Alfred Lang | ||
Magazine Article 1995 | ||
"Bewerten Sie die wichtigsten Theorien über die 'grosse Tragödie'." Aus einem Matura-Aufsatz im Jahr 2095 | 1995.03 | |
11 / 16KB Last revised 98.10.25 | ||
Themenheft: Ökologie / Umweltwissenschaften. UniPress (Bern) Nr. 85 / 1995 (Juni) S. 37-38 | © 1998 by Alfred Lang | |
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- Der technizistische Erklärungsversuch
- Die moralisch-pädagogischen Thesen
- Verhängnisvoller Anthropozentrismus
Die Ereignisse der Jahre 2033-35, die allgemein als die "grosse Tragödie" bezeichnet werden, muss ich im gegebenen Rahmen als bekannt voraussetzen. Noch weniger ist es möglich, hier die ökologischen, sozialen, ökonomischen und politischen Entwicklungen darzustellen, welche der Epoche der schrecklichen Kriege vorausgegangen sind. Da mit zumindest einigen guten Gründen die These vertreten worden ist, die "grosse Tragödie" hätte sich so oder so ereignet; und der globale Krieg sei in seinen doch einigermassen raschen massenvernichtenden Folgen möglicherweise für viele Menschen die sozusagen "erträglichere" Form gewesen, den Folgen des weltweiten Wasser- und Nahrungsmangels und dem Fehlen von ausreichend geschützten Orten gewissermassen vorzuziehen.
Die Zahl der Deutungen dieser Ereignisse wächst heute mit der Zunahme der Zahl der Intellektuellen und mit den neu erschlossenen Archivalien zur Rekonstruktion der Geschichte insbesondere vor den Ereignissen, ja, mehr noch ihrer jahrhundertealten Vorbedingungen, rasch an. Die nachfolgenden Überlegungen können damit sicher nur einen sehr vorläufigen Charakter beanspruchen. Dass uns das Verständnis der Vorbedingungen dieser Ereignisse am Herzen liegen muss, ist offensichtlich. Ich bin aus dieser Perspektive den Verantwortlichen für unser Bildungswesen ausserordentlich dankbar dafür, dass sie den kulturhistorischen und anthropologischen Disziplinen in unserer Bildung gegenüber den szientistischen und technischen Gebieten doch einen deutlichen Vorrang eingeräumt haben. Es ist zu hoffen, dass sich dies in den zu erwartenden politischen Auseinandersetzungen halten lässt. Damit habe ich allerdings bereits deutlich gemacht, in welche Richtung meine Bewertungen der Theorien über die "grosse Tragödie" gehen werden.
Man kann sagen, dass sich im wesentlich drei Gruppen von Deutungen der hauptsächlichen Gründe unterscheiden lassen. Natürlich streiten sich diejenigen, die sich damit beschäftigen über manche Einzelheiten und jedes neu erschlossene Archiv, jede Rekonstruktion einer bisher unzugänglichen Sprache kann neue Tatsachen hervorbringen, welche das Bild ändern können. Die Hauptlinien haben aber wohl eine gute Chance, den Streit zu überstehen, obwohl ihr Bild sicher noch der Präzisierung bedarf. Ich versuche sie in groben Zügen zu schildern und widme mich dann, so weit meine Zeit reicht, der Begründung der von mir bevorzugten Deutung.
Die erste Auffassung wird am besten als die technizistische bezeichnet. Sie erfreut sich erstaunlicherweise unter Intellektuellen, obwohl sie diesen ja alles andere als schmeichelt, grosser und zunehmender Beliebtheit. Sie behauptet, bei der Anwendung verschiedener Technologien seien in den Jahrzehnten vor der Katastrophe vermeidbare Fehler begangen worden. Im archäologischen Material lassen sich manche Indizien für solche Fehler finden. Man denke etwa an die kürzlich ausgewerteten Berichte über Mängel in der Wartung und Bedienung von Nuklearkraftwerken oder an die irrwitzigen Folgen der Gentechnologie, die bei den medizinischen Anwendungen plötzlich gehäuft auftraten. Es ist aber wenig sinnvoll, nach Verantwortlichen zu suchen. Denn die Zuständigen sind tot und aus den Fehlern ist jetzt nichts zu lernen.
