Alfred Lang | ||
Edited Book Chapter 1997 | ||
Fluss und Zustand - psychische, biotische, physische und soziale Uhren und ihre psychologischen, biologischen, physikalischen und soziologischen Modelle | 1997.01 | |
110 / 137KB + 2 tables + 2 figures | ||
Pp. 187-235 in: Peter Rusterholz & Rupert Moser (Eds.) Zeit -- Zeitverständnis in Wissenschaft und Lebenswelt. Kulturhistorische Vorlesungen des Collegium Generale Universität Bern. Bern, Lang, 1997. | © 1998 by Alfred Lang | |
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- Zusammenfassung / Abstract
- 1. Erfahrung, Kritik, Wissenschaft
- 2. Allgemeine Begriffe für den Umgang mit Zeit
- 3. Psychische Erfahrungen und ihr möglicher Impuls
- 4. Erste Zwischenbilanz -- Zeitstromerfahrung vs. Zeitgliederungsweisen
- 5. Psychologische Befunde
- 6. Zweite Zwischenbilanz - Psychologie und klassische Physik
- 7. Biologische Einsichten
- 8. Dritte Zwischenbilanz -- durch und durch zeitliche Lebenswelt
- 9. Physikalische Einsichten
- 10. Vierte Zwischen"bilanz" -- nichts Neues im Zeitenlauf
- 11. Soziologische Einsichten (Hinweis)
- 12. Schluss-"Bilanz" - zu den Umgangsweisen mit dem Fluss der Zeit
- Erwähnte und weitere Literatur
Die These (formuliert u.a. von Bergson), Philosophie und Wissenschaften hätten Zeit seit Plato nie wirklich ernstgenommen, sondern ihr Fliessen, die "Veränderung selbst" als Prozess, bloss durch Folgen von Zuständen angenähert, wird aus vergleichenden Betrachtungen von zeitlichen Erscheinungen und ihrer begrifflichen und real konstruierenden Ausarbeitungen in verschiedenen Wissenschaftsbereichen konkretisiert. Es zeigt sich, dass die physikalischen Zeitvorstellungen vereinheitlichende und homogeneisierende Idealisierungen vorgezogen haben, welche in einem erheblichen Ausmass Zeit als Organisationskraft im sozialen System bestimmen, während anderseits biologische und psychologische Konzeptionen aufgrund ihrer Befunde stärker die Vielfalt der zeitgenerierenden Einrichtungen und ihre relative Koordination betonen müssen. Diese beiden Umgangsweisen mit Zeit -- hierarchischer oder "demokratischer " Organisation von Uhren vergleichbar -- sind in einem erstaunlichen Ausmass gegenläufig; sie dürften für die kulturgeschichtliche Entwicklungslage der Gegenwart von grösster Bedeutung sein.
Abstract
The insight (formulated among others by Bergson) is elaborated that philosophy and the sciences ever since Platon have not taken time really serious but have only approximated its flow or the process of "change" by sequences of states. As a result of comparative examinations of various temporal phenomena and their conceptual and constructive elaborations in various scientific fields, it is shown that physical notions of time have preferred unifying and homogeneifying idealizations which in turn have determined to an considerable degree time as a collective organizing force in the social system. In contrast, biological and psychological conceptions by the nature of their data cannot escape to emphasize the variety and only secondary and relative coordination of their respective time generating and presenting devices. These two manners of dealing with time -- comparable to hierarchical or "democratic" coordination of clocks, repectively -- are to an amazing degree antagonistic; they are seen as of utter importance for the cultural historical condition of our present time.
Ce qui est réel, ce ne sont pas les <<états>> simples instantanés pris par nous, encore une fois, le long du changement; c'est au contraire le flux, c'est la continuité de transition, c'est le changement lui-même.Henri Bergson 1934 (La pensée et le mouvant - essais et conférences. Introduction (première partie); 1959:1258)
In "Erfahrung und Natur" (1925) weist John Dewey die Wissenschaften als eine Form der Kritik der unmittelbaren Erfahrung auf. Ohne Kritik der Erfahrung laufen die Überzeugungen Gefahr, dem Gewohnheitsdenken, dem Autoritätsglauben oder gar dogmatischen Setzungen zu verfallen (vgl. auch Peirce 1877). Wenn das richtig sei, meint dann Dewey, müsse es auch eine Kritik der Wissenschaften geben. In "Erfahrung und Natur" weist er diese Rolle in erster Linie der Philosophie zu. Philosophie als Kritik der Wissenschaften wird aber von den Wissenschaftlern selbst in der Regel nicht ernst genommen. Ob mit guten oder schlechten Gründen sei dahingestellt. Angesichts der enormen Rolle, welche aus philosophischem Denken entstandene oder fixierte Setzungen bis heute und überwiegend latent im Wissenschaftsbetrieb spielen, wäre freilich Dialog angezeigt. Man mag anderseits - angesichts der fortgeschrittenen Spezialisierung der Wissenschaften und auch der Philosophie - bezweifeln, ob ein solcher Auftrag Spezialisten anvertraut werden kann oder soll. So scheint mir, die Kritik der Wissenschaften müsse in Zusammenarbeit der Wissenschaftler über ihre Fachgrenzen hinweg geleistet werde. Das Vergleichen verschiedener Sichten auf ein Feld von Erscheinungen ohne a priori Auszeichnung der einen vor der andern ist ein geeignetes Verfahren dazu.
In der wissenschaftlichen wie in der allgemeinöffentlichen Literatur zum Thema Zeit ist mir immer wieder aufgefallen, wie sehr die meisten Autoren ihre eigene Perspektive auf die Erscheinungen von Zeit für selbstverständlich halten. Wenige machen ernsthafte Anstrengungen, ihr Denken und Forschen über Zeit mit demjenigen ganz anderer Denker und Forscher ins Verhältnis zu setzen. Ist es Ihnen, den Hörern oder Lesern dieses Vorlesungszyklus, manchmal nicht ähnlich gegangen? Nun bin ich ausdrücklich gebeten worden, hier über psychologische und biologische Aspekte zu berichten. Ich nehme die Gelegenheit dezidiert wahr und weite den Auftrag sogar aus. Denn das Risiko, sich in einer zu engen Sicht einzuschliessen, scheint mir heutzutage grösser als das Risiko, in dem erweiterten Unternehmen Fehler zu machen. Begangene Fehler sind leichter korrigierbar als versäumte Einsichten oder versteckt gebliebene Setzungen.
Mein Beitrag möchte also verschiedene und auch verschiedenartige Erfahrungen mit Zeit darstellen und einige Einsichten daran knüpfen. Da kein Wissenschaftler heute mehrere Disziplinen à fonds verstehen kann, sind meine Erwägungen aus beschränkter Kenntnis vor allem als Einladung zum Weiterdenken aus anderen Perspektiven und zur Kritik im Hinblick auf Verbesserung zu verstehen.
Denn wir können Zeitliches unter verschiedenen Erscheinungsformen erfahren. Ich greife beispielhaft heraus:
physische - Zeitmesseinrichtungen, das Symbol t in Differentialgleichungen;biotische - aktiv sein und schlafen, periodisch Hunger haben und Essen, Puls oder Atem, Leben und Sterben;
psychische - Erinnerungen und Erwartungen, Zeitdruck oder Langeweile; Vorstellungen der Herkunft oder der Ewigkeit;
kollektive oder soziale - die Koordination von Terminen gemeinsamen oder aufeinander bezogenen Handelns; die Uhren von der Turmuhr bis zur Funkuhr. U.v.a.m.
Die vier Wissenschaftsbereiche sehe ich stellvertretend auch für weitere bzw. für fast das ganze Wissenschaftsfeld.
Wenn das Wort nicht in wenigen Jahren seinen klugen, mit "Haushalt" verbundenen Sinn fast völlig verloren hätte, würde ich am liebsten von einer ökologischen Auffassung von Zeit sprechen. Denn Zeit erweist sich immer deutlicher nicht als etwas allem Vorausgehenden, als ein Gefäss der Welt und der Menschen, weder Newtonisch als eine grundlegende Eigenschaft der Welt selbst, noch Kantianisch als eine ebenso grundlegende Charakteristik der Erkenntnissubjekte, sondern als etwas, das sich im Verhältnis von Teilen der Welt zueinander erst konstituiert. Und ihren für mein und dein Leben relevanten Sinn erhält Zeit aus dem Verhältnis zwischen mir und meiner oder dir und deiner physischen, biotischen und sozialen Umwelt. Von einer psychologischen Perspektive auf Zeit sollten wir besonders wichtige Einsichten erwarten, weil ja alle ihre Erscheinungen, alle Erfahrung mit ihr und deren Verarbeitungen von Menschen vollzogen werden.
Und wir müssen Zeitliches unter verschiedenen Erscheinungsformen erfahren.
Denn, so Bergsons Formulierung (1934) einer Einsicht die erst vor und nach 1900 erkannt worden ist: es scheine geradezu eine der Funktionen des menschlichen Verstandes, den Fluss der Zeit (la durée) zu verschleiern, im Begriff der Bewegung wie im Begriff des Wandels, die beide meist als Abfolge von Zuständen begriffen werden. Diese Einsicht wurde von Denkern wie Peirce, Nietzsche, MacTaggart, Heidegger u.a. allmählich gewonnen - und übrigens ein Jahrhundert vor ihnen im wesentlichen schon von Herder (vgl. auch unten meine vierte Zwischenbilanz).
Das ist eine wahrhaft epochale Erscheinung, die mit Parmenides und Plato eingesetzt hat und jetzt immer mehr ins Wanken gerät: die Kampagne einer eigentlichen Zeitverleugnung mit universalem Anspruch. Das ist die Erfindung einer wahren wirklichen, einer zeitlosen ewigen, einer geistigen Welt, im Gegensatz zur Schattenwelt, der erfahrenen materiellen Wirklichkeit, in der Zeit nur ein "bewegter Abklatsch der Ewigkeit" ist (Plato). Diesem fundamentalen Dualismus sitzen wir immer noch auf. Ein vertieftes Verständnis der Zeitals Fluss dürfte entscheidend dazu beitragen, Widersprüche und Unstimmigkeiten gegenwärtiger Welt- und Menschenbilder allmählich zu überwinden. Es ist höchste Zeit geworden, hinter diese Zweiteilung zurückzugehen und den Fluss, das Werden von Allem wirklich ernst zu nehmen.
Meine Überlegungen betreffen also den Einfluss der
Wissenschaften, die Zeitliches behandeln, auf das menschliche
Zusammenleben: Fast drei Jahrhunderte lang haben wir uns einer
konzertierten Aktion ausgesetzt, die uns eine Newtonische Auffassung
der Zeit als eines absoluten Behälters von Allem vorspielt und
uns mit einem Trommelfeuer von immer besser koordinierten Uhren einem
Zwangssystem von zentralisierter Ordnung zu unterwerfen sucht,
während die politische Theorie zunehmend einem Gegenideal,
nämlich der Freiheit der Individuen und der Selbstorganisation
der Gesellschaft das Wort redete. Als Theorie der Zeit hat die
Newtonische Auffassung ausgedient; ihre Fossilien aber, die Ideale
absoluter Ordnung, sind weiter mit uns, unter anderem in Form der
Verdichtung einer bestimmten Art von Uhren: von immer strenger
werdenden Zeitvorgaben und -forderungen für all unser Tun. Eine
genauere Sicht der Verhältnisse wird die Zeitlichkeit aller
Dinge freilich in einer Weise zeigen, welche viel eher einer
"Demokratie" der wechselseitigen Konstitution von Ordnung gleicht
als einer Maschinerie, die uns versklavt. Wir leben nicht linear in
einem vorgegebenen Zeit-Kanal auf einem ein für alle mal
eingestellten Fliessband. Vielmehr generiert unser Leben und
Zusammenleben miteinander und mit der vielfältigen Welt um uns
ein Gewebe von Geschehen, teils repetitiven, so oder
ähnlich wiederkehrenden, teils innovativen, und daher oft
einmaligen, Charakters. Zeit, so schlage ich vor, sollten wir als
Inbegriff vom Fliessen von Allem in der Welt verstehen, was nicht
vorübergehend verfestigt ist.
Abbildung 1 - Die Ebenen der Erfahrung und der Verarbeitung
Lebensbezogene Erfahrungen: Konstruktionen | Wissenschaftliche Verarbeitungen: Modellierungen |
psychisch | psychologisch |
biotisch | biologisch |
physisch | physikalisch |
kollektiv, sozial, kulturell | soziologisch, historisch, linguistisch, kulturwissenschaftlich etc. |
Zwei terminologische Vorbemerkungen sind angezeigt. Beachten Sie zunächst meine Unterscheidung von zwei Ebenen, wie ich sie im Untertitel als verschiedenartige Konstruktionen von Zeit (Uhren) und deren Modellierungen angezeigt habe (Abb. 1):
Die Erfahrungen von Zeit, die man als physische, biotische, psychische und kollektive oder soziale machen kann, verstehe ich im realen Sinn als Konstruktionen. Sie referieren auf Ergebnisse von konkreten Konstruktionsvorgängen, die ihrerseits auf Bedingungsgefügen beruhen, welche einen einigermassen geordneten Ablauf hervorbringen. Die Mehrzahl solcher Konstruktionsvorgänge existieren unabhängig von Menschen, sind, wie man sagt, Bestandteil der "Natur"; im Lauf ihrer Geschichte haben Menschen vielerlei analoge Konstruktionen im Rahmen ihrer "Kulturen" hinzugefügt, natürlich unter Ausnutzung natürlicher Vorgänge. Abläufe beider Arten können wir in unserer Erfahrung direkt oder indirekt vorfinden. Darauf legen wir dann begriffliche Konstruktionen und elaborieren diese mit weiteren realen Konstruktionen. Wir konstruieren konkrete Zeit, um jene erfahrenen Abläufe zu begreifen. Beispiele: den Wechsel von Tag und Nacht oder die Phasen des Mondes finden wir vor; wir fassen sie zeitlich in der Wiederholung von seinesgleichen; die Bewegung von Körpern oder die Expansion des Universums beobachten wir direkt oder indirekt und fassen sie raum-zeitlich. Newton konstruierte Zeit begrifflich (wie auch Raum) als eine einheitliche Vorbedingung, eine Art Gefäss aller Abläufe. Kant steht im Ruf, Newtons Auffassung eine wichtige Ergänzung zugefügt zu haben, nämlich unseren Anteil bei der Konstitution oder Konstruktion von Zeit; er hat sie allerdings zu ausschliesslich als "Anschauungsform" verstanden und übersehen, in welchem Ausmass wir Zeit nicht bloss wahrnehmen und begreifen, sondern im wesentlichen auch herstellen, nämlich die Abläufe nicht nurpsychisch erleben und begreifen sondern auch handelnd für uns und Andere sowie anderes konkret generieren oder konstruieren. Anschauen können wir bestenfalls Ereignisse; Zeit müssen wir konstruieren, begrifflich als Relationen zwischen erfahrenen Ereignissen und konkret in Form von Uhren.
