Alfred Lang |
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Newspaper Interview 1998 |
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«Fluchtburg dieses Jahrhunderts» -- Psychologie |
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Interview von Katharina Matter am 27. Juni 1998 aus Anlass der Emeritierung. Der Bund, Nr. 152 vom 3.7.98, Seite 9. |
© 1998 by Alfred Lang |
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1957 begann Alfred Lang in Bern unter elf Mitstudenten das Studium der Psychologie. 1981 wurde er ordentlicher Professor für Psychologie an der Universität Bern und zählte in den Vorlesungen [der letzten Jahre] Hunderte von Studierenden. Jetzt tritt er altershalber zurück. Ein Gespräch über die Zukunft von Universität und Psychologie und über die Hoffnung, die er in die Wissenschaft setzt.
[In eckigen Klammern: Kürzungen in der bzw. kleine Ergänzungen nach der Publikation]
«BUND»: Als Sie vor 41 Jahren hier in Bern das Studium aufnahmen, war die Universität eine Ausbildungsstätte für wenige Ausgewählte, heute spricht man abwertend von der Massenuniversität. Wie stehen Sie zu dieser Entwicklung und in welche Richtung müssten sich die Hochschulen entwickeln?
ALFRED LANG: Es ist generell ein Gewinn, dass die Universitäten offener geworden sind. Skandalös ist hingegen, dass sie innerhalb dieser Öffnung ihre spezifische Hauptaufgabe[, in einigen Fächern infolge unverhältnismässiger Studentenzunahme geradezu] hat versäumen müssen. Heute nehmen sie neben der Forschung grossenteils Aufgaben der Fachhochschulen wahr. Da man lange Zeit keine Fachhochschulen schuf, sind deren Aufgaben an den Universitäten hängen blieben. [Starke Kräfte streben weiter ein quantitatives Wachstum der Universitäten statt ihre qualitative Konzentration an.]
Von welchen Aufgaben sprechen Sie?
Im neuen Universitätsgesetz wird «die Förderung der Reflexion der Voraussetzungen und Wirkungen wissenschaftlicher Tätigkeit» als ein Hauptzweck neben Lehre, Forschung und [vor] Dienstleistung aufgegeben. Akademiker müsssen nicht nur tun, was sie tun, sondern wissen, was sie tun, und warum. Besonders problematisch finde ich die Lage zum Beispiel in der Psychologie. Wenn diese Wissenschaftler nach dem Vorbild der Chemie oder der Medizin ein fixfertiges und kanonisiertes Wissen zum technischen Gebrauch in Bereich der menschlichen Existenz unterrichten und entsprechend forschen, dann entmenschlichen sie die Menschen, auf die das angewendet wird.
Die heutige Psychologie ist im Wortsinn Halbwissen. Sie beschäftigt sich gewissermassen nur mit der einen «Hälfte» der Menschen. Sie blendet in ihren Begriffen, Methoden und Theorien aus, dass Menschen [nicht nur Natur- und Lebewesen, sondern] auch geschichtliche und kulturelle Wesen sind. Das unversitäre Fach versucht dennoch für bestimmte berufliche Tätigkeiten auszubilden, welche erst noch per Gesetz genau umschrieben werden sollen. Das macht aus dem Studium [entweder] eine halbblinde Ausbildung [oder ein blosses Inititationsritual zum Durchstehen, wenn man teilhaben will]. Überdies sind unbedachte Nebenwirkungen solchen Umgangs mit Menschen vorprogrammiert.
[Was ist daran falsch?