Bedenkenswert finde ich das Hauptargument gegen diese Theorie, nämlich dass die aufgetretenen Fehler Systemfehler gewesen seien. Unerbittlich müssten in so gigantischen Systemen ohne angemessene Selbstkorrektive Ausläufer auftreten. Das sieht dann wie ein technizistisches Versäumnis aus; aber die Analysen zeigen, dass technische Systeme von einem gewissen Komplexitätsgrad an nahezu notwendig selbstdestruktive Fehler erzeugen. Und wären denn Korrekturen auf der Systemebene unter den mörderischen Wettbewerbsbedingungen zwischen den Wissenschaftlern und ihren Richtungen sowie zwischen den multinationalen Unternehmen und Staatenblöcken während der Jahrzehnte vor der Tragödie überhaupt möglich gewesen? Wir sind damit klar auf die menschliche Seite verwiesen.
Als zweite Gruppe will ich die moralisch-pädagogischen Theorien in Erwägung ziehen. Hier wird behauptet, die technischen und die politischen Systeme hätten versagt, weil man es nicht verstanden habe, den Verfall der sozialen Ordnung durch eine effiziente Moral oder durch gezielte Erziehungs- oder Lenkungsprogramme zu kompensieren. Manche Theoretiker dieser Schule erweisen sich als verkappte Technizisten, wenn sie einer konsequenten Human- und Sozialtechnologie nachtrauern.
Denn sie glauben, man habe das szientifisch-technokratische Kredo nicht konsequent genug auch auf das Objekt "Mensch" angewendet. Zwar habe schon gegen Ende des 20. Jahrhunderts die Einsicht bestanden -- das ist ausreichend belegt --, eigentlich sei nicht die Umwelt, sondern der Mensch das Problem der sich abzeichnenden, damals so genannten "Umweltkatastrophe"; aber die einschlägigen Wissenschaften hätten verfehlt, wirklich wirksame Techniken zur Steuerung der Menschen zum Gebrauch bereitzustellen.
Aus heutiger Sicht erscheinen jedoch die bisher untersuchten Ansätze dazu mehr als problematisch. Sie waren in gewisser Hinsicht selbstbefriedigend, insofern sie von fast beliebigen Annahmen ausgingen und mit oft ebenso akribischer wie arbiträrer Methodik merkwürdige soziale Konstruktionen anboten. Nicht selten verwechselten sie Vorstellungen und Tatsachen und waren daher im unfruchtbaren Sinn kontrovers. Ihre Aktionsprogramme griffen meist nur partiell oder zeitigten unerfreuliche Nebenwirkungen. Es hatte sich eine Separierung der beruflichen Laufbahnen in nützliche und luxuriöse -- also eigentlich überflüssige, bloss der kompensatorischen Erholung dienende -- ergeben. Glücklicherweise blieben so immerhin einige Nischen, wo sich unter anderem eine zahlenmässig zwar kleine, aber in ihrer Wirkung wichtige Jugendunbotmässigkeit erhielt; sie konnte die Wirksamkeit etlicher Manipulationen wenigstens durchkreuzen.
Solche Belege unterstützen vielleicht jene, welche heute den sinnbezogen-humanen Projekten gegenüber den szientifisch-technokratischen mehr Gewicht einräumen wollen. Denn die "westlichen" Menschen hatten ja jene simplistische emanzipative Ideologie konstruiert und dann in den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts unter der Bezeichnung "Menschenrechte" weltweit durchgesetzt, welche wir gewöhnlich als die "Freisetzung und Vereinzelung" der Individuen bezeichnen. Sie hatten so den (selbst-)mörderischen Wettbewerb aller gegen alle begründet, damit das Bevölkerungswachstum angeheizt und die Verelendung grosser Teile der Bevölkerungen in allen Erdteilen eingeleitet. Das bringt mich zur dritten Theoriengruppe. Denn damit stellt sich die Frage nach den Gründen des Scheiterns der individuellen Freiheiten im Verbund mit den kategorischen Pflichten der Anpassung.
