Alfred Lang

University of Bern, Switzerland

Bulletin Contribution 1994/95

Tätigkeitsprogramm der Gesellschaft für Kulturpsychologie

1994.03

@CuPsy @SciPol

26 / 34 KB  Last revised 98.10.26

Kulturpsychologie -- Rundbrief 5(1) April 1994, 2-7 und 6(1) April 1995, 4-9.

© 1998 by Alfred Lang

info@langpapers.org

Scientific and educational use permitted

Home ||

Inhalt  

 

Gedanken zu einem Tätigkeitsprogramm der Gesellschaft für Kulturpsychologie
a) Historischen Wurzeln der Kulturpsychologie und die Rekonstruktion ihrer Traditionen

(b) Felder kulturpychologischer Forschung

(c) Modelle kulturbezogener Psychologie


Gedanken zu einem Tätigkeitsprogramm der Gesellschaft für Kulturpsychologie (Teil I, 1994)

 

An der Mitgliederversammlung vom 12.11.93 wurden Erwägungen zu den mittel- und langfristigen Zielen der Gesellschaft für Kulturpsychologie diskutiert. Die Versammlung hat den Unterzeichnenden gebeten, die Grundzüge dieser Überlegungen für die Mitglieder zusammenzufassen. Damit soll eine Diskussion angeregt werden, welche an der nächsten Tagung (vorausichtlich im Mai 1995) vertieft werden soll und gegebenenfalls in Beschlüsse über ein Tätigkeitsprogramm zur Konkretisierung des Zweckartikels der Satzung führen kann. Der zweite Teil der Erwägungen erscheint im nächsten Rundbrief -- warum nicht bereits bereichert durch Stellungnahmen von Mitgliedern?

Im Interesse einer Verstärkung der Identität der Gesellschaft nach innen und nach aussen drängt sich eine thematische Fokussierung der kommunikationsfördernden und der publizistischen Aktivitäten der Gesellschaft auf. Damit soll die freie Entfaltung der Aktivitäten ihrer Mitglieder wohl tangiert, im günstigen Fall gestützt und verstärkt, jedoch in keiner Weise präjudiziert werden.

Menschen reagieren nicht nur auf ihre umweltlichen Bedingungen, sondern sie schaffen diese in der Entwicklung von kulturellen Traditionen weitgehend selber. Diesem Sachverhalt ist in der Entwicklung der Wissenschaft Psychologie seit dem 19. Jahrhundert bis heute nur am Rande und allenfalls implizit Rechnung getragen worden. Während er in der wissenschaftlichen Begrifflichkeit und Methodik kaum berücksichtigt wird, ist er freilich in der Praxis von unübersehbar zentraler Bedeutung. Keine Analyse von und keine Beratung oder Intervention in persönlichen oder institutionellen Problemlagen kann sich auf menschliche Individuen oder Gruppen und deren Interna begrenzen. Ihr Feld ist vielmehr stets ein übergreifendes psycho-sozio-kulturelles System, auch dann, wenn der Akzent mit Gründen auf das eine oder andere gesetzt wird. Jede diagnostische oder experimentelle Situation ist notwendig in einer bestimmten Weise kulturell; mithin und dementsprechend auch ihr Ergebnis. Jede Beratung, jede Intervention ist ein bestimmter kultureller Akt und ein Beitrag zur Verfestigung oder Veränderung kultureller Systeme.

Diesen Tatsachen werden die aus den wissenschaftlichen Traditionen übernehmbaren Begrifflichkeiten und Methodiken nur in Ausnahmefällen und in aller Regel bloss implizit gerecht. Praktiker versuchen sich mit Behelfsintuitionen aller Art über die Runden zu bringen. Nichtpsychologen ist dieser Sachverhalt nicht selten nachhaltiger präsent. Es dürfte hier einer der wesentlichen Gründe dafür liegen, dass es im Feld der Psychologie zu einem gestörten Verhältnis zwischen Praxis und Wissenschaft gekommen ist. Langfristig wirkt sich das zum Nachteil beider Partner aus. Es fehlt in allen Bereichen der Psychologie an einer tiefergreifenden Sprache und an fruchtbaren Theorien über die kulturelle Bedingtheit der menschlichen Existenz und über die Möglichkeiten und Grenzen der Lenkbarkeit der Kultur durch individuelles Handeln. Selbst wenn er das Problem erkennt, findet der typische, auf Reduktion bedachte Wissenschaftler in der wissenschaftlichen Tradition keinen Anlass sich darauf einzulassen, in den Bedingtheiten seiner Laufbahn als Wissenschaftler jedoch viele Gegengründe. Der Praktiker kann sein Gespür für die übergreifenden Zusammenhänge zwar zum Wirken, aber kaum zur Sprache bringen. Vieles spricht dafür, dass diese wissenschaftsimmanente Entwicklung bereits sichtbar dazu geführt hat, dass sich Fachleuten aus den verschiedenen Wissenschafsbereichen, die am Handeln und Wirken der Menschen interessiert sind, lieber an andern Disziplinen als an der Psychologie orientieren oder ihre Theorien vom Menschen und vom menschlichen Handeln gleich selber entwerfen.