Menschen sind doch keine Mechanismen und sie funktionieren nicht wie Maschinen! In aller Regel sind sie eher die Betreiber von Maschinerien, welche mächtige Wirkungen auf die ganze Welt und auf alle Menschen, auch auf die kommenden Generationen ausüben. Oder gelten Menschen eben doch eigentlich nur als Rädchen in der Maschinerie? Technische Kompetenz kann man auf eine strikte Art vermitteln, nicht aber ein gründliches Verständnis der Menschen in ihrer Welt und der Wirkungen ihres Handelns auf diese Welt. Dafür braucht es nicht nur Spezialisten, sondern auch Leute mit einem sehr breiten und tiefen Verständnis der gesamten Lebenswelt und reicher Erfahrung dazu. Langfristig ist es doch viel wichtiger, generell lebenswerte Verhältnisse herzustellen als einzelnen Individuen helfen zu wollen. Eine gründliche Verwechslung, diese Anwendung des technischen Denkens auf Menschen! Oder hat sie vielleicht System? Menschen sind die Schlüsselfiguren für die Zukunft dieser Welt. Wenn man sie steuern will wie Maschinen, dann hat man das Schicksal der Welt zu ihren Ungunsten entschieden. Das gilt von herkömmlicher wie von gegenwärtiger Sklaverei.]
Es ist doch unumgänglich, dass den Studierenden ein gewisses kanonisiertes Grundwissen vermittelt wird.
Ich bestreite nicht, dass es für zahlreiche Aufgaben spezialisierte Fachleute braucht, die sich in einem begrenzten Bereich sehr gut auskennen. Aber das ist bloss eine der Aufgaben der höheren Bildung. Die andere besteht darin, die Zusammenhänge aufzudecken und Bewertungsgrundlagen bereitzustellen. Die zweite müsste doch vor allem durch die Universitäten wahrgenommen werden. Doch bei der gegenwärtigen Entwicklung der Universitäten findet sich dafür fast kein Platz mehr.
Nach Ihrer Ansicht wird an den Universitäten nur noch Know-how vermittelt und das Wissen vernachlässigt?
Nicht das Wissen, sondern der Sinn des Wissens kann kaum gepflegt werden. Auf den Universitäten lastet ein massiver politischer und wirtschaftlicher, sogar auch ein studentischer Druck, sich immer mehr in Richtung «Technologie» zu entwickeln. Die Wirtschaft hat seit Jahrzehnten nur mehr Interesse an Fachleuten und die Politik folgt ihr. Spezialisten, die keine Zeit haben zu reflektieren, was sie tun, und dazu auch nicht vorbereitet sind, haben wir heute jede Menge. Sie sind in ihren Bereichen hochkompetent, machen sich aber keine Gedanken darüber, was sie langfristig bewirken. Diese Aufgabe kann man nicht delegieren. Auch all die neugegründeten Ethik-Institute und -Kommissionen können diese Aufgabe nur bedingt wahrnehmen, weil sie nicht vom Sachverstand abgespalten werden kann. Deshalb die Reflexionsaufgabe der Universität. [Übrigens, weitsichtige Wirtschaftsführer haben längst gemerkt, dass es vor allem an breit und gründlich gebildetem Nachwuchs mangelt; sie brauchen nicht nur fachspezifisch ausgebildete Kader.]
Sie kritisieren die Spezialisierungen. Diese sind aber heute bereits auf der Gymnasialstufe Realität.
Leider. Jede Spezialisierte muss des Umfeldes [und der Einbettung] ihrer Spezialisierung ausreichend gewahr sein. Als ich mein Studium aufnahm, wurden an der Universität Bern 2200 Studenten gezählt. Heute sind es zehntausend. Sind denn wirklich um die 20 oder mehr Prozent der Jahrgänge spezifisch für das begriffliche, wissenschaftliche Denken begabt und vorbereitet? Da ist doch schlicht eine Verwechslung beim Wort Qualität passiert. Universität wird mit «besser» gleichgestellt. Das ist aber nicht so. Die Universität verwendet und vermittelt bloss einen anderen, einen begrifflichen, einen abstrahierenden Umgang mit der Wirklichkeit. Darauf können wir nicht verzichten.
Wie sieht denn nach Ihrer Meinung die ideale Universität der Zukunft aus?
In meiner Modellvorstellung gibt es wenigstens einige wissenschaftliche Institute, in denen Professuren aus verschiedenen Disziplinen zu bestimmten Themenkreisen Forschung und Lehre im überdisziplinären Zusammenhang machen. Diese Themenkreise müssen zu ihrem Mittelpunkt die Lage der Menschen in der Welt haben. Daneben finden sich universitäre Einrichtungen, in denen disziplinär geforscht und gelehrt wird und in einigen Fächern auch spezialisierte Berufsausbildungen angeboten werden.