Von den realen Erscheinungsformen von Zeit muss man also die physikalischen, biologischen, psychologischen und soziologischenModellierungen oder systematischenbegrifflichen Konstruktionen unterscheiden, welche jeweils eine Menge solcher Erfahrungen oder Realkonstruktionen in einen Denkzusammenhang zu bringen versuchen. Die entsprechenden Adjektive sind gegeneinander zu differenzieren, auch wenn die Unterscheidung nicht immer ganz eindeutig getroffen werden kann. Denn von den Denkmodellen geht Manches auch in die realen Konstruktionen und die weiteren Erfahrungen ein und verändert dann die Möglichkeiten unseres Erfahrens in schwer rekonstruierbarer Weise und wohl beträchtlichem Ausmass. Wir sollten uns nicht darüber täuschen lassen, dass Wissenschaften nicht von den Erfahrungen selbst handeln, sondern von unseren begrifflichen Konstruktionen über sie.
Diese Differenzierungen lassen sich am besten mit einem ersten Beispiel und damit dem eigenartigen Gehalt eines weiteren zentralen Begriffs illustrieren. Die Wörter "Uhr" und lat. "hora" sind nicht nur stammverwandt mit "Jahr", sondern bezeichnen zuerst die Stunde als Zeiteinheit. Was wir gewöhnlich mit dem Ausdruck "Uhr" belegen, eine Zeitmesseinrichtung, ist notwendig eine Zeitkonstruktions-, eine Zeitherstellungseinrichtung und beruht normalerweise auf einem bestimmten, überwiegend physikalischen, ein wenig auch kollektiven Modell der Zeit. Solche Uhren generieren auf eine normierte Weise Zeit, konstruieren sie, in der Absicht, damit eine andere hergestellte Zeit vergleichen, eben an der Normzeit meiner Uhr messen zu können. Jede Uhr muss man notwendig an einer anderen Uhr eichen. Uhren definieren einander. Ausschliesslich. Es gibt keine absolute Uhr. Die Zeiteinheit, das Mass des Flusses beruht auf Konvention oder normativer Setzung. Derzeit verwendet man die Caesium-Uhr. Langezeit hat man die Erdrotationsuhr zur Norm genommen; aber sie war für manche Bedürfnisse zu wenig präzis. Wir können die eine in die andere solcher Zeitkonstruktionen einigermassen adäquat übersetzen; das besagt nichts über ihren sachlichen Zuammenhang.
Ich brauche also einen umfassenden Terminus für alle konkreten Herstellungen von Zeit, also alle messenden Zeitkonstruktionen und alle messbaren Zeitkonstruktionen und -erfahrungen insgesamt. Für beide, weil es nach dem Gesagten nur eine situationsabhängige Unterscheidung zwischen gemessenen und messenden Uhren geben kann. Eine Bezeichnung also für den wirklichenZeitstrom in seiner Vielfalt überhaupt. Bergson hat dafür den Ausdruck "la durée" vorgeschlagen: "le progrès continu du passé qui ronge l'avenir et qui gonfle en avançant" (1907, L'évolution créatrice). Der Ausdruck "Dauer" ist mir im Deutschen und Englischen zu wenig "aktiv", weshalb wohl auch im Französischen Bergson seine lebhaften Metaphern benötigt (vgl. unten die analogen Herderschen am Schluss der vierten Zwischenbilanz). Ich bevorzuge "Uhren", nicht nur, weil ich in der Sprache keinen dazu geeigneteren Ausdruck finde, sondern auch, weil ich damit die Sonderstellung der technischen Uhren relativieren möchte. Denn Uhren in üblichen engeren Sinn sind Zeitherstellungseinrichtungen wie alle anderen auch.
Im allgemeinen Sinn nenne ich mithin alle realen Zeitkonstruktionen "Uhren". Denn ohne Zeitgeneratoren, die in bestimmter Weise Zeit konkretisieren oder real konstruieren, gibt es keine real ablaufende Zeit überhaupt. Die grössere Präzision der Uhren im engeren Sinn im Vergleich mit anderen Zeitgeneratoren, sowohl im Hinblick auf Gangkonstanz wie bezüglich der Feinteilung von Zeiteinheiten, ist gewiss praktisch; aber wir sollten sie nicht zum Fetisch machen. Wir werden also von erfahrbaren psychischen, biotischen, physischen und sozialen Uhren reden und die Art und Weise untersuchen, wie deren Modellierungen zustandekommen und einander beeinflussen und bedingen. Alle realen Uhren laufen notwendig in einem bestimmten Tempo oder Takt. Der Ausdruck "Zeit" seinerseits abstrahiert von einem bestimmten Gang irgendeiner konkreten Uhr und meint mithin die Erstreckung des Ablaufs schlechthin.
Nun möchte ich Ihnen zunächst eine erste Reihe von unmittelbaren, Zeit betreffende Erfahrungen vorführen. Sie basieren wohl im Psychischen und führen auch schon ins Psychologische, weil sie Individuen berühren und bewegen, die sich in ihrer Welt zu orientieren versuchen, und wir unserseits ihr Tun verstehen möchten. Daran muss ja jede Erfahrungsverarbeitung ansetzen. Psychische Zeiterfahrungen beruhen auf unserem Umgang mit Uhren aller Art, solchen ausserhalb wie solchen innerhalb uns selbst. Hätte Augustinus in seiner Bescheidenheits-Captatio sich nicht die überschwere Aufgabe gestellt, über Zeit als solche zu reden, dann hätte er vielleicht weniger Ehrfurcht ausgelöst; tatsächlich hat er ja vor allem über seine zeitlichen Erfahrungen und Befindlichkeiten im Verhältnis zur mutmasslichen Ausserzeitlichkeit Gottes und deren zeitlichen Erscheinungen meditiert und daran Anschliessendes erwogen.
Man kann einige dieser Erfahrungen und Verarbeitungen auch philosophische nennen. Sie wurzeln in Erfahrungen, welche jede und jeder machen kann, vor oder verhältnismässig frei von aller Verbildung durch bestimmte wissenschaftliche Verfestigungen.
Es scheint, dass Menschen eine fast unersättliche Neigung haben, alles, was sie interessiert, von allem anderen abzugrenzen. Genauer, unser Umgang mit der Welt kann einem genuinen Funktionsprinzip der Gestaltwahrnehmung nicht entgehen. Im Sehen wie im Hören und den weiteren Sinnen finden wir eine Figur-Grund-Organisation, welche segensreich etwas aus allem, das ins Auge oder Ohr etc. wirkt, heraushebt und alles andere ausblendet und unterdrückt. Im Denken ist es die Einheit des Begriffs und die Einheiten der ihm subsumierten Elemente; in der Sprache sind es die sauberen Einheiten die Wörter oder doch wenigstens die Aussagen; im Selbsterleben ist es die Einheit der Person, u.a.m. In der Folge ist fast alles was Menschen herstellen, stark elemental, dh aus seiner Umgebung separiert und ziemlich verselbständigt. Im Vergleich dazu sind die Hervorbringungen der Natur weit eher Teile eines unabdingbaren Zusammenhangs. Wie immer sie abscheidbar sind, sie können jedenfalls nur im Verband mit ihrer Umgebung funktionieren. Die Gliederung der Welt, wie wir sie erfahren, ist somit wesentlich auch eine Teilung, die durch unsere perzeptiv-kognitive Organisation bewirkt wird. Unsere Wahrnehmungsorganisation wird auf die Dingorganisation projiziert. Das heisst nicht, dass sie nicht auf reale Differenzierungen bezugnimmt; aber ein eins-zu-eins-Verhältnis besteht da keineswegs. Im besonderen verdeckt unsere bevorzugte Gliederung nicht selten die Wahrnehmung anderer, auch möglicher Gliederungen.
So auch mit dem Fliessen allen Geschehens um uns und in uns. William James (1886/1890) hat - mit ähnlicher Akzentsetzung auf die subjektive Zeit wie Augustinus - vom "stream of consciousness" gesprochen, also vom Erlebensfluss, und eifrig versucht, ihn in Segmente zu zerteilen, ihn als eine Folge von Zuständen (vgl. oben 2.1) zu gliedern. Nach einem temporalen Figur-Grund-Prinzip wird uns in der Tat jedes Geschehen zu einer Folge von Ereignissen. Ereignisse müssen alle Anfang und Ende haben, obwohl eigentlich meistens eines ins andere führt und es weiterträgt. Ob ein Ereignis von einem andern abgelöst wird - also an seinem Ende der Anfang eines andern - oder ob es fliessend übergeht, ist eine Frage, die keine allgemeine Antwort finden kann, sondern sich stets nur aus einem bestimmten Betrachterstandpunkt löst. Das merkt man spätestens, wenn man konkretes Handeln gefilmt hat und es zum Zweck gründlicher Forschung in Episoden aufteilen will. Der Filmer freilich konzipiert seinen Film zum vornherein in Episoden und realisiert den Fluss des Geschehens in Stücken mit Schnitten und anderen Übergängen. Wie praktisch sind doch die Epochen-Gliederungen der Historiker, und wie falsch auch stets. Saubere Einheiten des Tuns mag es in den Arbeitsvorbereitungsplänen industrieller Produktion geben und neuerdings sogar in der Forschungsplanung; aber die Ausführung hält sich schon nur bedingt daran, wenn sie nicht in dieser weltzerhackenden Weise erzwungen wird.
Das alles impliziert Zeit. Unter der Erscheinungsform des Wandels wird erfahrene Zeit zur Ereignisreihe und abstrahiert zur Taktfolge. Das Geschehen verliert seinen Flusscharakter, wird zur Reihe von Zuständen im Nacheinander. Die Frage nach dem Anfang und Ende im Kleinen führte wohl Menschen früher oder später zur Frage nach dem eigentlichen Anfang und dem eigentlichen Ende, ganz am Anfang der Reihe und ganz an ihrem Schluss. So gibt es anscheinend kaum Menschengruppen, die sich nicht auf die eine oder andere Weise einen Mythos vom Ursprung und meist auch vom mutmasslichen Ende ausgedacht haben; und von den Wegen die vom einen zum anderen führen könnten. Die ursprünglichere umfassende Orientierung der Menschen ist in der Zeit; im Raum ist sie viel länger eine regionale geblieben. Der gestirnte Himmel ist bis in die Neuzeit eher eine Uhr denn ein Raum, eher ein Verweis auf die Ewigkeit denn ein Aufenthalt.
Seltsam auch, wie oft der Zeit als Ordnung das Chaos vorausgedacht worden ist; während nach dem Ende der Zeit, wenn nicht die Wiederkehr, so nicht selten ein zeitlos-ewiges Glück, im Kontrast vielleicht zum ebenso zeitlos-ewigen Inferno, gedacht wird. Sehr mensch-zentrierte Kosmogonien! Die Kosmogonien der modernen Physiker (zB Hawkins 1987) sind zwar mathematisch ausgedrückt; aber sie haben offenbar nach wie vor die Funktion, der Stimmigkeit von Deutungen unseres Daseins einen - auch zeitlich gefassten - Schlussstein einzufügen (vgl. unten)
Man kann seit den Einsichten der Gestaltpsychologen mit guten Belegen geltend machen, die feste und einfache Gliederung der Dinge und Ereignisse in unserem Verständnis sei oft mehr ein Beitrag der Erkennenden als eine Invariante des Erkannten. Und so mag man sich wundern, warum das Verständnis dieser kognitiven Grundgesetze noch nicht zu einem allgemeinen Bildungsgut geworden ist. Man hat es bis heute vorgezogen, die Natur der erkennenden Subjekte und die ihnen gegebenen Objekte dogmatisch zu setzen anstatt ihr Verhältnis empirisch zu erforschen. So denken wir, zwischen Anfang und Ende von Allem müssten Anfang und Ende von jedem Einzelnen in einer schönen Reihe einander folgen wie ein Tag dem anderen, ein Jahr dem vorigen. Liegt hier ein Ursprung unserer Lieblingsvorstellung von Zeit als dem Takt der Welt? Haben wir uns daran gewöhnt, scheint unser Gliederungsstreben von "Fakten" unterstützt zu werden, die freilich auch unseren Fiktionen entstammen. So gleicht erfahrene Zeit einer Perlenkette; für wissenschaftliche Zwecke haben wir sie zum Kontinuum abstrahiert.
Eine zweite Einsicht in das Zeitliche muss ebenfalls eine sehr frühe und ebenso mächtige sein, da sie ihre Spur in alle Sprachen der Welt eingeprägt hat: es ist die Unterscheidung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Der Fluss der Welt gliedert sich nicht nur in Ereignisse, sondern in die radikal unterschiedlichen Epochen des Vergangenen und des Künftigen, getrennt durch das Jetzt der Gegenwart. Der britische Philosoph MacTaggart (1908) hat beharrlich darauf insistiert; jedoch im Unterschied zur Ereignisgliederung klar dafür optiert, dass die V-G-Z- Gliederung ausschliesslich eine Konstruktion unserer Erfahrung, also wie man sagt "subjektiv" sei und nicht eine "objektive" Eigenschaft der Welt selber. Ich werde zu zeigen versuchen, dass er irrt (vgl. unten 9.3).
Wie kaum eine andere Einsicht ist die V-G-Z-Gliederung zur Grundlage der menschlichen Selbstreflexion geworden und zu einer Basis der Strategien der Erforschung der Welt. In unterschiedlichen Formen bestimmt sie die Grundstruktur aller Sprachen. Aber hat sie auch die ihr gebührende Bewertung erfahren? Die Naturwissenschaften haben sie auszublenden versucht, indem sie ihre Grundgesetzlichkeiten von ihr unabhängig formulierten. Die Biologen scheinen in der Folge der Frage auszuweichen. Die Theologen und Philosophen haben sie durch die Erfindung der Ewigkeit abgeschwächt. Aber die menschliche Befindlichkeit kommt um sie nicht herum. So sollten wir auch hier von letzterer ausgehen.