Diese Lage der Psychologie, die hier nur in vergröbernden Zügen gezeichnet werden kann, fordert zum koordinierten Forschen und Entwickeln einer Psychologie in theoretischer und praktischer Hinsicht heraus, welche sich betont das Verständnis der Mensch-Kultur-Zusammenhänge zum Ziel setzt. Dabei geht es nicht um eine weitere "Bindestrich"-Psychologie, sondern um nicht weniger als das Geltendmachen der Selbstverständlichkeit, dass kaum ein Wissenschaftszweig vom Menschen ernst genommen werden kann, der ihn nicht als Kulturwesen thematisiert.

Keineswegs ist dabei eine einzige, allgemeingültige Auffassung zu erwarten oder gar anzustreben. Im Lauf der vergangenen Jahrhunderte wurden in der Tat eine Reihe verschiedener kulturpsychologischer Denkweisen gepflegt und einige werden auch heute, seit wenigen Jahren in zunehmender Breite und Intensität, entwickelt. Man kann sich aber des Eindrucks schwer erwehren, dass es sich überwiegend um Ansätze handelt, die je von einem besonderen Gesichtspunkt aus und in je eigener Sprache das Mensch-Kultur-Verhältnis zu thematisieren suchen und die untereinander eher wenig in Diskussion getreten sind. Um vom Gros der Psychologenschaft und von einem weiteren Interessentenkreis ernstgenommen zu werden, bedarf es jedoch so etwas wie einer kritischen Masse und eines einigermassen kohärenten Stromes mit einem gemeinsamem Theoriekern. Kontroversen in vielen Einzelfragen und auch in grundlegenden Punkten sind nicht nur unvermeidlich, sondern für die Entwicklung des kulturpsychologischen Denkens unentbehrlich; aber sie sollten wahrnehmbar um einen Kernbestand kreisen. Dieser könnte etwa die Einsicht und die daraus wachsenden Folgen für Theorie und Methodik betreffen, dass Menschen nicht nur die Geschöpfe sondern auch die Schöpfer ihrer Umwelt, eben der Kultur sind. Für viele Kulturpsychologen sind demnach Begriffe des Handelns zentral geworden; dabei versuchen sie das Verständnis seiner Bedingungen mit der Untersuchung der Wirkungen des Handeln zu ergänzen.

Alle Erfahrung mit moderner Wissenschaft und wissenschaftlich begründeter Praxis zeigt, dass die Formulierung noch so guter Problemstellungen und das Angebot noch so trefflicher Untersuchungen weitgehend wirkungslos bleibt, wenn sich das betreffende Feld nicht einer gewissen öffentlichen Anerkennung und institutioneller Verfestigung -- eben seiner Etablierung als kulturelles System -- erfreuen kann. Hierin ist in der heutigen Lage wohl die Hauptaufgabe einer Gesellschaft für Kulturpsychologie zu sehen. Natürlich kann die Gesellschaft mit ihren beschränkten Mitteln nicht selbst zum Träger entsprechender Forschungstätigkeit werden. Was sie aber tun kann und meines Erachtens tun sollte, ist solchen Anstrengungen ein programmatisches Forum der Koordination und der Amplifikation zu bieten.