Die eigentliche wissenschaftliche Forschung würde damit durch eine kleine Elite betrieben?
Es geht ja nicht nur um die Forschung; sondern ebensosehr um die Vorbereitung der nächsten Generationen für das Begreifen der Zusammenhänge und der Rolle der Menschen darin. Der Begriff Elite muss nicht negativ belastet sein und nicht zwingend mit Dünkelhaftigkeit verbunden werden. [Ich frage Sie: Wie soll eine dermassen komplexe Gesellschaft wie die unsere ohne Eliten funktionieren können? Nur wenige Politiker verfügen heute noch über eine breite und gründliche Bildung; damit liefern sie sich den Widersprüchen der Experten wie den Ansprüchen der Wirtschaftsführer aus.]
Sie haben sich als Forscher mit den verschiedensten Themen beschäftigt, vom absoluten Musikgehör bis zu den Wohnformen im Alter. Hat die Psychologie zu allem etwas zu sagen?
Sie hat nicht zu allem etwas zu sagen, aber in allem sind Menschen involviert. Eine Tragik der Entwicklung der Psychologie in diesem Jahrhundert besteht darin, dass sie sich zu einer technikartigen Reparaturinstanz reduziert hat anstatt sich [in erster Linie] der allerwichtigsten Aufgabe dieser Welt zu widmen, nämlich die Lage und und die Rolle der Menschen im Gang der Welt zu begreifen.
Heute fühle ich mich manchmal wie in die Gründerzeit zurückversetzt. Wie vor hundert Jahren werden Menschen schamlos ausgebeutet und weggeworfen, wenn sie nicht mehr brauchbar sind. In diesem Zusammenhang noch ein Wort zur Elite: Wenn wir nicht eine Elite der Gebildeten haben, dann haben wir eine Machtelite. Ich ziehe allenfalls eine dünkelhafte Gebildetenelite einer Machtelite vor, wenn ich wählen muss. Dünkel kann man lächerlich machen. Die wenigsten werden aber wagen, gegen Mächtige aufzutreten, von denen sie abhängig sind.
Der Titel Ihrer Abschiedsvorlesung lautet: «Psychologie - Wissenschaft des 21. Jahrhunderts?» Wie kommen Sie zu dieser Frage?
Ich denke, der Schlüssel zu einer lebenswerten Welt für unsere Nachkommen liegt in einem anderen Selbstverständnis der Menschen. Nicht in immer mehr Forschung von immer absonderlicheren Teilen der Natur. Deshalb gehören Wissenschenschaften von der menschlichen Kondition ins Zentrum aller Wissenschaften und der Universität. Besonders auch zur Vorbereitung der jungen Generation für einen sinnvollen Umgang mit der menschlichen Kondition. Ich sage nicht bloss: Wissenschaften vom Menschen; denn Menschen sind ein Teil der natürlichen Welt und der von ihnen selbst geschaffene Kulturwelt sind. Menschen sind nicht nur durch diese ihre Welt bedingt, sondern sie bedingen den Lauf der Welt auch wesentlich mit. [Man muss also die Menschen und die Umwelt, die sie vorfinden und verändern, im Zusammenhang sehen.]
Dann stelle ich die Frage, ob die heutig Psychologie über die Voraussetzungen verfügt, uns ein anderes Menschenbild, ein neues Selbstverständnis der Menschen zu entwickeln helfen, welche der tatsächlichen Rolle der Menschen als Teil dieser fragilen Welt gerecht werden kann. Denn die Menschen haben sich im Wahn, diese Welt beherrschen zu sollen und zu wollen, daran gemacht, diese Welt zu zerstören, obwohl sie auch ein Potential hätten, sie «humaner» zu machen. Die Antwort ist nach dem Gesagten negativ; diese Wissenschaft müsste sich radikal erneuern.
Weltweit gibt es Strömungen, die die Rettung aus dem Schlamassel in der Theologie finden.
