Alfred Lang

University of Bern, Switzerland

Newspaper Column 1993

"Brüssel" gebremst -- Europa gerettet?

1993.28

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Bund-Kolumne. Der Bund (Bern) Nr. 278 vom 27.11.93, S.15

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Bald jährt sich der Tag der Abstimmung über den "Europäischen Wirtschafts-Raum" (EWR). Nach der misslungenen Überrumpelung bleibt die schweizerische Politik immer noch weitgehend in der Polarisierung von Pro und Kontra EWR und EG gefangen, in den hochstilisierten Hoffnungen und Ängsten aus den Abstimmungs-Kampagnen. Doch der Zankapfel hat inzwischen seinen Charakter geändert.

In der "Europäischen Gemeinschaft" (EG) hat sich seit dem anfänglichen Nein der Dänen Etliches getan. Nicht das formelle Inkrafttreten des Maastrichter Vertragswerks und ihre Neutaufe in "Europäische Union" (EU): das schlug keine Wellen mehr. Sondern die Einstellungsänderungen bei einer wachsenden Zahl von Menschen europaweit. Zwar beherrscht Propaganda weiterhin das Feld der Politik. Und die Medien verstärken sie immer noch, analysieren sie nur selten. Dennoch wächst die Einsicht, dass jene Planungen für einen halben Kontinent denkbar unrealistisch gewesen sind. Die Wirklichkeit hält sich eben nicht gern an Pläne, widerlegt sie nicht selten brutal.

So ist jetzt die Währungsunion als Hirngespinst entlarvt. Die politische Union ist schon im Ansetzen gründlich entzaubert, wie am Spiel partikulärer Interessen in Südslawien, beim GATT-Vertrag oder beim Verhandlungsmandat mit der Schweiz sichtbar wurde. Wachstumseuphorie und Mobilitätswut werden durch die Arbeitslosigkeitsraten, durch die Ozonlöcher, durch Schuldenberge, durch Korruption der groben und der feinen Art, und am augenfälligsten durch die zunehmende Armut und die anschwellende soziale Unrast laufend widerlegt. Delors und sein Trust sind gründlich gescheitert. Dass er seine Amtszeit aussitzen darf, ist Höflichkeit, wie sie auch Mitterand oder Schweizer Regierungsmitglieder geniessen. Es besteht ja unmittelbar kein Handlungsbedarf; das Amt ist ohne Gewicht. Es besteht auch keine weitreichende Handlungskompetenz mehr, weder formell noch wirklich; die nationalen Interessen gehen sowieso vor, wo immer es geht. Die Chancen für ein klügeres Europa sind indessen beträchtlich angestiegen.

Ist Europa, ist die Schweiz damit gerettet? Mitnichten. Es sind bloss die Spiesse der Kontrahenten etwas gleicher geworden. Der anfängliche Vorsprung der Eurotechniker hat sich in ein Handikap der Vorgeprellten verwandelt. Aber wir haben mit Flucht nach vorn der frustrierten Funktionäre zu rechnen.

Dennoch sind im ganzen die Chancen beträchtlich gestiegen, dass europäische Integration jenen Weg gehen kann, den sie verdient, nämlich den demokratischen. Von unten her errungen, anstatt von oben her verordnet, mit Propaganda und Drohung verbreitet und gegebenenfalls aufgezwungen. Von allen vielfältigen Kräften des menschlichen Lebens bestimmt, anstatt allein vom Geld und von seinem Zweck der Selbstvermehrung.

Was wollte und will "Europa'? Die europäischen Organisationen haben ursprünglich dem Wiederaufbau nach dem Krieg und vor allem der Verhinderung ähnlicher Katastophen für alle Zeit gegolten. Dies wurde auf dem Weg der wirtschaftlichen Zusammenarbeit angestrebt, mit der Hoffnung auf Absicherung durch monetäre und politische Bindungen. Das Programm wurde ein beispielhafter Erfolg.

Mit dem Nachteil freilich, dass es sich inzwischen selbst widerlegt. Das Programm hat nämlich zwei unerwartete Wirkungen hervorgebracht. Erstens ist der wirtschaftliche Aufschwung so mächtig geworden und hat sich über den Erdkreis ausgebreitet, dass der Planet es nicht aushält. Zweitens haben das Niveau von Wissen und Bildung und hohe Selbständigkeit von Menschen eine so starke Verbreitung erfahren, dass immer mehr Menschen sich wehren, weiterhin am Gängelband von Mächtigen oder von normativen Zwängen geführt zu werden. Überdies sind, drittens, durch die Wende von 1990 wesentliche Voraussetzungen des Brüsseler Modells weggefallen: Deutschland ist nicht mehr geteilt, sondern wirtschaftlich bald wieder mächtiger denn je. Das alles fordert ein grundlegendes Überdenken der europäischen Integration nach ihren Zielen und Mitteln.

An den ökologischen und sozialen Folgen der Ausbreitung des Überreichtums der industrialisierten Länder auf den Rest der Welt kann man nicht mehr vorbeigehen. Programmen, welche angeblich das Gefälle zwischen kontinentalen oder globalen Regionen ausgleichen, tatsächlich aber eher den Reichtum der Reichen noch mehr vermehren und zugleich die Lebensgrundlagen aller gefährden, müssen geächtet und beendet werden.

Das ist nur denkbar in einem politischen System, in dem möglichst viele kluge Menschen möglichst viel Einfluss beanspruchen und dafür Verantwortung übernehmen wollen. Dann werden sie nämlich jene Gesichtspunkte durchzusetzen suchen, welche ihre eigene Verantwortlichkeit bestimmen. Funktionäre verantworten ihr normales Handeln nicht; das ist ihnen durch ihren anonymen Auftraggeber abgenommen. Wir brauchen mehr Menschen in öffentlichen Rollen, welche längerfristige Orientierung von kurzsichtigen und partikulären Zielen zu unterscheiden vermögen und ihre Verantwortung wahrnehmen wollen. Der Schwerpunkt unserer Zukunft liegt in unserern Werthaltungen, weder in politischen noch in wirtschaftlichen Programmen.

Verantwortliche Einflussnahme von Menschen aufeinander setzt eher kleinräumige Sozialsysteme voraus. Die fürchterliche Macht von "denen da oben", in Bern oder in Brüssel, besteht ja hauptsächlich darin, dass sie so viele so leicht ohnmächtig macht. Genau so sind aber die menschgemachten Katastrophen immer entstanden, mit Hilfe von Männern, welche ausserhalb persönlicher Verantwortlichkeit, im Auftrag eben, handeln konnten. Durch soziale Organisation, welche solches ermöglicht, ja erleichtert und gar fördert. Und solche "Funktionäre" sind wir ja fast alle geworden in unseren durchorganisierten Institutionen der Arbeitswelt und der öffentlichen Sache.

Die Schweiz ist ein wesentlicher Teil von Europa. Von was für einem Europa? Ich denke: von einem Europa, in dem jede und jeder von uns sowohl Bümplizer wie Berner wie Schweizer und Europäer zugleich sein kann, und das alles auf eine Weise, welche ihm oder ihr selbst wie auch den Gruppen seiner Zugehörigkeit verantwortungsvoll gerecht wird. Die gleiche Frage stellt sich für die Menschen aller europäischen Regionen. Jetzt ist die Zeit zum Reden über ein besseres Europa, bevor uns wieder falsche Fragen zur Abstimmung vorgelegt werden.

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