 

Auf diesem Hintergrund habe ich vorgeschlagen, programmatisch drei Gruppen von Forschungsaufgaben ins Auge zu fassen, welchen die Gesellschaft durch ihre organisatorischen und publizistischen Tätigkeiten mittel- bis langfristig ihre besonderere Unterstützung leiht. Das Programm sollte als ein Vorschlag zur Bündelung zwecks Verbesserung der Wahrnehmung dessen verstanden werden, was die Kulturpsychologen heute ohnehin tun. Es soll den Verfolg von Themenstellungen, die hier nicht untergebracht werden können, keinesfalls ausschliessen; doch meine ich, dass eine starke Akzentsetzung auf jeweils einen der drei Schwerpunkte unseren Tagungen und Publikationen eine wesentliche Verbesserung der öffentlichen Wirkung bringen kann. Solche Akzentsetzungen erfordern ausreichend lange Vorbereitungsphasen.

Die erste Aufgabe gilt der historischenAufarbeitung des kulturpsychologischen und -anthropologischen Denkens in den philosophischen Traditionen; die zweite betrifft einigen besonders fruchtbar erscheinende inhaltlicheThemenbereiche, anhand derer kulturpsychologisches Denken entwickelt und an exemplarischen Erfahrungsproben der Bewährung ausgesetzt werden kann; die dritte Aufgabe sehen wir im Erarbeiten eines Ordnungssystems aktueller kulturpsychologischer Denkweisen im Sinne eines offenen Orientierungsrasters der Kulturpsychologie selbst sowie ihrer Bezüge zu anderen Bereichen der Psychologie und weiteren menschbezogenen Wissenschaften.

Ich möchte im folgenden diese drei Aufgaben aus meiner Sicht etwas näher charakterisieren. Es handelt sich dabei um einen Einstieg in mittel- bis langfristige Unternehmungen, deren Umschreibung laufend auf die gewonnen Einsichten bezugnehmen muss. Natürlich existieren für alle drei Aufgaben Vorarbeiten verschiedener Art und teils hoher Qualität; sie erscheinen mir jedoch bisher nicht jenen Grad an grundlegender Sicherheit und Kohärenz gewonnen zu haben, welcher die Forscher dazu verlocken kann, auf dem Verfügbaren aufzubauen. Es scheint mir eine wichtige Aufgabe gerade der Gesellschaft für Kulturpsychologie, ihr Potential auf die Anlegung von solchen Fundamenten auszurichten.

 

a) Die Artikulation eines Bildes der historischen Wurzeln der Kulturpsychologie und die Rekonstruktion ihrer Traditionen.

Diese Aufgabe dürfte in besonderem Mass den Erwartungen der Kulturpsychologen aus anderen Sprachkreisen gerecht werden.

Eine empirie-orientierte Kulturpsychologie kann, orientiert man sich an den gängigen Psychologiegeschichten, eine ältere Tradition als die Psychologie selbst vorweisen. Während letztere, ihrem gegenwärtigen Selbstverständnis entsprechend, etwa um die Mitte oder in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit der Verbreitung des Experiments einsetzen soll, zeigt eine auch schon flüchtige Lektüre von anthropologischen Texten aus dem 18. Jahrhundert, insbesondere aus dessen zweiter Hälfte, dass hier der Psychologie nicht nur programmatisch sondern in Ansätzen auch faktisch eine zentrale Rolle unter den Wissenschaften zugedacht worden ist, welche sie bis heute trotz ihres quantitativen Erfolgs auch nicht entfernt wieder erlangt hat. Psychologie wird vor der Durchsetzung der mechanistischen und der Kantischen Linien des Menschverständnisses nicht nur für die ausschlaggebende strategische Wissenschaft zum Verständnis des menschlichen Erkennens, sondern auch als eine der entscheidenden Grundlegungen der Ordnung des menschlichen Zusammenlebens verstanden. Nach dem Fragwürdigwerden göttlicher Regelung des Weltgeschehen und der sozialen Ordnung blieb die ebenso fragwürdige Auffassung des Kosmos und der Menschenwelt als einer mechanischen Maschinerie mit notwendigem und zufälligem Gang. Noch bevor dieses materialistische und positivistische Verständnis der Welt und sein idealistisches Pendant eines mit notwendigen Funktionen und freiem Willen zur Beugung unter die absolute Vernunft ausgestatteten subjektiven und objektiven Geistes seinen Siegeszug angetreten und mit der Spaltung der philosophischen Fakultät unkritisch besiegelt hat, hat freilich eine Bewegung von Gelehrten aus verschiedenen Ländern eine ganz andere Auffassung der Rolle der Menschen in dieser Welt vorgeschlagen. Und wie mir scheint: eine äusserst aktuelle, wie die nachstehende Kurzbeschreibung vielleicht erahnen lässt.