Können wir zurück ins Mittelalter? Die Vorstellung einer Gotteskindschaft kann die Mehrzahl der Menschen nicht mehr überzeugen. Vor allem auch diejenigen nicht, welche die andern für ihre eigenen Interessen ausbeuten. Und dazu sind heute Naturgesetze einfach brauchbarer als Gottesgesetze[, jedenfalls in der Westlichen Welt]; und Menschen, die sich halbherzig auf Gottesgesetze verlassen, sind besonders leicht zu verführen.
Ist denn der Mensch nicht einsam, wenn er ohne diese Vorstellung dasteht?
Menschen haben diese Vorstellungen ja selbst erfunden. Doch die einst damit verbundene Sicherheit ist brüchig geworden. Führt sie nicht allzu leicht zu Ohnmacht gegenüber Machtansprüchen? Ich bin darum der Ansicht, dass anthropologische Wissenschaften und andere Anstrengungen auf Erfahrungsgrundlage ein realistischeres Menschenverständnis entwickeln können. Eine der wichtigsten Einsichten wird sein, dass wir nicht der Welt gegenüberstehen, sondern ein Teil der Welt sind. Es gibt übrigens andere Kulturen, die diese Einsicht immer schon gehabt haben.
[Werden diese anthropologischen Wissenschaften auch allgemeine Handlungsanweisungen entwickeln?
Es muss auch eine neue Ethik entstehen. Diese wird nicht mehr vom Verständnis der Welt separiert sein können. Die Menschen werden beispielsweise lernen müssen, nicht alles zu tun, was ihnen unmittelbar dient. Denn das macht sie letztlich auch selber kaputt. Sie werden sich daran gewöhnen müssen, nur noch das zu tun, was die Welt erträgt. Nur so bleibt ihnen ein sinnvoller Platz erhalten.]
Sie möchten, dass die anthropologischen Wissenschaften im 21. Jahrhunderts zentral sein sollen. Ist die Psychologie die grosse Errungenschaft des 20. Jahrhunderts? Oder sind es die Ingenieure, denen diese Ehre zukommt?
Ich weiss nicht, ob es eine Ehre ist, die Welt des Lebens auf dieser Erde aus den natürlichen Risiken in Gefährdungen durch Menschenhand geführt zu haben. [Daraus begründet sich ja meine Sorge, jetzt auch noch Menschen-Ingenieure im Geist von Maschinen-Ingenieuren am Werk zu sehen.] Psychologie anderseits ist heute eher die grosse Ersatz-Errungenschaft, eine Art Fluchtburg dieses Jahrhunderts. Heute sind die Menschen einerseits in Beruf und Freizeit in Funktionszusammenhänge eingespannt. Das hat anderseits mit der Vereinzelung der Individuen zu tun, die kein Vertrauen mehr in die Verlässlichkeit der meisten ihrer Mitmenschen haben. Alle müssen ja ihre eigenen Interessen verfolgen, wollen sie nicht unter die Räder kommen. Viele hoffen, sich mit Hilfe von Psychologen aus den dabei entstehenden Schwierigkeiten retten oder sich besonder tüchtig durchsetzen zu können.
Ob das gehen kann, wenn das Zusammenleben gleichzeitig immer prekärer wird? Ob die Beschäftigung mit sich selbst zu etwas Sinnvollem führen kann, wenn ringsum die Welt kaputt gemacht wird? Ob die Welt und die Menschen nur durch Reden darüber und nur bei jedem Einzelnen in Ordnung gebracht werden kann? Was kann mir denn eigentlich helfen, wenn im Wettbewerb aller gegen alle einige wenige zunächst ein wenig gewinnen können, die meisten aber verlieren müssen, weil es nicht für alle reichen kann? Und was soll mir helfen, wenn nur wenig später wohl alle verlieren müssen, weil der totale Wettbewerb alle in Schieflage bringt? Mir scheint, es müssen Wege gefunden werden, [von der Idee] abzukommen, dass die maximale Entfaltung aller Individuen im allgemeinen Interesse ist. Das eigentliche Problem ist das heute dominierende Selbstverständnis der Menschen.