Alfred Lang

University of Bern, Switzerland

Magazine Contribution 1996

Wegbereiter einer anderen Psychologie

Ernst E. Boesch zum achtzigsten Geburtstag

1996.02

@CuPsy

7.5 / 13KB  Last revised 98.10.25

Der kleine Bund, Jg. 147, Nr. 299 vom 21. 12. 96, Pp. 4

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Der Schweizer Psychologe Ernst Boesch hat in den gut 40 Jahren seines Wirkens an der Universität Saarbrücken ein erstaunliches Lebenswerk vorgelegt. Endlich findet es zunehmend internationale Anerkennung. Boesch hat psycho logisches Denken in jenen Bereich zurückgerückt, in den es in erster Linie gehört: Menschen als Handelnde in ihrer Kultur zu begreifen. Anhand der im vergangenen Frühjahr veröffentlichten gestrafften französischen Version seines Hauptwerks Symbolic Action Theory and Cultural Psychology sei hier sein Werk und Wirken gewürdigt.

Ernst Boesch ist einer der originellsten und eigenständigsten Psychologen seiner Generation. Schüler von Claparède und Piaget in Genf hat er seit 1951 an der neugegründeten Universität des Saarlandes in Saarbrücken ein Institut für Psychologie aufgebaut, aus dem hervorragende Arbeiten und Schüler hervorgegangen sind. Boesch ist Ehrendoktor der Berner Universität.

Als erster im deutschen Sprachraum hat er schon in den 50er Jahren eine moderne Handlungstheorie ausgehend von Pierre Janet und später auch von Kurt Lewin und unter ausdrücklicher, auch kritischer Bezugnahme auf die Psychoanalyse entwickelt und seit den 60er Jahren die ökologische Lage der Menschen zum zentralen Thema gemacht. Wichtige transdisziplinäre und lebensweltliche Impulse hat er in Projekten der Entwicklungszusammenarbeit in Thailand und Afrika empfangen und gegeben und dabei jene entscheidenden Einsichten gewonnen, welche eine ausdrücklich kulturbezogene Psychologie fordern.

Seit den 60er Jahren hat Boesch beharrlich und gegen den Strich mit differenzierten und subtilen Forschungsarbeiten und einer beeindruckenden Theorie sich dafür eingesetzt, der Kulturalität der Menschen in der Psychologie ausdrücklich einen gebührenden Platz zu geben. So ist er zu einem der frühen und führenden Wiederbegründer einer kulturbezogenen Psychologie in der zweiten Jahrhunderthälfte geworden. Ein hochentwickeltes Bewusstsein für themenangemessene Methodik verbindet er mit einem weiten Themenhorizont und einer beeindruckenden Sensibilität für psychische, soziale und kulturelle Zusammenhänge.

Boesch geht immer von sehr konkreten Lebenssituationen aus, eigenen und vermittelten, aus unserer und anderen Kulturen, aus Kunst auch und Literatur. Die Erfahrung von Heimweh mag hier als ein Beispiel dienen. Heimweh ergreift einen meist in der Fremde. Hat nicht manchen vielleicht ein Fernweh aus der Heimat hinausgezogen? Oder die Enge der allzu gewohnten Lebensformen hinausgetrieben, die Unerträglichkeit des ewig Wiederholten? Können sie in der Fremde eine neue Heimat finden, aufbauen, oder werden sie früher oder später, vorübergehend oder ganz, zurückgestossen oder gezogen?

Boesch macht deutlich, dass wir Wesentliches verpassen, wenn wir die inneren Bedingungen solcher Vorgänge getrennt von den äusseren zu begreifen suchen. Mit Hilfe von Konzepten wie der Subjektivierung des Objektiven und der Objektivierung des Subjektiven versucht er den das abendländische Denken so sehr bestimmenden Gegensatz zwischen dem Ich und dem Nicht-Ich zu überbrücken. Wir handeln, bestimmt durch und in einem Handlungsfeld, welches ebensosehr aus Beiträgen von uns selbst, unserem Sehnen, Fürchten, Meinen, Wissen usw., wie von den Eigenschaften der Dinge dort zusammengesetzt ist. Und in ganz wesentlichem Ausmass gehen in dieses Feld auch die kulturellen Vorgaben der Lebensgemeinschaft ein, der wir zugehören, die Normen, die traditionellen Gewohnheiten, die impliziten Erwartungen der andern an uns. Auch wenn wir unser Handeln im Dienste bestimmter Zielsetzung zu sehen neigen, ist nicht zu übersehen, dass solche nur wie die Spitze eines Eisbergs einen augedehnten Komplex von ziehenden und stossenden Momenten darstellen; Boesch spricht von der Polyvalenz aller unserer Orientierungen und Vollzüge.