In einem evolutiv-dialogischen Wechselspiel zwischen den sich differenzierenden und anreichernden Produkten menschlichen Handelns wie der Sprache, den Künsten, den Werkzeugen, den Bauten, den Institutionen usf. und aus ihren vielfältigen Rückwirkugen auf die Menschen würden nicht nur diese selbst jeweils gerade zu dem, was sie in den verschiedenen Kulturen der Welt geworden wären; sondern gleichzeitig seien auch diese Produkte die Verkörperung der Eigenart jeglicher Menschen und Menschengruppen derart, dass man keines ohne das andere verstehen könne. Johann Gottfried Herder ist wohl derjenige, der diese Vorstellungen in der umfassendsten Synthese durchdacht und auf der Grundlage eines immensen Materials von Beobachtungen dargestellt hat. Sein Denken versteht dieses gemeinsame Werden von Mensch und Kultur klar als ein selbstregulativ-evolutives Geschehen, das keiner absoluten oder transzendentalen Ordnungskräfte bedarf. Ein solches Verständnis des Wandels setzt aber unzweifelhaft das Verständnis der Bedingungen und Wirkungen menschlichen Handelns voraus.

Dieser kulturpsychologische Paradigma ist, so weit man das heute übersehen kann, merkwürdigerweise nicht als solches zu einer Tradition geworden, ja eigentlich bis heute kaum als solches rezipiert worden. Bei manchen Autoren des 19. und früheren 20. Jahrhunderts tauchen Teilaspekte dieser kultur-evolutiven Anthropologie auf. Genannt seien etwa Wilhelm von Humboldt, Herbart, Lotze, Lazarus, Wundt (die andere Hälfte), Brentano, Mach, Dilthey, Simmel, Bühler, Vygotsky; und, in einer teilweise unabhängigen Linie: Peirce, Dewey, Mead. Natürlich ist die Liste eine offene; die geannten Namen sollen nur Denkweisen markieren, die unverkennbar auch in einem gewissen Gegensatz zu den sog. Hauptströmen stehen.

Ich halte es für eine ideen- und psychologiegeschichtlich ebenso bedeutende wie überfällige Aufgabe, eine Rekonstruktion der Geschichte jener anthropologischen Ideen zu versuchen, welche die Konstitution der psychologischen Funktionen wie z.B. des Erkennens, des Vorstellens, des Fühlens, des Wollens, des Handelns, der Sprache, der Person, des Selbst und der Gruppe weder ausschliesslich auf biologische oder gar physiko-chemische Voraussetzungen noch als notwendige oder beliebige Konstruktionsspiele der Vernunft oder der Sprache verstehen wollen, sondern sie als Errungenschaften denken, welche sich entwickelnde Lebewesen im sozialen Verband einer werdenden Kultur in bestimmter Weise gewinnen.

Der Geschichtsvergessenheit der modernen Psychologie sollte von den Kulturpsychologen entgegengewirkt werden. Gedankenaustausch mit Kulturpsychologen aus verschiedenen Teilen der Welt veranlassen mich zum Vorschlag, diesen Aufgabenbereich mit einer gewissen Priorität zu bearbeiten, weil manche von uns älteren Kulturnationen erwarten, diese Dinge in kompetenter Weise erschliessen zu können. Das rasch wachsende Interesse an Kulturpsychologie in der angelsächsischen Psychologenwelt empfiehlt diesen Umweg. Es lässt sich auch argumentieren, dass gerade im deutschen Sprachraum noch einige Chancen bestehen, Wissenschaftler mit den nötigen breiten und offenen Voraussetzungen für die Aufarbeitung der beschriebenen Ideen- und Wissenschaftsgeschichte geschichte zu gewinnen.