William James hat nicht nur besonders eindrücklich die "Perlen" der Zeit aufzuweisen versucht, sondern - wiederum in Aufnahme von Thesen des Augustinus - auch den Zwang erkannt, dass wir die Segmente aufeinander beziehen müssen und die Weisen untersucht, wie wir das tun. Seine Erlebnisanalysen, gestützt durch experimentalpsychologische Untersuchungen seit 1860, veranlassten ihn, die Vorstellung der scheinbaren Gegenwart einzuführen. Die specious present - die trügerische, die blendende, die bestechende Gegenwart - ist jener Erlebnisbereich, jenes erlebte Zeitsegment, in der wir unserer Vorstellungen aktuell gewahr sind. Die scheinbare Gegenwart dauert vielleicht einige Sekunden, deutlich weniger als eine Minute. William Stern (1897) sprach wenig später von der psychologischen Präsenzzeit als dem Interval von 0.5 bis 7 Sekunden, in der gerade noch eine einheitliche Empfindung möglich ist, die aber selber eigentlich zeitlos erscheint. In ihr enthalten sind nicht nur die aktuellen Wahrnehmungen und Vorstellungen, sondern auch einzelne Erinnerungen, dh die gegenwärtigen Darstellungen vergangener Segmente und ebenso die Vorstellungen möglicher Segmente, die kommen oder nicht kommen könnten, also die Vergangenheit und die Zukunft. Und solche psychischen Inhalte sollen in der erlebten Gegenwart nicht mehr zeitlich, sondern nur noch inhaltlich gegliedert ein Ganzes bilden. Das Erleben insgesamt wäre als eine Folge solcher gegenwärtiger, selbst zeitloser Momente zu verstehen.
Aber die Vergangenheit ist in jedem dieser Momente unwiederbringlich vorbei. Nur eine Erinnerung an ihre Wirklichkeit, ein Gedächtnis, ob trefflich oder verfälschend, kann in einer Gegenwart wieder wirksam werden. Und die Zukunft? Als Zukunft gibt es sie auch nur in der Gegenwart der Vorstellung; und wenn sie wirklich Zukunft in der Gegenwart wird, so ist sie im nächsten Augenblick unwiederbringliche Vergangenheit geworden, wenngleich sie als solche in späteren Gegenwarten repräsentierbar ist.
Das zeigt den, das ist der unerbittliche, gerichtete Strom der erfahrenen Zeit. Nicht nur, dass jedes Segment nur ein ganz bestimmtes Vorher und nur ein ganz bestimmtes Nachher hat und jedes Vorher ein Nachher und jedes Nachher ein Vorher - also Zeit als Reihe von Zuständen -, sondern überdies, dass die Menge aller Zeitsegmente zwingend in drei Klassen fallen, die vergangenen, das gegenwärtige und die künftigen; und dass die Gegenwartsklasse stets nur ein Element enthält bzw. dass immer nur ein Segment meine Gegenwart sein kann und dass dieses eine Segment unerbittlich wechselt von einem künftigen in ein vergangenes. Entweder läuftdie Zeit, ohne dass ich sie im mindesten halten kann, an mir vorbei, durch mich hindurch, vom Künftigen ins Vergangene; oder ich werde unerbittlich durch die Zeit gezogen und gestossen. Und dieser Strom, der durch mich läuft, ändert mich in meiner Entwicklung, oder er lässt mich als unzeitig zurück.
Und nun folgenreich: nur in jeder Gegenwart können meine Vorstellungen oder Darstellungen von vergangenen und von möglichen künftigen Segmenten miteinander in Beziehung treten, indem sie vorübergehend aus einem virtuellen in einen aktuellen Zustand übertreten, dh gegenwärtige werden. Voneinander entfernte Segmente können als solche nicht miteinander in Beziehung treten; nur durch ihre Darstellungen. Und so können Despoten wohl die Geschichtsbücher in ihrem Interesse fälschen, nicht aber das Vergangene selbst. Die wirkliche Geschichte zieht an uns vorbei oder wir werden von ihr mitgenommen wie in einem geschlossenen Wagen, dessen scheinbare Fenster eigentlich Videogeräte sind mit Szenen aus der Vergangenheit und mit Cyberspace-artigen Vignetten möglicher Zukünfte.
Nun möchte ich - auf dem Hintergrund der geschilderten psychischen Grunderfahrungen - drei grosse Fragen zur Zeit stellen. Deren Verständnis wird sich nach und herausbilden, auch wenn ich sie nicht mit schlüssigen Antworten versehen kann. Es ist höchste Zeit, die Fragen nach der Zeit dem Griff der einzelnen Disziplinen zu entziehen und auch zwischen sie zu stellen. Denn die abendländische Auffassung hat sich über die Massen von einer besonderen Auffassung von Zeit, der physikalischen, einnehmen lassen und sie langezeit zur Ausgangsposition für fast alle anderen Auffassungen verabsolutiert. An deren Stelle möchte ich keineswegs die Auffassung einer anderen Disziplin, etwa der Psychologie, setzen. Die geschilderten zeitlichen Erfahrungen sind ja vor-psychologisch; ich habe sie jetzt nur durch psychologische Einsichten begreiflich zu machen versucht. Es wird mich wundernehmen, ob die anderen Disziplinen die Fragen als Fragen sehen können und wie sie damit umgehen.
Die grossen Fragen lassen sich vorläufig etwa wie folgt fassen. Obwohl ich sie nicht beantworten kann, möchte ich meine Erwägungen bewusst wie Antworteversuche formulieren. Anstrengungen zu ihrer Widerlegung werden uns weiterbringen.
1. Meinen wir mit Zeit etwas Wirkliches, und inwiefern, oder etwas "Unreales", "eine ständige Illusion unseres Geistes" (MacTaggart 1908 = 1993:68)? Einen Phänomencharakter oder unsere Konstruktion über einen Phänomenbereich? M.a.W. begreifen wir Zeit überwiegend real oder nominal?
2. Wenn wir sie real begreifen wollen: wie ernst nehmen wir dann diese Gegenwarten mit ihrem Monopol auf jeglichen Wandel? Und wie ernst die Fixiertheit aller Vergangenheit und den Möglichkeitscharakter aller Zukunft? Und wie sind meine Gegenwarten mit den Gegenwarten der anderen koordiniert?
3. In was für einem Verhältnis stehen die Vergangenheiten und die Zukünfte der verschiedenen Gegenwarten: aller Gegenwarten jedes einzelnen der unendlich vielen Individuellen untereinander und derjenigen aller interagierenden Individuellen zueinander? In welchem Sinn kann man von einer überindividuellen Gegenwart sprechen? Nominal oder real?
Diese aus allgemeiner Erfahrung gewonnenen Feststellungen - der gerichtete Strom der erfahrenen Zeit und unser segmentierender Umgang mit ihr sowie diese Perspektivität auf die und aus der Gegenwart - rufen nach einer ersten Zwischenbilanz: einem Vergleich mit dem, was die Naturwissenschaftler daraus gemacht haben.
Unsere Segmentierungen mit all ihrer Diversität haben sie begreiflicherweise als behindernd und irreführend empfunden und Wege zu ihrer Überwindung in Richtung auf ein Allgemeines entwickelt. Das Studium der Bewegung von Körpern, der Gestirne oder der Billardkugeln, hat sie auf das Kontinuierliche der Zeit hingewiesen; dennoch hat sie ihre (unsere) perzeptiv-kognitiv-aktionale Ausstattung genötigt, segmentierend vorzugehen und den Strom von Bewegung als eine Abfolgen von Lagen, von Zuständen zu erfassen. Sie kennen alle die Technik des Films: eine Folge von Zustands-Einzelbildern wird so rasch nacheinander projiziert, dass unser Sehsystem die einander folgenden Segmente verschmilzt und Bewegtes sieht, wo Bild für Bild ein je Statisches präsentiert. Mit der Differentialrechnung haben Newton und Leibniz die elegante Lösung gefunden, die Zustände nicht fahren zu lassen und die Kontinuität dennoch zur Darstellung zu bringen und in alle Verarbeitungen eingehen zu lassen. Mit hohem Gewinn und hohem Preis: Bewegung als Prototyp von Zeitlichkeit wurde handhabbar; aber dem Zeitstrom wurde der Wirklichkeitscharakter entzogen.
Noch problematischer sind sie mit der Besonderheit der Gegenwart umgegangen. Sie störte. Also unterdrückte man sie. Differentialgleichungen nach Zeit sind zeitlos und dulden keine Bruchstelle. Bemerkenswert, dass ein unserer Erlebnisorganisation analoges Vorgehen eingeschlagen worden ist: wie die erlebte Gegenwart abstrahieren Differentialgleichungen vom Zeitstrom und brauchen dann keinen Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft zu machen, obwohl in beiden Fällen die relative Ordnung der Zustände oder Inhalte beibehalten bleibt. Ob die Welt vorwärts läuft oder rückwärts, ist der Differentialgleichung einerlei (nicht so freilich der Erlebniswelt). Man behandelt das Vergangene und das Künftige gleich. Nur so glaubt man - paradoxerweise - das grosse Rahmenziel erreichen zu können, die Zukunft aus der Vergangenheit vorherzusagen.
Die Naturwissenschaft verbannte damit die sich wandelnde Perspektivität der realen Menschen auf den Zeitstrom aus ihrem Blick. Und gaukelte uns während Jahrhunderten ein Weltbild ohne Betrachterstandpunkt vor: das sogenannte objektive Geschehen. Mit hochproblematischen Folgen für die Art und Weise, wie wir mit der Zeit der Lebewesen umgehen. Auch wurden Welt- und Menschenbild voneinander dissoziiert. Mit dem Effekt, dass wir in gewisser Hinsicht versuchen, uns selber wie einen Teil einer zeitlosen Welt zu behandeln, in anderer Hinsicht aber sehr wohl wissen, dass das nicht geht. Wird man im 21. Jahrhundert die nicht geringen Schwierigkeiten bewältigen, eine perspektivische Zeit theoretisch und vielleicht mit der Zeit auch praktisch wieder in das Weltbild einzubauen?
Aber die Psychologen des späten 19. Jh. nahmen dieses scheinzeitliche Weltbild der Naturwissenschaftler für die Wirklichkeit und stellten sich die Aufgabe zu zeigen, wie es die Psyche denn schaffe, sich diese Wirklichkeit anzueignen, sich ihr - leider offenbar bloss fehlerhaft - anzupassen. So erfanden die Psychologen unter den Philosophen und Physiologen den Zeitsinn (Czermak 1857). Ein Sinn, ein auf das Wahrnehmen von Zeit spezialisiertes Organ, war allerdings - damals wie heute - nicht aufzufinden.
Ich komme damit zu einer weiteren Gruppe von psychischen Beobachtungen und ihrer nun explizit empirisch-psychologischen Modellierung.
Wer im Laufe seines Lebens älter wird, macht die unvermeidliche Erfahrung, dass die Zeit immer schneller läuft. Schon wieder ist ein Tag, eine Woche, ein Jahr um; und sie folgen einander immer rasender. Aber die Zeit hat doch ihren festen Takt, die Uhren laufen doch nicht schneller, wissen wir, und dennoch ist unser Unvermögen, gleich viel wie in jüngeren Jahren in eine Stunde zu packen, eine harte Tatsache.
Paul Janet (nach James 1890:I/625) hat versucht, diese Beobachtungen in "Gesetzes"form zu bringen, indem er behauptete, die empfundene Dauer einer Zeitstrecke sei stets proportional zum Lebensalter, ein Jahr für einen 50-jährigen also nur ein Fünftel des Jahres eines Zehnjährigen. Mag so ähnlich wohl sein. Aber wenn schon die Beschreibung der Erscheinung Schwierigkeiten bereitet, wie viel mehr noch ihre Erklärung.
Was liegt denn hier vor? Eine dumme, subjektive Täuschung? Kosmetisch zu vertuschen, so gut es geht? Oder vielleicht ein intrigierender Hinweis auf die Art und Weise des Verhältnisses zwischen uns selbst und der übrigen Welt?
Wenn der Zeittakt der Welt ein so durchgängiger wäre, wie wir ihn uns gerne vorstellen und wie er in den von uns als Referenz bevorzugten physisch-physikalischen Uhren zum Ausdruck kommt, dann ist schwer zu verstehen, warum wir gewissermassen aus dem Takt geraten können. Den Takt der Uhren haben wir angeboren - das zeigen mancherlei Zyklizitäten schon der Säuglinge - und verfeinern ihn von Kindheit an; warum sollten wir ihm mit der enorm gestiegenen Erfahrung als ältere Erwachsene entgleiten?
Es entsteht hier die Vermutung, dass wir eine Eigenzeit, eine eigene Uhr haben oder sein müssen, eine innere Uhr, die ihren eigenen Takt verfolgt, vom Takt der Weltuhren (Tag und Nacht, Jahr um Jahr; und der mechanischen und elektronischen Maschinen welche sie idealisieren) zwar beeinflusst, aber nicht wirklich eingefangen, bloss locker ihnen zugesellt, letztlich ihren eigenen Takt gehend, vom Leben mehr bestimmt als von der Welt der Physik. Und fast unbeeinflusst von der wachsenden Zahl der Maschinen auf dem Turm, an der Wand, am Arm, im Ohr, ... Und überdies die Tatsachen des Lebens einbeziehend: je älter wir werden, desto länger wird unsere persönliche Vergangenheitskette und desto kürzer unsere Zukunft. Diese Eigen-Uhr ändert ihr Tempo mit ihrem Gang. Sie läuft zunehmend langsamer; darum scheint der Rest der Welt sich zu beschleunigen.
Wir müssen freilich nicht erst alt werden, um eine ähnliche Erfahrung der Relativität von Zeit zu machen. Wie kann uns nicht, schon als Kind, eine Wartezeit unendlich lang werden. Und später, im Rückblick darauf, ist sie wie weggeblasen? Und eine Zeit intensivsten Erlebens oder Mitgerissenwerdens vergeht wie im Flug. Später aber, in unserer Erinnerung, erfährt sie eine Ausdehnung, die sie fast alleine gross und mächtig im Rückblick auf den Zeitfluss übrig lässt, wie wenn sie ihr Vorher und Nachher in sich aufgesogen hätte. Zeit ist zum zweitenmal nicht invariant, sondern erweist sich als abhängig von sich selbst.
