türen sind gewissermassen eine kulturelle Fortsetzung der biotischen* Errungenschaft der Membran, die zB eine Zelle umhüllt und deren Rezeptoren Ein- und Auslass bestimmen und abwickeln. Natürlich sind wir auch Tiere. Als solche haben wir einen Grund von Errungenschaften der Bioevolution als unser eigen mitgenommen. Und wir sind Tiere, welche im Lauf ihres Lebens als Individuen Erfahrungen machen und nutzen, also psychische* Systeme aufbauen, die unsere Person ausmachen, die unsere Fähigkeiten tragen und die uns erlauben, unser Zusammenleben so ungemein reichhaltig und wunderbar zu gestalten; freilich auch ermöglichen, unseren Mitmenschen die Hölle auf Erden zu bereiten. Denn, wie Imre Kertész im Roman eines Schicksallosen so eindrücklich darlegt: "das Schicksal sind wir selber".
17.1 Eine Membran, Organe, Lebewesen überhaupt und die von ihnen gemeinsam geschaffene, die mineralischen Gegebenheiten überformende Umwelt sind biotische Errungenschaften der biotischen oder der Bio-Evolution; biologisch sind Versuche, diese Tatsachen auf eine bestimmte Weise zu begreifen. Das gegenwärtige Verstehen ist eines von mehreren möglichen. Ähnliches gilt auch für psychisch und psychologisch, physisch und physikalisch / physiologisch und genau genommen auch für kulturell und kulturologisch. In den meisten Wissens- und Verstehensfeldern vermengen wir leichtfertig Tatsachen und Konzeptionen. Zum Beispiel ist die angesprochene, immer mehr verbreitete vulgär-darwinistische Auffassung des Zusammenlebens als ein Kampf der Individuen und Gruppen ums (bessere) Dasein nicht eine kulturelle Tatsache, sondern eine kulturologische Behauptung oder Ideologie.
18. Doch mit unserem individuellen Tod ist auch dieser ganze Schatz von individuellen Erfahrungen jedesmal weg und verloren. Und so haben die Menschen eine dritte Ebene herausgebildet, ihre kulturelle Evolution und deren Differenzierungen in den vielen kulturellen Traditionen. Stellen Sie sich vor, wie armselig unsere Köpfe ausgestattet wären, wäre nicht dieses kulturelle Gefüge von verkörperten Beziehungen: einigermassen stabil; und doch auch ebenso beweglich für Neues und für Abwerfen von Überaltertem. Die Schule, die verlängerte Jugendzeit scheint nötig geworden zu sein, um in die immer komplexer gewordenen kulturellen Errungenschaften einigermassen einheitlich eingeführt zu werden.
19. Als bio-psycho-kulturelle Wesen sind wir Menschen wesentlich und anhaltend von unserer Umwelt bestimmt und durch unser Handeln stellen wir entscheidende Teile dieser unserer Umwelt weitgehend selber her und erhalten und erneuern sie. Arbeitsteilig, gebend und nehmend, über Lebenszyklen, über Generationen. Mein Emblem, der (evolutiv-)semiotisch-ökologische Funktionskreis, stellt das in seine Umwelt (grünes Rechteck) dynamisch eingebette Individuum (rotes Rechteck) zusammen als die ökologische Einheit in ihrer weiteren Umgebung (das Umfeld des gemeinsamen Rechtecks) dar. Unter Abstraktion von der Zeit; ein fortwährender Zyklus von generativen Semiosen, dh strukturbildenden Einflüssen im Individuum und in der Umwelt spiralt durch die Zeit und berührt sich mit den Zyklen vieler anderen Individuen in ihrer gemeinsamen Umgebung.
20. Ich rede nicht von der Hochkultur und nicht von der Alltagskultur; das ist alles eingeschlossen und ist doch auch viel mehr. Meine These ist, es sei ihre Kulturalität, was die Menschen zu Menschen macht. Kulturalität -- das hoffe ich am Beispiel Tür und Tor und ihre Bedeutung für das Zusammenleben und für das Leben jeder und jedes Einzelen nahegelegt zu haben -- ist ebensosehr in wie zwischen den Menschen. Weder lässt sich "die" Kultur auf Mengen von kulturellen Objekten reduzieren, noch der Mensch auf das, was seinen Organismus und seinen sogenannten Geist ausmacht. Von allem in der Welt verstehen wir am allerwendigsten uns selber. Sogar Türen scheinen wir nachgerade besser zu verstehen.
21. Und sollten Sie nun immer noch glauben, das Rad sei die genialere Anwendung von Nabe und Achse als die Tür, dann fürchte ich, Sie seien einer Propaganda von Machtstrebenden verfallen. Wenn nicht Sie selbst, dann werden es wohl Ihre Kinder und Kindeskinder bezahlen müssen.
22. Denn – so bin ich zur Überzeugung
gekommen – unser abendländisches Denken hat uns in eine Sackgasse
geführt. Mit unserem eingebretterten Funktionsdenken und
-handeln haben wir verlernt, die vielen Seiten und die mehrfachen
Einbettungen von allen Dingen wahrzunehmen und in unseren
Begriffsbildungen zur Geltung zu bringen. Ob wir in diesem
Gehäuse noch ein Tor finden werden, das uns hinauslässt in
eine Welt, in der die Räder langsamer drehen und darauf achten,
dass sie nichts überfahren? Auch uns selber nicht?