 

Gedanken zu einem Tätigkeitsprogramm der Gesellschaft für Kulturpsychologie (Teil II, 1995)

Im ersten Teil (im Rundbrief vom Frühjahr 1994, Bd. 5(1), S. 2-7) dieser Erwägungen zur Zukunft einer kulturbezogenen Psychologie und zu möglichen Beiträgen unserer Gesellschaft wurde nebst dem allgemeinen Hintergrund die erste von drei Aufgabengruppen skizziert, nämlich die Rekonstruktion der anthropologischen und psychologischen Tradition des Begreifens der Menschen in ihrer Kultur. Diesem Thema wird die Tagung im Mai 1996 gelten: "Pioniere kulturpsychologischen Denkens" (*, vgl. auch in diesem Rundbrief S. XXX). Hier sollen nun zu den beiden andern Aufgabenbereichen ein paar Gedanken geäussert werden, durchaus nur im Sinne von Anregungen zur Diskussion, aus der die Planung der Schwerpunkte zweier weiterer Tagungen und Publikationen der Gesellschaft erwachsen kann.

 

(b) Felder kulturpychologischer Forschung

Kulturbezogenes Denken in der Psychologie kann nur dann Anerkennung finden, wenn auch empirische Studien zunächst wohlwollende, dann aber auch skeptische Fachangehörige zu überzeugen vermögen und -- vielleicht auf weite Sicht noch wichtiger -- Wissenschaftler aus anderen Disziplinen und an der menschlichen Kondition gründlich Interessierte anzuziehen vermag. Denn es ist ja vielleicht die grösste Schwäche der modernen wissenschaftlichen Psychologie, dass sie, abgesehen von gewissen Praxis-Versprechungen, über das eigene Fach hinaus nur minimale Wirkungen entfaltet hat.

Nun ist freilich zunächst einmal alles, was Menschen in ihrem Verhältnis zu ihrer Umwelt betrifft, kulturpsychologisch potentiell relevant. Das gilt erst recht unter der Veraussetzung, dass es nicht um die Einrichtung einer weiteren psychologischen Teil-Disziplin gehen kann, sondern darum, dazu beizutragen, dass Psychologie überhaupt die Kulturalität und Historizität der Menschen neben deren biotischen Natur (die übrigens ebenfalls eine gewordene und werdende ist) unter ihre expliziten Grundvoraussetzungen aufnimmt. Die enorme Weite und Vielfalt der kulturpsychologisch interessanten Themen, so glaube ich, muss uns nun aber zu strategischen Überlegungen derart veranlassen, dass die Gesellschaft für Kulturpsychologie ihre Amplifikations- und Unterstützungsanstrengungen prioritär auf solche Felder zu richten versucht, welche in nützlichen Fristen beste Aussichten auf solche Anerkennung innerhalb unserer Wissenschaft und darüber hinaus versprechen. Das kann wiederum nicht heissen, dass sich die Gesellschaft in die Forschungsinteressen ihrer Mitglieder einmischen möchte oder dass sie gar in irgendeiner Weise Initiativen zum Aufgreifen von neuen kulturpsychologisch einschlägigen Forschungsprogrammen schwächen möchte.

Es ist mir völlig klar, dass die Formulierung einer strategischen Richtlinie ein heikles Unterfangen darstellt. Zugleich bin ich jedoch der Überzeugung, dass wir nur so das Engagement einer grösseren Zahl von Mitgliedern erreichen und dann Richtung und Moment gemeinsamen Tuns und damit Aussichten auf Erfolg gewinnen können. Vielleicht kann man sich das aus einer Vergegenwärtigung der Alternative verdeutlichen: Tagungen und Bücher, wozu jede und jeder beiträgt, was einem selbst und vielleicht noch einen Teil der anderen Teilnehmer interessiert, gibt es mehr als genug. So möchte ich vorschlagen, dass wir in den nächsten Jahren eine Tagung organisieren mit dem expliziten Ziel, eine Reihe von inhaltlichen Feldern auszumachen, für deren strategische Förderung gute Gründe existieren. Es sollte möglichst bald eine kleine Gruppe zur Vorbereitung ins Leben gerufen werden.

Natürlich wird man bei der Wahl der in Frage kommenden Themenbereiche zunächst von den Arbeitsgebieten der aktiven Mitglieder der Gesellschaft und von den Programmen der mit ihnen verbundenen Institutionen ausgehen. Vielleicht lassen sich auch einige Felder identifizieren, von denen zu verbreitetem Bedauern bisher nichts zu vernehmen ist. Ich möchte aber hier keine einzelnen Felder nennen. Die beiden Publikationen der Gesellschaft (Allesch & Billmann-Mahecha 1990 und Allesch, Billmann-Mahecha & Lang 1992) und die wachsende kulturpsychologische Literatur bieten ausreichende Anregungen zu derlei Überlegungen an.