Sie könnten einwenden, ich bringe die erlebte Zeit und die reflektierte, dargestellte Zeit durcheinander. Die aktuelle Langeweile werde erst im Gedächtnis verkürzt, die Kurzweil retrospektiv zeitlich angereichert. Das sei nicht Zeit, sondern bloss erinnerte Zeit. Die Wirklichkeit und ihre Erinnerung sei zweierlei. - Ja schon, aber was halten Sie von einer Erinnerung welche die Merkmale des erinnerten Geschehens fast systematisch gewissermassen in ihr Gegenteil "verdreht"? Wenn etwas Gesehenes gross gewesen ist, erinnerten wir es klein; wenn es schwarz war, weiss, usw. Zeit aktuell und Zeit erinnert scheinen sich nicht an die üblichen Regeln der Identität der Dinge mit sich selbst zu halten.
Der Einwand basiert eben bloss auf der wissenschafts"propagandistischen" Gewohnheit, Zeit ohne ausgezeichnete Gegenwart zu denken und deren Scharnierfunktion zwischen Vergangenheit und Zukunft für eine Illusion zu halten. Die Realität des Erlebens hält sich nicht daran. Die Gegenwart hat, was unsere Zeiterfahrung betrifft, wirklich eine Scharnierfunktion zwischen Vergangenheit und Zukunft. Sie verändert kurz in lang und umgekehrt.
Solche Alltagserfahrungen sind es vermutlich gewesen, welche die frühen Experimentalpsychologen (beginnend mit A. Höring (1864), Ernst Mach (1865), Karl Vierordt (1868, Der Zeitsinn nach Versuchen) veranlasst haben, drei Hypothesen von der gefüllten und von der leeren Zeit aufzustellen und zu prüfen. Eine Zeitstrecke, die von Ereignissen angefüllt sei, verkürze sich im aktuellen Erleben im Verhältnis zu einer "leeren" Zeitstrecke. Erlebte gefüllte und leere Zeit wichen in entgegengesetzter Richtung von der "wirklichen" oder gemessenen Zeit ab. Und im Nachhinein erscheine aber umgekehrt die volle Zeit verlängert, die leere Zeit verkürzt. Das lässt sich teilweise mit einer visuellen Analogie illustrieren, die auch die Denkweise deutlicher macht: die Oppel-Kundt-"Täuschung" oder -Diskrepanz - da ist ein Reiz gegeben, das Wahrnehmungssystem bildet ihn ab, leider mit einem "Fehler". Eine Wegstrecke sieht man länger, wenn sie durch Querstriche unterteilt ist:
Diese Uhr läuft nicht nur abhängig von der Dauer der Zeitstrecke, sondern auch von gewissen nichtzeitlichen Qualitäten der Strecke, die sie misst; wie ein Gummimeter, der sich für kleine rote Stoffstücke dehnt, für lange grüne dagegen mehr oder weniger zusammenzieht. Kein Wunder, dass man konstante Uhren bewundert, wenn man von Exaktheit besessen ist, und die erlebte Zeit als "subjektive" miesmacht.
In der Zeit seither wurden hunderte bis tausende von Versuchen dieserart gemacht. Sie haben wenig zum Verständnis unserer zeitlichen Organisation beigetragen. Dass sie die psychophysi(kali)schen Gesetze von Weber und von Fechner verletzen, hat man festgestellt, aber keine Konsequenzen daraus gezogen (Lang 1971). Man hätte sonst die Idee von der Erstreckung einer Zeit als Reizäquivalent aufgeben und damit die eingesetzte Forschungsstrategie desavouieren müssen. Selten verleugnet ein Wissenschaftler seine eigene Vergangenheit und wendet sich von den liebgewordenen Gewohnheiten seiner Gemeinschaft ab. Aber folgerichtig war schon die von einigen aufgebrachte, von andern heftig unterdrückte Ahnung, so real sei vielleicht die physikalische Zeit gar nicht.
Dennoch hat sich hartnäckig und bis heute eine mit den beschriebenen Relativitäten verbundene Theorie gehalten, welche behauptet, erlebte oder erfahrene Dauer sei nicht genuin zeitlich, aber dennoch eine Wahrnehmung - oder für längere Dauern eine auf Wahrnehmung beruhende Kognition - nämlich eine aus einem Mengeneindruck einer zeitlich erstreckten Situation abgeleitete Grösse. Auch das eine Vorstellung, die sich in der Antike schon, zB bei Plotin, findet. Psychologisch sei Zeit nichts anderes als die wahrgenommene Dichte der Ereignisse während einer erfahrenen Zeitstrecke: je mehr Ereignisse, desto länger, je weniger Ereignisse während des Intervalls, desto kürzer die erlebte Dauer. Leider gibt es auch Untersuchungen mit dem genau umgekehrten Ergebnis (zB Fraisse 1967:146).
Diese Theorie wurde in neuerer Zeit vor allem vom französischen Psychologen Paul Fraisse (1957, 1967) propagiert, der in den 50er / 60er Jahren eines der einflussreichsten Übersichtsbücher über das Problem der psychologischen Zeit verfasst hat und eine grosse Zahl von bestätigenden Untersuchungen durchgeführt und angeregt hat. "La durée psychologique est faite de changements [...] qui se succèdent et de rien d'autre" (1967:229); dabei denkt er an Ereignisse sowohl im inneren Erleben wie aus der Aussenwelt wahrgenommene.
Die Möglichkeit einer Umsetzung einer Qualität der Stimulation in eine andere der Perzeption ist gewiss grundsätzlich richtig. In der Tat werden zB zeitliche Eigenschaften von Schällen je nach Umständen wahrgenommen als Tonhöhen, als Geräuschqualitäten, als Unterscheidungsmomente sprachlicher Phoneme, als Rhythmen, als Dauern usw. Aber Fraisses Fall der Wahrnehmung von Ereignisdichte als Dauer ist einfach verfehlt. Fraisse und seine Gleichdenker haben nie auf den Einwand geantwortet, man müsse, um die Dichte von Ereignissen - also die Anzahl von Ereignissen pro Zeiteinheit - festellen zu können, bereits über eine eigene Uhr oder ein Zeitraster verfügen. Seine These liefe mithin darauf hinaus, dass eine Ereignisdichte mit dieser Ereignisdichte selbst gemessen würde; das Ergebnis wäre demnach immer gleich oder beliebig (Lang 1970).
Hier könnte ausführlich über die sogenannte Psychophysik der Dauer oder die quantitative Zuordnung zwischen der "subjektiven" Dauer von Ereignissen und deren "objektiven" zeitlichen Erstreckung in einem physikalischen Sinn berichtet werden. Ich will Ihnen das aber nicht nur wegen seiner technischen Kompliziertheit ersparen, sondern weil auch die Ergebnisse einer kritischen Behandlung bedürften, die den Rahmen dieser Darstellung sprengen müsste. Es sei nur soviel festgehalten, dass ich aufgrund einer Analyse der Ergebnisse von allen verfügbaren einschlägigen Untersuchungen zwischen 1950 und 1970 zum Schluss gekommen bin, eine Fechner-Funktion könne weder in ihrer allgemeinen Form noch in ihren spezifischen Parametern gehaltvoll auf die verfügbaren Daten gelegt werden. Statt einer Weberschen Unterschiedsschwelle lassen sich überdies mehrere, je nach Methode um nahezu zwei Grössenordnungen variierende Werte aufweisen. So muss es sich meiner Meinung nach bei den von der Forschung dazu vorgelegten Daten im wesentlichen um methodische Artefakte handeln (Lang 1971).
Die Experimentalpsychologen haben aber auch die eigentlich wohl wichtigere Frage nach der Natur und dem Funktionieren jener intrigierenden Gegenwart, der specious present von James und Stern, in Angriff genommen. Zunächst theoretisch gefragt: hat diese erlebte Gegenwart, in der sich die aktuelle Wahrnehmung und erlebte Gedanken mit Erinnerungen aus der Vergangenheit und Vorstellungen für die Zukunft treffen können, selber eine zeitliche Erstreckung oder nicht?
Wenn diese "psychische Präsenzzeit" als von zeitlicher Natur konzipiert wird, stellt sich die Frage, wie dann ihre Inhalte zugleich gegenwärtig und ungleichzeitig sein können sollen? Wäre dies möglich, so könnte in oder durch diese Inklusion Zeit als Sukzession konstituiert werden, aber als pure Gegenwart keine zeitliche Ordnung oder gar Richtung begründen. Wie könnte also Zeitlichkeit in dieser zeitlos-zeitlichen Gegenwart überhaupt begriffen werden?
Wenn die Gegenwart anderseits nicht zeitlich begriffen wird, wie kann sie dann für die Zeitlichkeit des Bezugs von Vergangenheit auf Zukunft bzw. beider auf Gegenwart einschlägig sein? In diesem Fall könnte die Gegenwart Zeit auch nicht konstituieren; denn was als gerichtete Sukzession erscheint müsste sich auf eine reine Ordnungsrelation reduzieren, von einem örtlichen Einanderausschliessen oder Nebeneinander nicht unterscheidbar. Damit müsste der Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft beliebig sein, wie es ja im klassisch-physikalischen Zeitbegriff angenommen worden ist. "Fällt alles Veränderliche weg, so ist auch das Mass aller Veränderungen, die Zeit, verschwunden." (Herder 1799 = 1830:85)
In beiden Fällen helfen uns Beobachtungen und Analysen von Erfahrungen nicht weiter. So haben denn die Weltweisen der Psyche und der Physis sich zu Metaphysikern gemausert und das Problem der Zeit durch begriffliche Setzungen zu lösen vorgeschlagen. Dass sie dabei vor allem dem Analogiedenken zu ihren naiv-kritischen Anmutungen zur Räumlichkeit erlegen sind, macht noch Kants Bezeichung der Zeit als reiner Anschauungsform deutlich, obwohl wir ja nun wirklich Zeit mit den Augen, wie Herder nüchtern bemerkt, so wenig anschauen können, wie "die feinste Zunge oder das stolzeste Ohr das Gegebene, das sie finden" (Herder 1799 = 1830:64).
Der Umgang mit diesen beiden umöglichen Alternativen scheint mir bedeutsam für des Verständnis nicht nur der psychischen Zeit. Denn auch bei der physischenZeit und ihrer Modellierung findet sich ein ähnliches Paradoxon. Um physische Zeit als Erstrecktheit eines Ereignisses messen zu können, muss ich über eine vom Messobjekt unabhängige Uhr verfügen. Dh ich muss Zeit in die Messeinrichtung stecken und messe mithin mein Objekt ausschliesslich in Begriffen der ins Messinstrument gesteckten physikalischen Qualität. Ich finde also Zeit beim Messobjekt nicht vor, sondern stecke sie durch das Messverfahren notwendig hinein. Anders gesagt, ich messe eine Zeit in Ausdrücken einer andern und tue so, wie wenn dabei die Qualität dem Objekt eigen wäre und nicht meinem Verfahren. Was ich dabei Zeit nenne ist nicht real, dh unabhängig von meinem Akt, spezifiziert, sondern in dem Sinne nominal, als ich etwas Unbekanntem, allerdings Handhabbaren, einen Namen gegeben habe. Physikalische Zeit ist mithin eine Konstruktion, nicht eine vorgefundene Realität.
Wenn ich also sage, ich habe eine Zeitstrecke (oder das Verhalten einer Uhr) gemessen, spiegle ich etwas vor, weil ich die Qualität des Masses durch die Adoption meiner Mess-Uhr eigentlich auch nur gesetzt habe. Anstelle der Metaphysik habe ich auf das Positive einer anderen Uhr gesetzt. Das stört weiter nicht, wenn ich mit solchen Messungen konsistent umgehen kann und ihr Insgesamt einen Platz findet in einem Gefüge von anderen Messungen oder Qualitäten, wie etwa von Raumparametern und der Masse in der klassischen Mechanik. So haben eben die Physiker den geradezu pervasiven Parameter t in allen ihren Differentialgleichungen; aber er ist eigentlich inhaltslos, eine Fiktion, eine Nichtrealität.
Für die Physiker ist das also ein bewältigbares Problem. Dem Sachverhalt dürften Physiker zustimmen, auch wenn einige an meiner Formulierung Anstoss nehmen könnten. Natürlich bleibt ein Rest von Unglück. Zeit als positiver, aber bloss abstrakter Parameter lässt viele Fragen offen. So erzeugt sie zum Beispiel die Paradoxie zwischen Zeitsymmetrie und dem Zeitpfeil in der Thermodynamik. Darüber wurde in früheren Vorlesungen dieser Reihe gesprochen.
Doch zurück zur zeitleeren psychischen Gegenwart. Man kann nun dieses Problem der zeitlosen Zeitbasis aber auch empirisch angehen, indem man untersucht, unter welchen Bedingungen Personen Ereignisse gleichzeitig bzw. in Sukzession wahrnehmen. Zu diesem Zweck bietet man zB kurze Töne oder Lichtblitze in geeigneter zeitlicher Variation an. Einem geübten Beobachter kann eine Unterbrechung eines Tones um wenigstens 2 msec. genügen, um zwei Töne wahrzunehmen; bei optischen Reizen an gleicher Netzhautstelle sind dazu wenigstens 50 msec. nötig, aus nachvollziehbaren physiologischen Gründen. Bietet man nach Lokalisation, Reizqualität oder Modalität zwei voneinander unterscheidbare Signale, so sind deutlich längere Unterbrechungen bis zu 100 msec. nötig, dass die Beobachter zwei Signale bemerken und nicht eines, das vielleicht seine Qualität ändert. Zeitlich getrennte Ereignisse verschmelzen also in der Wahrnehmung in einem variablen Zeitbereich zu einem einzigen.
Wenn zwei Signale unterschiedlicher Qualität wahrgenommen werden, kann man die Beobachter auch beurteilen lassen, welches der beiden vorausgeht und welches nachfolgt. Wieder sind die Ergebnisse alles andere als einfach. Bei nicht zu langem Abstand können zwei Signale schon deutlich als zwei bemerkt werden, während das Urteil über deren Reihenfolge noch ein zufälliges ist. Ungleichzeitigkeit und Nachfolgerelation sind also perzeptiv zweierlei! Verlängert man den Unterbruch weiter, so kann auch die Reihenfolge richtig angesagt werden. Die Dauer des dazu nötigen Unterbruchs variiert aber deutlich je nach Modalität, Qualität und Intensität. Es ist überdies ohne weiteres möglich, einen späteren Schlag auf eine Hautstelle früher zu spüren als einen klar nachfolgenden schwächeren an einer anderen. So kann man allerlei intrigierende "Täuschungen", dh Diskrepanzen zwischen vorgegebenen und wahrgenommenen Zeitabfolgen erzeugen. Das meiste davon, wenngleich nicht alles, lässt sich mit den zeitlichen Übertragungseigenschaften neuronaler Systeme in Verbindung bringen.