Die anthropologische Theorie bietet meiner Meinung nach die gründlichste Analyse der tatsächlichen Entwicklungen an. Sie beruht auf einem Rekonstruktionsversuch dessen, was die Menschen in den verschiedenen Kulturen im Wachsen und Schwinden ihrer Traditionen über sich selbst gedacht haben. Vereinfachend kann man sagen, dass man in der grossen Mehrzahl der alten Kulturen die Menschen zwar als besondere Lebewesen betrachtetet, sie aber als innig in einen umfassenden Welt- und Sozialzusammenhang eingebettet verstanden hat. In manchen, durchaus nicht in allen Kulturen wurde dieser Zusammenhang auch als die zugängliche Welt transzendierend begriffen. Und so verstand sich z.B. der abendländische Mensch, von einigen Ausnahmeerscheinungen abgesehen, langezeit als ein "Kind Gottes".
Manche Menschen bildeten dann allerdings zwischen sich selbst und dem personifizierten Gott einen Gegensatz und einige bedienten sich ihrer Ausmalungen des Göttlichen, um über andere Menschen Vorteile und Einfluss zu gewinnen. Das geschah in vielen Kulturen ähnlich; aber in keiner ausser der abendländischen entwickelte es eine solch ungeheure Dynamik. Ein kritischer Punkt in der Entwicklung war wohl, als man anfing, gewisse vorher selbstverständlich für göttlich gehaltene Eigenschaften in leicht veränderten Formen den Menschen selbst zuzuschreiben. Die Formen waren mannigfaltig; bedeutsam geworden sind besonders:
(a) die Idee einer absoluten Vernunft, welche zwingende Schlüsse nicht nur in Spiel-Welten, sondern auch im Feld der konkreten Wirklichkeiten ermöglichen soll;(b) der Gedanke allgemeingültiger Naturgesetze in Verbindung mit dem Ziel ihrer Ausformulierung und technischer Nutzung und die Übertragung dieser Idee auch auf Leben und Menschen;
(c) vielleicht in Auflehnung gegen den unangenehmen Nebeneffekt dieser letzten Vorstellung -- kann man denn sich selbst als bloss von Notwendigkeit und Zufall gelenkt ernst nehmen? --, die Behauptung einer Freiheit der Person, die jedes Individuum zu einem quasigöttlichen Aktionszentrum erklärt und ihm den Auftrag der Selbstverwirklichung erteilt, angeblich weil das im besten Interesse der Allgemeinheit liege. Natürlich kann man ein dermassen selbstzentriertes Selbst ebensowenig ernstnehmen. Die Geschichte hat es jedenfalls gründlich widerlegt.
Die Zeit reicht nicht, weitere Aspekte dieser anthropozentrischen Überforderung der Menschen auszuführen. Aber das ist sowieso eine die Kräfte von Einzelnen übersteigende Aufgabe. Denn eine wirklich anthropologische Sicht betont das ungemein vielfältige Zusammenspiel der unterschiedlichsten Bewegungen und Verfestigungen in der Geschichte der Menschheit in und zwischen ihren Kulturen, d.h. in der eigentlichen Menschen-Umwelt. Es scheint, dass die Menschen des 20. und des frühen 21. Jahrhunderts trotz vielerlei rechtzeitiger Mahnungen versäumt haben, ihre Spezialisten ausreichend in ein Ganzes des Denkens und Handelns einzubinden. Mögen wir die "grosse Tragödie" doch bitte nicht wiederholen!