Ich möchte aber noch besonders auf meine Überzeugung hinweisen, dass kulturbezogene Psychologie nur dann eine echte Chance haben kann, wenn sie transdisziplinär angelegt ist. Die Verständigung und die Zusammenarbeit zwischen Kulturpsychologen und Kulturwissenschaftlern aus verschiedenen Disziplinen, welche Lebensbereichen von kulturpsychologischem Interesse gelten (z.B. den wissenschaftlichen Bemühungen zum Verständnis des Alltagslebens, des kulturellen Wandels, der Wohnwelt, der Multikulturalität, der politischen Institutionen, der Wirtschaft, der Umweltverantwortung, der Architektur, der Stadt- und Verkehrsplanung, der Biographik, der Literatur, des Theaters, des Films, der Musik, der Kommuniktion, der Medien, der Semiotik, u.a.m.) sollte von allem Anfang in die Erarbeitung eines Programms zur strategischen Unterstützung der Forschung in kulturpsychologischen "Schlüssel"-Feldern einbezogen werden.

 

(c) Modelle kulturbezogener Psychologie

Aller guten Dinge sind drei. Zu den "Pionieren" und den "Feldern" kulturpsychologischen Denkens und Forschens könnte eine Tagung mit dem Ziel einer Bestandesaufnahme und Diskussion der aktuellen Ansätze oder Modelle in der Kulturpsychologie hinzukommen. Mit guten Gründen darf man wohl annehmen, dass derzeit bis mehr oder weniger lang nach der Jahrtausendwende eine ähnliche Periode der Paradigmenunsicherheit in den Wissenschaften und im Menschenbild besteht, wie sie das ausgehende 18. Jahrhundert charakterisiert hat. Ob auch diesmal blutige Ereignisse grösseren Ausmasses nicht zu vermeiden sind, wird die Zeit weisen und davon abhangen, ob wir Menschen mit uns selbst anders umgehen lernen werden. Aber wie damals das metaphysische wird nun wohl das positivistische Zeitalter eine Ablösung finden müssen, sowohl in seinen materialistischen wie in seinen idealistischen Ausprägungen.

Kulturpsychologie stösst endlich weltweit zunehmend auf Interesse. Gegenströmungen in verschiedenen Bereichen der Sozialwissenschaften sind auf den Plan getreten. Manche kulturvergleichende Psychologen haben realisiert, dass Vergleiche auf der Ebene von Einzelvariablen nichts beweisen und auf blosse Materialanhäufungen hinauslaufen, wenn sie nicht in ein Modell eingehen können davon, wie denn Menschen überhaupt in ihren Kulturen zusammenleben. Einige Sozialpsychologen suchen die Bedingungen des Zusammenlebens nicht länger alleine in den Köpfen der Individuen, ihren Meinungen, Einstellungen und Konzepten, sondern beginnen sich für das zu interessieren, was tatsächlich im Informationswechsel zwischen Menschen geschieht und in Zeichenstrukturen sich niederschlägt und so auch später wirksam werden kann. In der Kognitionsforschung mehren sich die Hinweise darauf, dass Denken, Problemlösen, Planen, Handeln mindestens so sehr, wenn nicht eher noch mehr, zwischen den Menschen als in ihnen stattfindet oder, wie es Charles Peirce schon 1868 auf den Punkt gebracht hat: "Just as we say that a body is in motion, and not that motion is in a body, we ought to say that we are in thought, and not that thought is in us." (The Essential Peirce, Indiana U.Press, 1992, 1:42). So könnte unsere "culture free" Konzeption der Intelligenz zu ihrem Jahrhundertjubiläum vielleicht besser beerdigt und neu und eigentlich als die Kulturfähigkeit verfasst werden. Immer mehr Wahrnehmungspsychologen werden sich fragen, wie sie denn die Wahrnehmung kultureller Situationen und Verläufe angemessen untersuchen könnten und dabei vielleicht realisieren, dass ihre Paradigmen und experimentellen Vorgehensweisen von Helmholtz und Fechner bis Stevens und Gibson nichts anderes als eine bestimmte Kultur von menschgemachten Stimulus-und-Response-Arrangements darstellen; dass andere Auffassungen möglich sind; dass man nicht anders als in einer bestimmten Forschungskultur operieren kann. Persönlichkeitspsychologen sehen zunehmend klarer, dass die vorherrschenden, so selbstverständlich scheinenden Konzeptionen der individuellen Person und des eigenen Selbst Konstruktionen einer bestimmten Kultur und Epoche sind, zum Teil auf "Propaganda" beruhend und vielleicht bestimmten Interessen dienend und anderen, vitalen und humanen, entgegenstehend. Und (Handlungs-)Psychologen werden vielleicht in wachsender Zahl entdecken, dass die weltverändernde Kraft menschlicher Tätigkeit nicht so sehr auf dessen Bedingungen und Planungen in den Köpfen von Individuen beruht, sondern vor allem in den Wirkungen liegt, die sie direkt und vor allem über die Beeinflussung anderer in den Kulturen koordinierten Handelns ausübt. Wenn uns denn noch ausreichend Zeit bleibt, um aus einer Kultur umweltübernutzenden, lebens- und würdezerstörenden Amoks in eine solche uns zu wandeln, welche darin human ist, dass sie für die Menschen eine angemessenene Stellung in der Welt erringt und kultiviert!