Die Ergebnisse machen aber deutlich, dass auch die Idee der Gleichzeitigkeit und Sukzession eine von allen Umständen abstrahierte oder bloss nominale ist. Wie sie im konkreten Umgang mit Zeitsignalen verwirklicht wird, hängt von mancherlei äusseren und inneren Umständen ab.
In der scheinbaren Gegenwart und im durch die Sukzessionsschwelle bestimmten minimalen Moment der Gleichzeitigkeit hat man dennoch seit dem letzten Jahrhundert so etwas wie den Puls der "subjektiven" Zeit gesucht. Die Idee war und ist offenbar noch heute verlockend. Könnte man mit diesem Pulsschlag das psychische Zeitelement in den Griff bekommen, dann müsste man nur noch eine Art Zählmechanismus beifügen und man hätte die sog. Innere Uhr modelliert, ein Analogon zur mechanischen Uhr mit Pendel oder Unruh und Integrator in Form von Zeiger oder Zähler. Entsprechend ist es heute unter Kognitionswissenschaftlern weitherum üblich geworden, den Aufbau und die Funktionsweise der psychischen Organisation überhaupt nach dem Vorbild des Computers zu modellieren. Da solche Geräte allerdings von Menschen gemacht werden, sind die resultierenden Modelle natürlich zirkulär und ohne Erklärungswert.
Dennoch haben etliche Zeitpsychologen den Nachweisversuchen einer inneren Einheitenzähluhr viel Zeit gewidmet. Das Paradigma solcher Untersuchungen lauet: Könnte man eine natürliche Manifestation der Einheit, zB eine kurze rhythmische Handlung (zB Klopfen im Sekundentakt) in seiner Abhängigkeit vom inneren Taktgeber beschleunigen oder verlangsamen (zB durch Stress, durch Müdigkeit, durch erhöhte Körpertemperatur etc.), so müsste sich dies im Schätzfehler für längere Zeitstrecken proportional auswirken (zB Über- oder Unterschätzen von 2 oder 4 Minuten); ein solcher Zusammenhang mehrerer menschlicher Uhren stellte dann ein Indiz für die Angemessenheit des Modells dar.
Seinerzeit habe ich auch zwei Untersuchungen mit diesem Ziel gemacht; zum Glück ohne Erfolg (Lang 1971). Denn beim Versuch, die Ergebnisse zu verstehen, ist mir nämlich klar geworden, dass organismische und psychische Systeme so mechanisch nicht sind. Vielmehr zeigen sie gewöhnlich ziemlich stabilisiertes Verhalten, das sich durch mässige Einflüsse nicht aus ihrer Ordnung bringen lässt. Es ist nicht eine gute Heuristik zu glauben, dass komplexe Systeme der Natur alles auf eine Karte setzen, wie dies in technischen Systemen unter häufig hohen Zusatzkosten für Korrektureinrichtungen üblich ist. Die Natur zieht Unempfindlichkeit gegen Störungen vor und ist ökonomisch dadurch, dass sie im Detail ungenau ist und ums Wesentliche aber beharrlich kreist. Äquifinalität ist das Stichwort: Kann die gleiche Leistung auf verschiedenen Wegen erreicht werden, so schadet der Ausfall eines Weges nicht.
Abb. 2 - Das Modell der multiplen inneren Uhr (zur Erläuterung vgl. Text)
Gibt es in diesem Sinne Alternativen zur Einheitenzähluhr? Ein entsprechendes Modell habe ich (1971) als multiple innere Uhr vorgeschlagen; ähnliche Vorstellungen sind verschiedentlich seither vorgebracht worden. Im folgenden übernehme ich Passagen aus Lang (1973).
In Abb. 2 sind die Grundzüge dieses Modell illustriert. In jedem lebenden Organismus gibt es eine Vielzahl von zeitlich strukturierten Vorgängen, von zyklischen und quasizyklischen Prozessen. Damit sie einander nicht ins Gehege kommen, werden diese Vorgänge jedoch nicht wie im Computer von einem einzigen zentralen Taktgeber ausgelöst oder gesteuert und auch nicht in einen einzigen Takt zusammengefasst; vielmehr verfolgt jeder Teilvorgang seinen je eigenen Takt. Über die anatomisch-physiologische Grundlage dieser Prozesse mache ich mir zunächst keine spezifischen Vorstellungen. Es genügt mir die Tatsache, dass Biologie und Medizin eine grosse Zahl solcher "biologischer Rhythmen" nachgewiesen haben. Frequenzmässig sind diese zyklischen Prozesse über ein sehr breites Spektrum verteilt; man findet solche mit Periodenlänge in Grössenordnung von Sekundenbruchteilen bis zur Grössenordnung von Monaten, ja vielleicht Jahren (vgl. Abschn. 7 unten und z. B. Sollberger 1965). Die Mehrzahl der bisher isolierten Zyklizitäten ist endogener Natur; manche von ihnen sind jedoch durch äussere Taktgeber in Phase und Frequenz mitbestimmt. Nicht beliebige Frequenzen kommen vor, sondern bei einem gegebenen Prozesstypus stets ganz bestimmte, die Art und das Individuum sowie seinen Zustand und das Verhalten seiner Umwelt kennzeichnende Werte. Diese Prozesse sind ferner zumindest partiell autonom, insofern sie der Beeinflussung durch andere "Rhythmen" sowie der Angleichung an periodische Umweltereignisse unterworfen, aber nicht beliebig, sondern stets nur in begrenztem Ausmass unterworfen sind.
Damit habe ich einen der Wege skizziert, die mich zur Formulierung der folgenden allgemeinen Hypothese geführt haben (vgl. auch Lang 1970): Die Zeit des Individuums ist das organisierte Insgesamt der zentralen Repräsentation von vielen, ein breites Frequenzspektrum deckenden und partiell autonomen "biologischen Rhythmen". Anstelle dieses Ausdrucks einer älteren Chronobiologie möchte ich heute lieber von einem Repertoir von untereinander mehr oder weniger gekoppelten biotischen Oszillatoren und Integratoren sprechen und (quasi-)zyklische Prozesse der Umwelt mit einbeziehen. Infolge der relativen Unspezifität der zentralen Repräsentation dieser biotischen und physischen Uhren ist denkbar, dass fast beliebige Ereignisse der wahrgenommenen Umwelt und Innenwelt auf diese multiple innere Uhr abgebildet (Zeitwahrnehmung) bzw. dass diese multiple innere Uhr zur Herstellung von fast beliebigen zeitlich strukturierten Akten (Zeitverhalten) eingesetzt werden kann. Die Dauer eines gegebenen Ereignisses ist demnach eine Funktion der Kongruenz zwischen der Repräsentation des Ereignisses mit mehreren Teilprozessen der multiplen Uhr:
Nun wäre es genau ohne Sinn, den Durchschnitt alle dieser Prozesse zur Bewertung oder Steuerung einer Super-Uhr zu nehmen. Vielmehr stelle ich mir vor, dass je nach Art und Erstreckung des zu schätzenden oder zu steuerenden Ereignisses eine Gruppe von situations-geeigneten Referenzprozessen beigezogen und dabei diesen oder jenen der verschiedenen Oszillatoren ein unterschiedliches Gewicht zukommt. Denn genau das ist ja der Vorteil der neuronalen Repräsentation gegenüber den ursprünglichen Prozessen selbst, dass sie in fast beliebiger Weise miteinander kombiniert und ausgewogen werden können.
Ich beschränke mich darauf, zwei wichtige Konsequenzen des multiplen Modells der inneren Uhr zu nennen:
(1) Die multiple Uhr ist in hohem Mass stabil gegen Störungen. Das entspricht der tatsächlichen Alltagsleistung unseres Zeitverhaltens, besonders im Schlaf und im kognitiv unbelasteten Wachzustand, während möglicherweise die Standardexperimente zur Zeitwahrnehmung mit ihren so widersprüchlichen Ergebnissen im Sinne einer Partialisierung der multiplen Uhr wirken, so dass durch die Dominanz eines einzelnen und den weitgehenden Wegfall der übrigen Teilprozesse eine analoge Situation entsteht wie beim Grössenkonstanzverlust unter Wegfall der unabhängigen Distanzinformation.(2) Die multiple Uhr ist ökonomisch, da zur Schätzung der Dauer eines gegebenen Ereignisses stets auch Teilprozesse mit Periodenlängen von ähnlicher Grössenordnung eingesetzt werden. Beim einfachen Einheitenzählmodell ist hingegen die für kurze Ereignisse notwendige hohe Präzision bei längeren Ereignissen reine Verschwendung; es muss dann postuliert werden, dass sie in der Verarbeitung irgendwo verlorengeht, da bekanntlich die Unterschiedsempfindlichkeit mit zunehmender Dauer eher abnimmt.
Damit haben wir uns an die Beziehung zwischen den psychischen Zeiterfahrungen und den biotischen Manifestationen von Zeit herangearbeitet. Bevor ich darauf näher eingehe, möchte ich aber eine etwas ausführlichere Zwischenbilanz versuchen:
Zunächst sollten wir uns die Fragestellungen der Psychologen im kritischen Überblick vergegenwärtigen, um die Orientierung nicht zu verlieren.
Ich denke, der Anfang ihrer empirischen Zeiterforschung ist einer Zeiterscheinung in Form von Traditionsvergessenheit erlegen. Nach dem Vorbild der Naturwissenschaftler wollten Psychologen ihren Ruf durch unanfechtbare Methodik, insbesondere durch standardisierte Messtechnik sichern. Dies schien in der Psychophysik (Fechner 1860) besonders leicht durchführbar. Und so wurde der Begriff des Zeitsinns erfunden und eine amodale oder quasi-sensorische Rahmenhypothese formuliert - die subjektive Zeit müsse in irgendeiner Weise ein Abbild der vorgegebenen physischen Realität der Zeit darstellen. Obwohl ein abbildender Sinn nur virtuell existieren konnte, liesse sich vielleicht in einem inneren Organ gewissermassen ein sensus communis für Zeit auffinden. Die Aufgabe der psychophysikalischen Wissenschaft bestand aber jedenfalls darin, diese Beziehung quantifizierend zu bestimmen und die Art und Weise der "Fehler", welche die wahrnehmenden Systeme dabei machen, zu beschreiben und zu erklären.
Das war, wie wir gesehen haben, nur bedingt erfolgreich; und so entstand in Reaktion darauf etwas, was man als die biologistische oder die kognitivistische, beide zusammen als die konstruktivistische Rahmenhypothese bezeichnen kann - subjektive Zeit ist zwar immer noch auf die Zeitlichkeit der Situationen bezogen, aber sie wird weniger durch ein amodales Sinnes- oder Perzeptionssystem abgebildet als aufgrund von verschiedenartigen Indizien auf eigene Weise "rekonstruiert", sei es durch direkte Nutzung biotischer und umweltlicher Prozesse oder mittels der Idee der Ereignisdichte (vgl. oben Abschn. 5.4). Varianten des Einheitenzählmodells, seien es stochastische Modelle oder das multiple Uhr-Modell für sich allein genommen, könnten die "Mechanismen" darstellen, welche die biologische Variante dieser Vorstellung trügen. Auch dieser Ansatz führte aber nicht zu überzeugenden Klärungen all der Befunde, die zur Zeitlichkeit des Zusammenlebens vorliegen.
So werden wir eine dritte und vierte Hypothese ins Auge fassen müssen, welche das Verhältnis von Eigenzeiten (zB nach Vorstellungen der multiplen inneren Uhr) undFremdzeiten (die Ereignisströme der Umwelt) viel intensiver als gemeinsames Relationensystem mit vielerlei, auch zweiseitigen Vermittlungsprozessen begreifen kann. Demnach wären die innere(n) Uhr(en) unter Beeinflussung durch äussere Uhren nicht nur Bedingungen psychischer Funktionen, sondern auch Bedingungen der Herstellung und des Gebrauchs äusserer Uhren. Mit andern Worten, das Prinzip der sich selbst stabilisierenden und dennoch vielerlei relevante Systembedingungen berücksichtigenden multiplen inneren Uhr müsste auf das ökologische Gesamtsystem eines Lebenwesens in seiner Umwelt und überdies auf das System des Zusammenlebens mehrer Lebewesen ausgeweitet werden. Damit wäre eine ökologisch-evolutive Rahmenhypothese gewonnen, welche insbesondere auch in ihren kultur-evolutiven Perspektiven von Zeitlichkeit zu konkretisieren sei.
In meinen psychischen Beispielen und ihren psychologischen Überformungen habe ich ob der an die psychologischen Theorien zu stellenden Fragen die immensen Verdienste physikalischer Zeitpraxis und -messtechnik nicht mit der gebührenden Anerkennung bedacht, um nicht zu umständlich zu werden. Das sei hier generell nachgeholt. Alle die genannten experimentellen Paradigmata und grösstenteils auch die zugrundliegenden Einsichten waren historisch nur möglich, weil sie als Abweichungen von den Erwartungen dargestellt werden konnten, welche eine ideale physikalische Zeitauffassung nahelegt, und weil konstantlaufende und gleichförmig teilende Uhren zur Verfügung standen, welche als Referenz eingesetzt diese Abweichungen messbar machten. Es erweist sich jedoch nach allem als falsch, die physikalischen Uhr als das Vorbild der psychischen und biotischen Uhren zu verstehen. Und man muss auch sehen, wie sehr die Fixierung auf vorgegebene physikalische Zeit den Weg verstellt hat, diese genuinen Uhren der lebenden System ernst zu nehmen.
Stellt man jedoch diese Abhängigkeit psychologischer von physikalischer Zeit, was über das Methodische hinausgeht, in Frage, so sind immer noch zwei Auffassungsmöglichkeiten zu unterscheiden, die ich so scharf wie nur möglich gegeneinander stellen möchte: Die eine, ältere, geläufigere, immer noch weithin geglaubte setzt eine Asymmetrie zugunsten der klassisch-physikalischen Zeit. Diese psychischen Zeiterscheinungen seien halt Unvollkommenheiten, subjektive Störungslagen gewissermassen, noch nicht ausreichend perfekt auskorrigierte Idiosynkrasien, Unverlässlichkeiten ihrer biotischen und psychischen Funktionsbedingungen; mit der Zeit würden die externen Uhren und die Konditionierungsverfahren zunehmend durchdringender wirken und uns immer sicherer im Rahmen der Zeit als solcher - dargestellt durch physikalische Modelle und Techniken - zum allgemeinen Nutzen steuern. Die Lebensbeschleunigungsgefühle der Epochen oder im Alter seien sowieso nur ein Schein. Leistungsschwankungen im Tagesverlauf oder Schlaflosigkeit zur Unzeit sei schliesslich eine Sache der Biochemie und pharmazeutisch oder gentechnisch korrigierbar. Und Kurzweil und Langeweile könne man ja als rein subjektiv tolerieren, so lange sie funktional nicht störten.