Das Insgesamt solcher Orientierungs-, Bewertungs- und Bewegungsmomenten versucht Boesch in seinem erweiterten Begriff des Mythos zu fassen. Denn alle Kulturen stellen sich in vielfältigen Systemen von Erklärungen und Rechtfertigungen dar und vermitteln damit der jeweils jungen Generation wesentliche Konstanten des Zusammenlebens, welche vielfältige Formen von eigentlichen Mythen-Geschichten bis zu abstrakteren Ideensystem oder simplen Selbstverständlichkeiten haben können. Kinder und Erwachsene können nicht zusammenleben, ohne sich die wesentlichen Teile dieses Mythengewebes zu eigen zu machen. Dabei geht es nicht ohne kleinere oder grössere Modifikationen, Ausprobieren und Konflikte ab, teils bloss in der Vorstellung, teils im realen Handeln, zusammen einem vielfältigen Gewebe von symbolischen Akten und Werken. Jedes Individuum erringt in seinen Fantasmen eine persönliche Version der Mythen und trägt durch sein daraus bestimmte Handeln seinerseit zum Fortgang der Mythen in seiner Kultur bei.

Mit dieser theoretisch feingliederigen und ehrfahrungsmässig reich demonstrierten Psychologie ist Boesch nicht nur ein Brückenbauer zwischen den wissenschaftlichen Kulturen in der Psychologie, sondern hat sich zunächst und bis heute auch zu einem Aussenseiter gemacht. Anzeichen mehren sich, dass ihn diese Art von Psychologie immer sichtbarer auch zu einem Wegbereiter einer neuen Konstitution dieser Wissenschaft machen könnte.

Boesch beschliesst sein Buch mit den Sätzen: "Une telle conception implique nécessairement une responsabilité. La culture est une création humaine, constituée par des choix faits des générations durant […] Voulant comprendre l'homme comme un être culturel, j'ai été amené à considerer la diversité des cultures comme une preuve de sa créativité. En consequence, un cadre théorique strictement déterministe devient inapproprié. Pour toutes ces raisons, bien qu'ayant subi bon nombre d'influences théoriques, j'ai opté sans hésiter pour celle qui non seulement permet d'inclure la créativité de l'homme, mais promet aussi de rétablir sa dignité." (p.501f.)

Haben die modernen Sozialwissenschaften einschliesslich der Psychologie wirklich jenen humanitären Charakter, den sie sich so gerne zuschreiben? Sind sie nicht vielmehr auch weithin zu Verstärkern des technischen Fortschrittsglaubens und Promotoren seiner Anwendung auf den Menschen selbst geworden? Indem sie Menschen als eine besonders tüchtige Form von Maschine zu verstehen vorschlagen, deren Funktionieren als Individuum und als Gruppe zu optimieren sei? Der Mythos der individuellen Selbstverwirklichung als Auftrag und Verheissung wird, vage genug, aber mit "wissenschaftlich gesicherten" Verfahren, als machbar erklärt. Damit wird das irdische Freiheitsversprechen in ein dichtes Gewebe von Anforderungen verstrickt. Die Maximierung des Erfolgs im Wettbewerb aller gegen alle wird zum leeren und nicht selten mörderischen Ziel.

Alfred Lang

Boesch, Ernst E. (1995) L' action symbolique Ð fondements de psychologie culturelle. Paris, L'Harmattan. 519 Pp. (Französische Fassung (gestrafft) von Symbolic actions theory and cultural psychology. Berlin, Springer 1991).

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