Solche und weitere Realitäten und Visionen möglicher Entwicklungen in der Psychologie werden hier evoziert in der Absicht, auf das wachsende Unbehagen und die Existenz und die Möglichkeit von Aufbrüchen in dieser Wissenschaft aufmerksam zu machen. Obwohl manches davon nicht bis in die regulären Zeitschriften und kaum etwas bis in die Lehrbücher des Faches dringt, brodelt es in der Psychologie. Eine jüngere Generation von klugen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern spüren, dass das eigentliche Studium der Menschen der Mensch ist; und sie halten das Dilemma (nicht länger) aus, am Menschen vorbeiforschen zu müssen, wenn sie es in diesem Fach zu etwas bringen wollen.

Je nach dem wie man die Kriterien setzt, lassen sich heute gut und gern einige Dutzend Ansätze ausmachen, mit denen versucht wird, diesen oder jenen Mängeln der geschlossenen wissenschaftskulturellen Tradition "Psychologie" des 20. Jahrhunderts Fenster und Türen zu öffnen. Dazu zählen ein oder zwei Dutzend Prominente, von Jerome Bruner bis Ernst Boesch, von Gustav Jahoda bis Michael Cole, von Serge Moscovici bis Richard Shweder und aber auch viele weniger Bekannte und Unbekannte mehr. Auf dem Hintergrund dessen, was "Pioniere" aus zwei Jahrhunderten errungen und verfehlt haben, sollten wir bewusst eine Periode des spielerischen Entwerfens und Ausprobierens der verschiedenartigsten Denkmodelle über Menschen in ihrer Kultur ansetzen. Wissenschaftler mit Ideen brauchen - wie neue Spezies in der Bioevolution oder Angebote zum kultrellen Wandel -- beides: geschützte Nischen, in denen sie sich konstituieren können, und Plattformen, auf denen sie sich dem Vergleich und der Bewertung, letztlich der Selektion, aussetzen können. Im heutigen Wissenschaftsklima werden Nischen verhindert und verleugnet und Plattformen sind Konkurrenzkampfstätten mit Türhütern. Hier andere Wege zu fördern, könnte eine vornehme Aufgabe dieser Gesellschaft sein. Ich zweifle nicht daran, dass viele Fachkolleginnen und -kollegen auf solche Gelegenheiten warten und sich trauen, wenn sie Vertrauen fassen können.

So formuliert haben diese Aufgaben vielleicht eine betont wissenschaftliche und gar theoretische Orientierung; sie sollen aber nicht losgelöst von der Bearbeitung kulturbezogener Praxis angegangen werden. Es wird wichtig sein, die aktuelle Arbeit der Mitglieder in diese Themenkreise einzubinden. Die Versammlung, welche dieses dreifache Programm in seinen Grundzügen entworfen hat, war der Ansicht, die Gesellschaft müsse, um eine eigene Identität zu gewinnen und mittelfristig innerhalb wie ausserhalb der Psychologie und ihrer Institutionen das ihr gebührende Ansehen gewinnen zu können, ihre Tätigkeiten zunächst an einem klaren und als solches wahrnehmbaren Programm orientieren. So dürfte im allseitigen Interesse der Mitglieder und ihrer Sache auch erwartet werden, dass die Mitglieder versuchen, ihre Aktivitäten an einem solchen Programm zu orientieren.

Top of Page