Die zweite Auffassung setzt umgekehrt den Primat auf die genuin biotischen Abläufe und ihre psychischen Erscheinungsweisen. Sie akzeptiert, dass einige physische Parameter wie insbesondere die Erdrotations- und die Sonnenumlaufkonstanten - zu einem geringeren Grad auch Mondumlaufparameter - für alles Leben und besonders für das Zusammenleben wichtige Rahmenbedingungen darstellten, auf welche biotische Funktionen bezugnehmen müssten und das im Lauf der Bioevolution auch in einem höchst diversifizierten Strauss von Möglichkeiten tatsächlich erworben haben. Ich möchte nun mit dieser Sicht keineswegs unsere biotischen Rahmenbedingungen gegen die physischen ausspielen; nichts könnte verkehrter sein. Denn das Biotische ist schliesslich eine besondere Organisationsform von Physischem auf der Oberfläche dieses Planeten; wie das sog. Psychische wiederum eine besondere Organisationsform von Biotischem und Physischem zusammen darstellt, insbesondere im Zusammenleben von Menschen unter Formen des Kulturellen. Aber diskutieren muss man die beiden Auffassungen und ihr Verhältnis zueinander dennoch.
Denn die erste Auffassung, die man als eine hierarchische bezeichnen kann, stellt eine Reihe von Fragen, die sich in der zweiten, relationalen Auffassung als Scheinfragen herausstellen oder lösen lassen. Dazu gehören in der Literatur häufig diskutierte Fragen wie:
* nach der Struktur von Zeit:
ob sie genuin kontinuierlich, also unendlich teilbar, oder ob sie atomistisch aufzufassen sei, in dem Sinne, dass es wie immer kleine elementare Einheiten oder nicht-reduzierbare Zeitquanten gebe;ob solche allfälligen Zeitquanten isotrop, also alle gleichwertig, oder ob sie je nach ihrer Konstitution unterschiedlich wertig sein könnten;
* nach dem Fluss der Zeit:
ob sie einförmig fliesse, also stets gleich schnell, oder ob sie ihren Fluss den Umständen entsprechend wechsle;ob der Fluss der Zeit gerichtet sei, also stets in der gleichen Richtung vom Vergangenen ins Künftige gehe, oder ob sie reversibel fliesse;
und ob Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gleichartig oder verschieden aufzufassen seien;
* nach der Wirklichkeit von Zeit:
ob es sich um eine Entität handle, die real anzutreffen sei, oder um eine Abstraktion, die wir auf eine Eigenschaft von Prozessen im allgemeinen treffen;ob Zeit absolut existiere, dh unabhängig von Dingen, Ereignissen, Geschehen oder Beobachtern, oder ob sie erst aus dem Verhältnis von solchen sich konstituiere;
* nach der Generalisierbarkeit von Zeit;
ob Uhren in einer Hierarchie existierten, also alle letztlich auf eine Zentraluhr reduzierbar seien, oder ob alle Uhren der Welt je für sich liefen und aber in vielfältiger wechselweiser, doch unterschiedlich durchdringender Weise relativ untereinander koordinierbar und koordiniert seien.
* nach der Gültigkeit von Zeitbegriffen und -messverfahren:
ob Zeitbegriffe auf ein reales Allgemeines referenzieren, dh ob Zeit, wo immer sie und unter welchen Erscheinungsweisen immer sie auftrete, ein und dasselbe meine, oder ob Zeitbegriffe, die über die Tatsache des gerichteten Flusses hinausgingen, bloss Nominalien seien, von den Beobachtern und Begreifern zusammenfassend auf Erscheinungen gelegt;
Diese und weitere Fragen bekommen im Licht eines relativen Primats von Zeiterfahrungen biotischen, psychischen und kulturellen Charakters für das Verständnis zeitlicher Erscheinungen in der Lebenswelt einen anderen Stellenwert, müssen vielleicht auch neu formuliert werden. Das kann nicht meine heutige Aufgabe sein; aber einigen ausgewählten Aspekten daraus seien noch ein paar Gedanken gewidmet.
Wenn wir eine relationale Auffassung favorisieren und damit den Tatsachen darüber, wie Lebewesen zeitlich existieren, einen Eigencharakter zuweisen, dann werden wir uns auch gründlicher mit den organismischen, ökologischen und kulturellen Bedingungen der beschriebenen psychischen Erscheinungsformen von Zeitlichkeit befassen müssen. Denn es kann kaum ein Zweifel bestehen, dass Psychisches auf Organismischem aufruht, eine besondere Organisationsform oder Emergenz davon darstellt, egal, ob wir meinen wollen, es erschöpfe sich darin oder reiche darüber hinaus, auf welche Weise immer.
Ich habe schon im Zusammenhang mit der multiplen inneren Uhr die Vorstellung skizziert, psychische Zeit könne als Inbegriff einer Menge von untereinander mehr oder weniger gekoppelten biotischen und umweltlichen Oszillatoren und Integratoren verstanden werden (vgl. oben 5.10). Versuchen wir uns nun ein etwas konkreteres Bild von solchen Möglichkeiten zu machen. Eine Vorfrage dürfte sein, ob und in welcher Weise und mit welchen Wirkungen solche biotischen Uhren Eigenzeiten generieren und wie sie zentral zu Wirkungen kommen können; schwieriger wird sich die Frage nach deren Verarbeitung und Nutzung erweisen. Sie bedarf sicher noch sehr viel detaillierter Forschung im Gefolge einer solchen Leitidee.
Ich werde hier über biotische Uhren aus Zeitgründen nur wenig und nur Elementares sagen könnnen. Die Chronobiologie ist seit ihrem Aufkommen in den 60er Jahren mit einer riesigen Menge von Befunden niedergekommen, die ich als Nicht-Fachmann nicht im Detail überblicken und beurteilen kann. Es reicht aber aus, hier die Grundgedanken anhand einer überschaubaren Liste von gezeiteten Prozessen in Organismen zu illustrieren, deren Periodik oder Quasiperiodik zumindest nicht ausschliesslich von Prozessen der Umwelt bestimmt sind sondern einen mehr oder weniger eindeutigen Eigencharakter aufweisen.
Es wären heute mehr als damals eine grosse Zahl von differenzierter bestimmten Oszillatoren im Humoralsystem beizufügen, dh quasiperiodisch wechselnde Konzentrationen und räumliche Verteilungen von endo-hormonalen Stoffen im vegetativen System (im Blut, im Magen-Darm-System, etc.) und insbesondere im autonomen und im zentralen Nervensystem (Neuro-Transmitter etc.). Für manche von diesen biotischen Uhren bestehen auch schon Belege für ihre Konstitution aus bestimmten Genorten. In jüngster Zeit haben sie eine rasch wachsende auch praktische Bedeutung gewonnen, insofern etwa die Einnahme der verschiedensten Pharmazeutika zu unterschiedlichen Tageszeiten zum Teil erstaunlich unterschiedliche Wirksamkeiten entfalten kann. Viele dieser Prozesse folgen freilich dem Tag-Nacht-Zyklus und haben somit eine nicht allein endogene Basis.
Abb. 3 - Liste einer Auswahl von "endogenen Rhythmen" (ohne vollständige Synchronisation mit Umweltvorgängen; nach Sollberger 1965, Kap. 6)
Frequen (Hz) Periodenlänge Bezeichnung
- 20 - 20'000 Tonhöhe
- 0 - 2000 Neuronalimpulse
- 20 - 60 EEG Gamma
- 14 - 18 EEG Beta
- 8 - 13 EEG Alpha
- 4 - 7 EEG Theta
- .5 - 3 EEG Delta
- 8 - 30 Mikrotremor
- .3 - 8 Gestreifte Muskulatur
- 1 - 7 Tapping, Kauen, Gehen
- .5 - 6 Herzschlag-Komplex
- 4.5 - 110 sec Colon-Kontraktionen
- 10 - 60 sec Glatte Muskulatur
- 12 - 120 sec Magenkontraktionen
- 10 - 200 sec Protoplasma-Pulsationen
- ~300 sec Evakuation Colon
- ~5 - 21 - 60 min div. Ventrikel
- ~ 60 min Aktivität bei Neugeborenen
- ~ 60 - 80 min REM Zyklen im Schlaf
- 4 - 12 std gastrische und renale Funktionen
- 4 - 7- tge männl. Sexialzyklen
- 20 - 30 tge weibl. Sexialzyklen
- tge bis mte endogene Stimmungsschwankungen
- 9 mte Schwangerschaft
Wenn ich eine solche Vorstellung von biotischen Zeitprozessen vermittle, dann muss ich gleich hinzufügen, dass die besterforschten und möglicherweise überaus dominierenden Zyklizitäten in Organismen die sog. circadianen sind, dh Prozesse mit einer Periodenlänge von ungefähr einem Tag. Dazu kommen Prozesse in Zusammenhang mit dem Jahreszyklus, bei gewissen Arten, vor allem im Meeruferbereich lebenden, auch die mondbezogenen Zyklen der Gezeiten und, in geringerer Bedeutung, die Mond-Lichtphasen.
Hier sind offensichtlich externe Zeitgeber oder Synchronisatoren am Werk. Schon sehr einfache Versuche unter künstlichen Bedingungen zeigen aber, dass die von Aristoteles her überlieferte Auffassung einer passiven Reaktion auf Lichtstimulation oder Dunkelheit, Wärme oder Kälte etc. nur bedingt richtig bzw. in vielen Fällen schlicht falsch ist. Schon im Jahr 1729 hat der franz. Astronom J.-J. d'Ortous de Mairan heliotrope Pflanzen in dunklen Kästen gehalten und gezeigt, dass ihr circadianes Blätteröffnen und -schliessen auch ohne Licht weiter funktioniert. MaW, die Uhr ist eine intraorganismische, auch wenn ihre Ganggeschwindigkeit und ihre Phase oder Lage zu anderen Uhren von der externen Uhr der Erdrotation eingestellt worden sind und im Normalbetrieb laufend "gerichtet" werden.
Heute haben wir ausführliche und sehr differenzierte Belege dafür, dass in solchen Zyklizitäten gattungs- und artspezifische Koppelungen zu den Zeitgebern bestehen, dass aber die Organismen diese Zyklizitäten in ihrer Periodik sich zu eigen gemacht haben, gewissermassen sich eigene Uhren leisten, die sie über kürzere oder längere Zeit von den Umgebungsbedingungen relativ unabhängig und in ihnen tüchtiger machen. Es ist eine Aneignung von Information aus der Umwelt, genauer eine Eigenkonstruktion eines internen Modells gewisser Züge der Umwelt. Fast wie mit der Speicherung von Stoffen und Energien halten die Lebewesen "Wissen" "vorrätig" über die Zyklizität ihrer Umwelt und nutzen es zur "Vorausplanung" ihres Verhaltens und zur zeitgerechten Einstellung von umwelt-spezifischen Sensibilisierungen und Reaktionsbereitschaften.
Den Anpassungswert solcher biotischen Uhren kann man sich vielleicht am besten vergegenwärtigen am Beispiel einer Muschel im Gezeitenbereich, welcher von Ebbe oder Flut Nahrung zugeführt wird. Die Nutzung dieser Nahrungsquelle ist effizienter, wenn die Muschel nicht erst auf die Flut reagiert, sondern sich gewissermassen darauf vorbereitet und ihre Einsammel- und Verdauungssysteme dann bereits im optimalen Zustand halten kann, wenn das "Menu aufgefahren" wird. Wir kennen ja das Phänomen von unseren eigenen Zuständen vor unseren üblichen Essenszeiten her, die nicht allein vom Niveau der benötigten Stoffe im Blut, sondern eben auch von Gewohnheiten bestimmt sind. Ähnliches gilt für die Vorbereitung von Mensch, Tier und Pflanzen auf den Frühling oder den Winter, von den Pflanzensäften, die noch im warmen Herbst zurückgehen und im noch kalten Spätwinter schon wieder ansteigen, über den Fellwechsel mancher Warmblüter bis zu den Migrationen der Zugvögel. Solche angeborenen Zeitinstinkte und erworbenen Zeitgewohnheiten bzw. aufgrund von situativen Momenten überformten Zeitinstinkte sind im gesamten Biobereich überaus wirksam und lebenswichtig.
Mir haben immer die Blüh- und Fruchtungszyklen bei Pflanzen besonders imponiert (vgl. Bünnung 1977). Sie machen deutlich, dass von einem Reiz und einer Reaktion dabei nicht die Rede sein kann. Stellen Sie sich die Stangenbohnenpflanze vor, die nach ihrem raschen Wachstum im Juni/Juli bei ausreichender Wärme an recht gut vorhersagbaren Tagen mit der Bildung von Blütenknospen und den nachfolgenden Sequenzen von Befruchtung und Fruchtbildung und -ablösung beginnt. Nun ist das Wetter in vielen Breitengraden um diese Jahreszeit keine Konstante. Die Pflanze wäre schlecht beraten, die Tage seit dem Keimen oder der Bildung der ersten Blätter oder weiss ich was zu "zählen". Sie macht vielmehr eine raffinierte Integrationsrechnung auf relevantenParametern, welche im Regelfall zeitrichtig zu den benötigten Wärmeperioden für die Blüte gelangt und die dann die Wahrscheinlichkeit des Wirkens von aktiven Befruchtungsinsekten maximiert. Es gibt Pflanzen, die integrieren die Lichtmenge, andere messen die Änderung der Tagesdauer, weitere machen eine Wärmerechnung, vierte kombinieren solche Umweltereignisse zu Zeitgebern. Die uns immer so faszinierende Oszillatorik der Zeiterscheinungen (Erdrotation, Jahreszyklus) ist hier erst in zweiter Ordnung wirksam, insofern ihre biotisch bedeutsamen Manifestationen über Tage und Jahre immer wieder nur ähnlich, nicht gleich ablaufen und damit sinnvollerweise nicht direkt, sondern gewissermassen im antizipierten und wirklichkeitskorrigierten Durchschnitt verwertet werden.
Wir haben uns daran gewöhnt, Zeit mit Uhren in Verbindung zu bringen, welche konstant laufen und Zyklizitäten zeigen, dh den Zeitfluss in wiederholte gleichartige Segmente gliedern. Natürlich sind solche Uhren für Vergleichszwecke praktisch. Aber diese Gewohnheit sollte uns nicht davon abhalten, die Zeitlichkeit von einmaligen Vorgängen für ebenso bedeutsam zu halten. Ob wir einen Vorgang als zyklisch oder (quasi-)linear verstehen, hängt einerseits vom Auflösungsvermögen der Uhren ab, an denen wir ihn messen und anderseits von den Kriterien, nach denen wir beurteilen, ob etwas eine Wiederholung eines andern ist.
Ein Lebenslauf eines Menschen (oder eines lernenden Tiers) von der Konzeption bis zum Tod zeigt einen quasi-linearen Verlauf in einer fliessenden Folge von Übergängen von der Kindheit bis zum Greisenalter, die einander nicht gleichen wie ein Jahr dem andern; und doch ist er gemäss der in Abschnitt 2.4 dargestellten Auffassung eine reale Zeitkonstruktion eigener Art. Dass solche Abläufe ihrerseits die Konstituenten von quasi-zyklischen Prozessen sein können, wird an den Generationenfolgen evident. Ähnlich lassen sich im physiko-chemischen wie im psychischen und sozialen und kulturellen Bereich vielerlei konkrete (quasi-)lineare Abläufe aufweisen, welche in dem Sinne zeitlich sind, als sie nicht nur ein Nacheinander von Ereignissen, sondern auch ein charakterisierbares Ablaufstempo zeigen, wie immer variabel uns dieses erscheinen mag.
Möglicherweise überspanne ich mit solchen Hinweisen meinen allgemeinen Begriff der Uhr. Es scheint mir aber wichtig, Uhren unter dem Aspekt der Unterscheidung des Allgemeinen und des Singulären zu betrachten. Zyklische Uhren, inbesondere diejenigen, die sich am Ideal der mechanischen oder ihrer verbesserten Versionen ausrichten, scheinen ihren Sinn aus der Tatsache zu beziehen, dass es sich um reale Allgemeine handelt. Sie sind der Ausfluss einer Gesetzlichkeit wie des Pendels oder einer andereren Form von Schwingung. Man darf aber nicht vergessen, dass auch solche Uhren immer nur in konkreten, und das heisst singulären Versionen Zeit tatsächlich konstruieren, seien es natürliche Zyklizitäten wie die Erdrotation oder technische Implementationen wie die konkreten Uhren aller Art. Die konkreten Uhren weisen gegenüber den idealisierten Uhren Unschärfen oder Fehler auf. Mithin sind sie Allgemeine nicht in dem absoluten Sinn der Logik oder Mathematik, sondern eben singuläre Ereignisfolgen und damit den linearen Uhren näher als dem idealisierten Begriff der homogenen oder isotropen Zeit.
Die Lebenswelt ist nicht nur das Ergebnis eines linear zeitlichen Vorgangs in der Evolution, sondern stellt selber ein ungeheures Inventar von höchst verschiedenartigen Uhren zyklischer und linearer Natur dar. Überdies ist zum Vollzug von Leben bei fast allen nicht extrem einfachen Arten jederzeit eine beinahe intim zu nennende Verbindung jedes Organismus mit den Zeitlichkeiten seiner Umwelt, vor allem mit ihrem ungefähr wiederkehrenden Wandel, geradezu unentbehrlich. Dies erscheint durchaus nicht nur in der einfachen Version einer circadianen oder circannualen Periodik. Vielmehr hat eigentlich alles, was Pflanzen und Tiere tun, seine mit den förderlichen oder hinderlichen Umgebungszeiten wohlverzahnten eigenen Zeiten. Lebewesen nehmen die Zeit wirklich ernst. Ja sie stellen selber Uhren in dem hier verwendeten allgemeinen Sinn dar.
Und Zeit ernstnehmen heisst auf wahrscheinliche Zukunft vorbereitet sein: Regelungsprozesse nach dem feedback Rückkoppelungs-Prinzip sind gut, aber nicht ausreichend. Viel effizienter ist feedforward oder Vorauskoppelung in Antizipation der wahrscheinlich eintreffenden oder anzutreffenden Verhältnisse, so weit sie relevant sind. Auch Lebewesen, ob sie Zeitlichkeit erleben können oder nicht, sind mithin von der Differenzierung der Zeit in Vergangenheit und Zukunft betroffen, insofern sich alle sie betreffenden zeitlichen Vorgänge bis zur jeweiligen Gegenwart in eine lineare Uhr verdichten und ihr von da aus künftiges Schicksal unter der Ägide von zwei Gruppen von Uhren bestimmt ist: der ihnen einprogrammierten eher linearen Uhr ihrer Lebenserwartung und eines Satzes von eher zyklischen Uhren, die in ihrer Phylogenese gebildet worden sind und die wichtigen zyklischen Momente ihrer Umgebung antizipieren.
Nun können die beiden verbleibenden Bereiche des Zeitlichen aus Zeit- und Umfangsgründen hier nur noch eine sehr kursorische Erwähnung finden, sollen aber aus anderer Gelegenheit eine gründlichere Behandlung erfahren.
Die Menschen haben mit der Erfindung ihrer Uhren - von den astronomischen über die Wasser- und Sanduhren zu den mechanischen und elektronischen - einen zunächst einfach wie eine Ausweitung und Verbesserung dieses biotischen Vorhersageprinzips anmutenden Prozess eingeleitet. Natürlich erwies sich dies als eine weit über die praktischen Zwecke hinaus fruchtbare Linie technisch getragener kultureller Evolution. Insbesondere hat die Idee, verschiedene singuläre Uhren so zu bauen, dass sie annährend gleiche Ganggeschwindigkeiten aufweisen und somit auch in Phasenanpassung zueinander und zu den offensichtlichsten Natur-Uhren gebracht werden können, die Idee gefördert, Zeit sei als solche etwas real Allgemeines. Die enorme Nützlichkeit der Einführung von idealisierten Zeitparametern in fast alle Versuche, physische Vorgänge begrifflich zu fassen (Differentialgleichung als Paradigma) und methodisch zu bewältigen (Zeitmessung, CGS-System) schienen diese Auffassung zu bestätigen, obwohl sie der Konvention bedarf. Die zu dieser Vorstellung von Zeit als abstraktes Kontinuum nur logisch komplementären Vorstellungen der Ewigkeit und des Ausserzeitlichen mögen das ihre zur Verabsolutierung der physikalischen Zeitauffassung und zu ihrer dominierenden Rolle in der Auffassung nicht-physischer Zeiterscheinungen beigetragen haben, nicht zu reden von den ausserwissenschaftlichen Momenten, welche in vielen Wissenschaften eine gewisse Nachahmung der klassischen Physik nahegelegt haben.
Aber diese Auffassungen haben etwas Seltsames bewirkt, was wohl niemand vorausgesehen hat: die Wissenschaftler und Techniker haben nämlich die Perfektion ihrer konstruierten Uhren für wichtiger genommen als deren Funktion im Lebenszusammenhang.
Für mich ist es eine sehr erhellende Einsicht gewesen, eines Tages beim Nachdenken über das Verhältnis der verschiedenen Uhren zueinander zu kapieren, dass von allen bekannten physischen Uhren - so ist jedenfalls mein Informationsstand - jede völlig für sich läuft. Ihre Koppelung ist nur über den menschlichen Geist zu vollziehen, der die abstrakte Zeitdimension erfunden und so eine gegen jede andere zugängliche Uhr messen oder gegebenenfalls richten kann. Aber der das Verhältnis zwischen zweien bestimmende Quotient besagt in keiner Weise irgendetwas aus über den sachlichen Zusammenhang zwischen den beiden Uhren. Anders gesagt: eine Superuhr aller andern ist so wenig auszumachen wie eine allseitige Koppelung.
Betrachten wir beispielhaft einige physische Uhren. Die Erdrotation hat mit der Erdumlaufbahn nichts direkt zu tun, beide sind historisch und zufällig entstanden, auch wenn beide je für sich durch die Erdmasse und andere Relationen im gemeinsamen Gravitationsfeld gewissen Einschränkungen unterliegen. Sie beeinflussen einander nicht. Jedenfalls ist die im Quotienten der beiden Grössen enthaltene Information nicht zeitlichen Charakters. Jede der beiden Uhren unterliegt überdies ihren völlig eigenen Frequenzfluktuationen, was seinerseits nicht zulässt, dass ein einzelnes übergeordnetes Prinzip das zeitliche Verhalten der beiden Zyklizitäten direkt bestimmt.
Ähnliches gilt für die Eigenzeiten jeder Atom-, Molekular- oder Kristalluhr, die man konstruieren kann. Deren Zeitkonstanten haben alle untereinander nichts gemeinsam, ausser dass gleiche Atome unter gleichen Umständen gleiche Frequenzen zeigen. Aber kein Atom beeinflusst in diesem Fall ein anderes Atom. Da nur im Denken allgemein, ist Zeit überhaupt nominal.
Im Unterschied dazu besteht im biotischen, psychischen und kulturellen Bereich ein dichtes Gewebe von Einflüssen zwischen den dort vorfindbaren oder herstellbaren Uhren. Nicht unbedingt zwischen allen und jeder. Aber manche dieser Uhren nehmen beispielsweise bezug auf die Erdrotation und weisen somit eine partielle Verwandtschaft in ihrer Zeitlichkeit auf. In den organismischen, psychischen und sozialen Systemen geht diese Zeitverwandtschaft insofern weiter, als jede dieser Uhren von anderen partiell oder (etwa im Fall von Bahnhofs- oder Funkuhren) vollständig bestimmt ist und Chancen hat, ihrerseits andere partiell mitzubestimmen. In biotischen und psychischen Systemen ist diese Koordination freilich eine ausgesprochen relative, welche die Eigenzeitlichkeit der beteiligten Subprozesse verdecken mag, aber nicht aufhebt.
Das Erstaunliche scheint mir nun gerade, wie diese mancherlei Uhren einander nicht nur stabilisieren, sondern auch treiben können und voneinander getrieben werden, wenn sie in der menschlichen Kultur sekundären Verbindungen unterworfen werden. Wunderbar und schrecklich zugleich; denn Uhren, in Situationen gebracht, in denen sie nicht genuin sind, können leicht unbarmherzig werden. Nicht die physischen Uhren selbst, sondern diese exakten und unermüdlichen sozialen Koordinationsmaschinen in Stundenplänen, Tages-, Wochen- und Jahresschemata, die sich physischer Uhren bedienen, sind zur Grundlage zeitbezogener gesellschaftlicher Organisation geworden.
In diesem Licht gesehen, ist die uns vertraute physische Zeit je länger je weniger eine bloss physische Erscheinung, ungeachtet ihrer Koppelung an die Erdrotation; sondern es sind vor allem soziale Uhren: Treiber und Getriebene von kollektivem Geschehen. Das wird das Thema der vierten Perspektive sein.
Vorher aber sollte ich einem möglicherweise von meiner verkürzenden Darstellung provozierten Missverständnis vorbeugen.
Wie schon gesagt, geht es mir keinesfalls darum, psychische, biotische oder kulturale Zeit gegen physisch-physikalische Zeit in irgendeiner Weise auszuspielen. Viel eher ist es mein Anliegen, den verschiedenen Darstellungsweisen von Zeit, den vorfindbaren wie den hergestellten, je ihr eigenes "Recht" einzuräumen. Denn die Frage nach einem Primat kann mE nicht allgemein, sondern nur in je speziellen Kontexten gestellt werden. Einen Primat der Physik zu erwägen heisst, ein geschlossenes oder beliebiges Bild der Welt zu fordern, eine Welt, die sich entweder letztlich im Kreise dreht und möglicherweise dabei gelegentlich durch sog. Zufälle "gestört" wird. Dementgegen setzt ein evolutives Weltbild auf Ordnungen, die den vergangenen Ordnungen entspringen. Biotische und kulturale Uhren können zwar nicht ohne physische Prozesse auskommen, sie sind aber ebensowenig einer absoluten Uhr unterworfen wie die physischen, sondern auf eben jene eingestellt, die zur Zeit ihrer Genese und seither in ihrer Umgebung von Belang gewesen sind. Auch die Beziehung zwischen inneren und äusseren Uhren von lebenden und kulturellen Systemen ist arbiträr oder kontingent, wenn sie nicht gemeinsam evoluiert haben.
Wenn ich feststelle, dass physikalische Zeit keine durchgehende Basis hat, sondern eine menschliche Konstruktion darstellt, welche sich auf Abermillionen separate, einander nicht beeinflussende und auch nicht von einer Zentraluhr (gewissermassen einem "Ticken der Welt selbst") gesteuerte Manifestationen beziehen lässt, so meine ich natürlich nicht, physische Zeit entbehre generell eines realen Charakters. Denn ich setze ja zugleich den Zeitfluss als eine allgemeine Charakteristik der Herausbildung und des Vergehens aller Dinge und halte deren Werden für die grundlegendere Eigenschaft als ihr Sein in irgendeiner festgelegten Weise. Ich meine bloss, dass es nicht möglich ist, den Charakter der physikalischen Zeit in irgendeiner, die Einzelsysteme überragenden und allgemein gültigen Weise real zu spezifizieren. Denn damit würde nicht nur das Werden auch des Zeitflusses selbst negiert und damit die Offenheit der Evolution, der kosmischen, der biotischen wie der kulturellen, geleugnet; es müsste dann auch eine physische Uhr geben, welche allen anderen logisch und real vorausgeht.
Das ist nach menschlichem Ermessen nicht der Fall. Mithin ist es sinnvoller, Zeit als eine menschliche Kontruktion oder ein nominal Allgemeines zu charakterisieren, also als etwas, das nicht als solches vom menschlichen Begreifen unabhängig existiert, auch wenn es auf vom menschlichen Begreifen unabhängig Wirkendes in mancherlei Hinsicht bezogen werden kann. Zeit bezieht sich auf alle Uhren zusammen; aber keine einzelne Uhr verkörpert die Zeit, sondern stellt nur je ihre Zeit dar.
Schon Antiphon (ein Zeitgenosse des Sokrates aus dem Kreis der Sophisten, ca. 480-411 v.Chr.) scheint zur Überzeugung gelangt zu sein, Zeit besitze keine stoffliche Existenz, sondern sei einfach eine geistige Vorstellung und in der Folge ein Hilfmittel zur Durchführung von Messungen (nach Whithrow 1988=1991:85). Er hat also erstaunlich klar zwischen den vorfindbaren Uhren und und ihrer Modellierung in einem abstrakten Zeitbegriff und dessen Annäherung in gemachten Uhren unterschieden. Hätte man vielleicht bei etwas freierem transdisziplinären Nachdenken einige Umwege der einseitig entwickelten modernen Naturwissenschaft vermeiden können?
Ich möchte noch eine zweite problematische Seite des ausschliesslich physikalisch inspirierten Zeitverständnisses kurz aufgreifen und zur Diskussion stellen. Es geht um die Gliederung der Zeit in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft oder das, was McTaggart (1908) als A-Reihe bezeichnet hat und deren Unvermeidbarkeit ihn in sein Zeit-Paradox geführt hat. Diese Gliederung wird auch heute noch von vielen Naturwissenschaftlern als etwas betrachtet, was bloss vom erlebenden Menschen in die physischen und vielleicht sogar von manchen in die biotischen Zeitenläufe der Welt hineingetragen wird (vgl. u.a. Hawkins 1987; Bébié in diesem Band). Meine These, die ich hier nicht ausführlicher darlegen kann, lautet, dass diese Zeiteigendifferenzierung in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ohne weiteres auch jedem physischen System eigen ist, wenn wir nur aufhören würden, reale physische Systeme als ahistorische zu fassen oder diese mit jenen zu verwechseln.
Am leichtesten kann ich dies anhand einer Gegenüberstellung der nomothetischen und der historischen physiko-chemischen Wissenschaftsfelder einsichtig machen. Die Differentialgleichungen der klassischen Physik und mit gewissen Einschränkungen auch die Reaktionsgleichungen der Chemie sind zeitsymmetrisch gedacht, also ohne Bezug auf den sog. Zeitpfeil, welchen die Kosmologie und die Mikrophysik nicht vermeiden kann. Wenn ich frage, inwiefern diese Gleichungen eigentlich von realen Systemen handeln und nicht von Abstraktionen, stelle ich natürlich nicht in Frage, dass dies den Physikern nicht bekannt sei; wohl aber gebe ich zu bedenken, wie wenig sie im allgemeinen dazu beitragen, aus dieser Einsicht auch die Konsequenzen für Reflexionen über den Status ihres Wissenschaftsfeldes ziehen. Wie man sich leicht am Beispiel von Wissenschaften wie der Geophysik, der Geologie, der Kosmologie u.v.a.m. vergegenwärtigen kann, sind alle realen physischen Systeme eben auch historische Systeme, also singuläre Abläufe, wie es alle realen biotischen und psychischen Systeme sind. MaW die nomethetischen Gesetze jener abstrahierenden Grundwissenschaften sind bei der Durchführung dieser Realwissenschaften vom grössten Nutzen, vorausgesetzt, man nimmt sie in dem ihnen zukommenden Stellenwert. Natürlich werden sie in den realen System in keiner Weise verletzt; sie reichen nur nicht aus, deren Geschichte nachvollziehbar zu machen.
"Eigentlich hat jedes veränderliche Ding das Mass seiner Zeit in sich; dies besteht, wenn auch kein anderes da wäre; keine zwei Dinge der Welt haben dasselbe Mass der Zeit. Mein Pulsschlag, der Schritt oder Flug meiner Gedanken ist kein Zeitmass für andere; der Lauf eines Stromes, das Wachstum eines Baumes ist kein Zeitmesser für alle Ströme, Bäume und Pflanzen. Des Elephanten und der Ephemere [Eintagsfliege] Lebenszeiten sind einander sehr ungleich, und wie verschieden ist das Zeitenmass in allen Planeten! Es gibt also (man kann es eigentlich und kühn sagen) im Universum zu einer Zeit unzählbar viele Zeiten; die Zeit die wir uns als das Mass aller denken, ist bloss ein Verhältnismass unserer Gedanken, wie es bei der Gesamtheit aller Orte einzelner Wesen des Universum jener endlose Raum war. Wie dieser, so wird auch seine Genossin, die ungeheure Zeit, das Mass und der Umfang aller Zeiten, ein Wahnbild. Wie er, der bloss die Grenze des Orts war, zum endlosen Kontinuum gedichtet werden konnte, so musste Zeit an sich nichts als ein Mass der Dauer, so fern diese durch eigne oder fremde Veränderungen bestimmbar ist, durch ein immer und immer fortgesetztes Zählen zu einer zahllosen Zahl, zu einem niegefüllten Ozean hinabgleitender Tropfen, Wellen und Ströme werden." (Herder 1799 = 1830:84f.= SWS20:xxx=DKV8:360f.))
Oben habe ich ausgeführt, die Menschen hätten mit der Erfindung ihrer Uhren eine Ausweitung und Verbesserung der Vorhersagemöglichkeiten des Verhaltens ihrer Umwelt durch ihre biotischen Uhren erzielt. Das Pikante dieser kulturellen Entwicklung besteht nun freilich darin, dass es sich weit weniger um eine Anpassung an die Eigenschaften der natürlichen Umwelt handelt als um eine Veränderung eben derselben. Zur Voraussage über Umweltereignisse kommt immer mehr die Steuerung von solchen, insbesondere in der sozialen Lebenswelt.
Nun sind solche Aspekte der menschlichen Zeitlichkeit in dieser Vorlesungsreihe ausführlich behandelt worden; was ich dazu sagen kann, müsste auf eine Wiederholung von vielem davon hinauslaufen. Dessen ungeachtet bin ich mir der Wünschbarkeit der Explikation von Bezügen zwischen solchen Beobachtungen und Einbettungen unserer Lebenswelt zu der hier vorgetragenen Auffassung von Zeitlichkeit als evolutive Emergenz bewusst.
Als Grundtatsache der Zeit bietet sich der irreversible evolutive Fluss der Welt an. Eine unendlich vielfältig mögliche Zukunft wird durch die im Fluss gebildeten Strukturen und Affinitäten zwischen ihnen auf wahrscheinliche nähere Schritte (Zustandswandel) begrenzt und aus einem einzigen von ihnen wird in jeder Gegenwart die eine Linie der Vergangenheit.
Wie können Lebewesen angesichts dieser Ungewissheit bestehen? Diese Aufgabe können sie auf unterschiedliche Weise angehen. Eigentlich ist es mehr als Anpassung; es ist auch und eher eine Art impliziter Vorausentwurf, eine Art "Wissen" um die wahrscheinlichen Bedingungen in künftigen Gegenwarten, fast eine Spezialisierung auf zu erwartende Zukünfte.
Bauen sie eher auf die relative Verlässlichkeit einer wahrscheinlichen Zukunft, die aus der vergangenen Serie hervorgehen soll und vielleicht erschlossen werden kann, und reichen die langfristigen Konstanten aus, denen sie sich soweit anpassen, dass sie bestehen können? Oder brauchen sie auch kürzerfristige Erfahrungsverwertung? Oder bauen sie gar darauf, die Welt nicht nur vorherzusagen, sondern ihren Lauf ihren vermeintlichen Bedürfnissen entsprechend anzupassen? Insofern sie in ihren Gegenwarten wirken können, bestimmen sie ja die wirkliche Vergangenheit mit. Wir haben es hier mit den drei Ebenen der Evolution zu tun: der Phylogenese, der Individualgenese und dem kulturellen Wandel.
1. Pflanzen und Tiere haben mit den Tropismen und Instinkten überwiegend auf die verlässlichen Aspekte jener Zukünfte gesetzt, welche aus der Vergangenheit sicher extrapoliert werden können. Sie bauen organische Gedächtnis- und Steuerungsstrukturen auf, welche für (fast) alle wichtigen Lebenssituationen erfolgreiche Verhaltensweisen bereithalten. Ihre Vorfahren haben ja damit überlebt und sie als Nachwuchs hervorgebracht. Solange die Welt nicht allzu heftig ändert, ist das eine ebenso effektive wie äusserst elegante Strategie.
2. Aber sie hat Grenzen dort, wo Weltaspekte, um die sich zu kümmern man nicht herumkommt, allzu variabel werden. Komplexeren und eher lang lebenden Tieren reicht das nicht, sie ergänzen dies mit zunehmend differenzierterer Herausbildung von Individualgedächtnis: Verwertung der eigenen Erfahrungen, nicht mehr bloss simpler Verlass auf diejenigen der Vorfahren. Das ist insbesondere für das Sozialleben von Vorteil, aber auch für Ernährung und Fortpflanzung bedeutsam. Es führt jedoch auch Unsicherheit ein.
3. Lassen sich nicht auch kollektive Erfahrungsschätze bilden, welche die Vorbereitetheit aufs Seltene, Unvorhersehbare verbessern. Unvorhersehbares ist ja nicht total neu, sondern enthält immer auch viel Momente von Bekanntem. Die Kunst, Allgemeinbegriffe zu bilden, ist ja schon im Instinktkonzept erfunden worden. Das Individualgedächtnis könnte jedoch gewaltig bereichert werden, wenn es manifeste Erfolgsstrategien auch aus der Erfahrung von andern übernimmt. Dies geschieht in der Herausbildung von animalen und humanen Traditionen oder Kulturen.
4. Eine noch raffiniertere Strategie setzt nicht mehr nur auf die Vorhersagbarkeit der Welt, sondern auf ihre Manipulation in einem Sinne, welche die Unvorhersagbarkeit ihres Laufs vermindert. Weltveränderung, kollektiv unternommene Weltgestaltung, zeichnet insbesondere die humanen Kulturen aus. Auch das ist eine Form von Gedächtnis; freilich nicht so sehr eine Fixierung von Erfahrungen, sondern eine Vorausmanipulation möglicher Erfahrungen. Die Konstruktion und der Einsatz von Uhren für die Steuerung des sozialen Geschehens und die Entwicklung entsprechender Zeit- und Entwicklungsbegriffe sind eine der Schlüsseltechniken in diesem Prozess.
Manche Wissenschaftler jedoch scheinen auf dem Instinktniveau sich wohler zu fühlen. Sie möchten sicher erkennen, um aus diesen "Gesetzen" zuverlässig extrapolieren zu können. Dazu müssen sie freilich die Offenheit der Zukunft leugnen. Techniker halten es eher mit dem Weltverändern. Zwischen beiden besteht ein Zusammenhang.
Hat, was ich hier als "Instinktdenken" charakterisiere, etwas mit metaphysischen Traditionen zu tun, die zu selbstverständlich geworden sind, als dass man sie auflösen kann, egal ob man an ihnen explizit festhält oder ob man sie leugnet, um ihnen dann umso gründlicher als ihr Opfer zu verfallen? Ontologie ist die Lehre vom Seienden als solchem. Warum ergänzen oder ersetzen wir sie nicht durch ein allgemeines Verständnis des Werdens? Das würde uns nicht nur von einer Reihe von ontologischen Antinomien in Form verschiedener Dualismen (Stoff - Geist, Leib - Seele, Materie - Form, Subjekt - Objekt, Wahres - Falsches, etc.) befreien sondern auch erlauben, den selbsterzeugten Veränderungen der Welt mit mehr Distanz und Reflexion zu begegnen. Man mag einwenden, die Grundannahme des offenen Werdens der Welt sei selbst auch metaphysischer Natur. Dem will ich nicht widersprechen; nur zu bedenken geben, dass wir nach so viel und so gut zusammenspielenden Indizien dafür, welche den Menschen der vergangenen Jahrhunderte nicht verfügbar gewesen sind, es einmal mit nicht-überzeitlichen Ausgangsannahmen versuchen sollten.
Ich meine, dass Zeit in einer allgemeinen Theorie offener Evolution nicht deren Voraussetzung sein kann und auch nicht bloss deren Folge, sondern der genuine Gehalt von Evolution selbst. In beiden Aspekten: in der gerichteten Sukzession der Ereignisse wie in deren Gliederung in Vergangenheit und Zukunft. Denn nur in ihrer jeweiligen Gegenwart können die Strukturen Wandel erfahren; die ihn erfahren haben sind fixiert, bis sie in einer neuen Gegenwart neuem Wandel unterworfen werden. Der Takt oder die Geschwindigkeit des evolutiven Flusses ist wohl eher vielstimmig zu begreifen und aus der relativen Koordination der Stimmen darzustellen. Er bestimmt sich aus dem Wandel der Strukturen in all diesen Gegenwarten, welche nicht einem Punkt, sondern dem realen Wandel entsprechen. Welche eine aus dem Spektrum von Möglichkeiten oder "Zukünften" jeder Gegenwart zu ihrer einen Vergangenheit wird, ist dementsprechend selten ganz eindeutig, wie immer regelmässig sie dennoch sein mag; dadurch allein lässt sich die Offenheit von Evolution begründen.
Warum setz(t)en die Wissenschaften so hartnäckig auf die "ewigen" Gesetzmässigkeiten und damit auf ein Verständnis von Zeit, das vom realen Geschehen in der Welt abhebt? Charles Peirce hat 1884 eingesehen, dass, wenn wir den Kosmos als etwas in offener Entwicklung Befindliches auffassen, wir nicht umhin können, auch die ihn bestimmenden Gesetzlichkeiten als etwas in Entwicklung Begriffenes konzipieren zu müssen.
Warum hat man sich so zögerlich auf ein ernsthaftes Evolutivdenken über den biotischen Bereich hinaus eingelassen? Warum nehmen wir nicht zu Kenntnis, dass eine gültige Theorie der Evolution erstmals rund 100 Jahre vor Darwin vorgeschlagen worden ist, entwickelt am Fall der kulturellen Evolution in Verbindung mit der individuellen Entwicklung des menschlichen Handelns (Herder 1772, 1774)? Warum nehmen wir nicht in einer Verantwortungsethik ernst, dass wir selber es sind, die in jeder Gegenwart einen ganz erstaunlichen Einfluss darauf ausüben, aus welcher der vielen möglichen Zukünfte demnächst die gerade eine, einzige Vergangenheit wird?
Das sind freilich wissenschaftskritische und anthropologische Fragen für eine andere Vortragsreihe. Doch wäre immerhin schon viel gewonnen, sollte es mir hier gelungen sein, Sie wenigstens ahnen zu machen, dass kritischer Austausch zwischen den Wissenschaften selbst, wie unzulänglich immer, ein erstaunlich fruchtbares Instrument der Erneuerung überkommener Einsichten sein kann.
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