Alfred Lang | ||
Newspaper Column 1993 | ||
Reibungsloser Generationendialog? | 1993.23 | |
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Bund-Kolumne. Der Bund (Bern) Nr. 42 vom 20.2.93, S.15 | © 1998 by Alfred Lang | |
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Das Berner Universitätsgesetz geht in Revision. Die rechtlichen und organisatorischen Rahmenbedingungen sollen den heutigen Bedingungen angepasst werden.
Die Berner Uni ist ein Betrieb mit 10'000 Studierenden, 3'500 Mitarbeitern und nahezu einer halben Milliarde Franken Aufwand pro Jahr. Die Nettokosten für den Kanton betragen freilich nur gut die Hälfte. Die Aufwandquote im Staatsbudget ist erstaunlich gering (netto unter 5%) und sinkend (Staatsausgaben in den letzten 10 Jahren verdoppelt, Uni-Ausgaben nur anderthalb mal mehr). So ein Grossbetrieb benötigt nach der Meinung der Verantwortlichen ein effizienteres Management. Die Reibungverluste seien zu vermindern.
Das nur als Hintergrund für den Wirklichkeitsinn. Denn nun möchte ich Ihren Möglichkeitssinn ansprechen. So nennt Robert Musil jenen anderen Zustand von Menschen, aus dem sich unsere Wirklichkeit erzeugt.
Universitäten sind so etwas wie Stabsstellen, mit deren Hilfe Gesellschaften ihre Lage und ihr Herkommen beobachten und ihre Zukunft erwägen. Sie vereinigen Wissenschaft und Bildung. In der Forschung ringen die Besten um die gültigsten Einsichten. Als Bildungsanstalt ist die Uni ein wissenschaftsorientiertes Forum, auf dem die Klügsten der jüngeren Generation sich mit den Erkenntnissen und Grundsätzen der älteren auseinandersetzen: Wie sehen die denkbaren Optionen für die Zukunft des Zusammenlebens aus? Was für Systeme bilden die Teile der Wirklichkeit? Was bergen sie in sich, wie wirken sie zusammen und wie sind sie zu bewerten?
Der Dialog zwischen den Generationen in der Modellwelt des Denkens ist das unentbehrlichste "Gespräch" der Gesellschaft mit sich selbst. Wie ja auch ein Kind nur in der Auseinandersetzung mit Eltern sich selber werden kann. Universitäten sind, neben den Künsten, wohl die bedeutendsten produktiven Reibungsflächen unserer gesellschaftlichen Selbstregulation.
Denn es braucht wohl Wärme, wenn Menschen aneinander reifen wollen und wenn dabei was Rechtes "gekocht" werden soll. Menschliche Wärme ebenso wie zur Erhitzung von Kreativität und Kritik. Die Leitidee der Uni ist Belegswettbewerb und Argumentenstreit zum bestmöglichen Verständnis von Mensch und Welt. Im sogenannten Seminar, der raffiniertesten aller Bildungsformen, tragen zum ausgewählten Thema alle Beteiligten eines überschaubaren Kreises ihre Kenntnisse und Ideen vor. Jeder setzt sich dem Risiko aus, vom besseren Argument oder Beleg widerlegt zu werden; jede erhält die Chance, eine angebliche Wahrheit zu vertiefen, zu korrigieren, zu erneuern. Wer nicht mit den Besten mithalten kann, ist fehl am Platz. Dass sie einander auszustechen versuchen, ist nicht das Ziel, sondern das Mittel -- eben die erforderliche Erhitzung -- zur Annäherung an die derzeit gültigste Einsicht.
So könnte und sollte es wohl sein. Wenn man die Uni nicht weitgehend zu einer wohlgeölten Reproduktionsstätte der Fortschrittstradition umfunktioniert hätte. Zu Schulen zur Züchtung all jener unentbehrlichen Spezialisten, welche die Glieder der Ketten bilden, die uns alle gefangenhalten und auf den Strassen des Wachstums unaufhaltsam weiterzerren und -treiben.
Praktisch alle wissenschaftlichen Disziplinen, deren Forschungs- und Ausbildungsprogramme den Alltag der Universität bestimmen, haben sich ja zu einem gewissen Ausmass kanonisiert. Wie die Kirchen in ihrem Dogmen-Kanon haben sich die Angehörigen eines Faches auf die Liste jener "Wahrheiten" geeinigt, an die jeder Psychologe, jede Medizinerin, jeder Chemiker oder jede Ökonomin glauben muss, um als eine solche oder als ein solcher zu gelten.
Tatsächlich haben sich viele dieser heiligen Sätze in mancher Hinsicht bewährt. Aber viele erweisen sich bald als falsch, und keine währen ewig. Die Wahrheit ist halt nichts als das Ergebnis von Streitgesprächen, die morgen mit besseren Thesen und weiteren Belegen anders ausgehen können. Gelegentlich revolutioniert sich eine Wissenschaft, durch Kräfte von innen oder von aussen, nicht viel anders als Kirchen oder Staaten auch.
In der real existierenden Uni von heute ist aber die Generationreibung degeneriert. Die einen reiben, die anderen werden gerieben. Dummerweise hat nämlich die Uni eine Zweitfunktion übernommen. Sie soll die jüngere Generation mit Rüstzeug versehen und auch noch gerade bewerten, sprich: Examen abnehmen, Diplome ausstellen. Im Auftrag soll sie jene selektionieren, denen man diese oder jene Spezialistenrolle zutraut und an die guten Futterkrippen lässt. Das setzt einen Kanon prüfbaren Stoffes voraus. Dazu muss das Verhältnis zwischen Prüfenden und Prüflingen reglementiert werden. Der Generationendialog ist dann gestört. Die einen werden zu Lehrern und Autoritäten, die andern müssen lernen, was man ihnen vorsetzt. Die Auftraggeber gewinnen unangefochten. Sie haben die Regeln gemacht.
Die Universität soll ihre Aufgabe im Dienste der Allgemeinheit erfüllen, fordert das gültige Gesetz. Ich wünsche dieser Allgemeinheit möglichst viele Studierende, die ihre Professoren dazu herausfordern, aus dem Schutz der selbstverfertigten Dogmen und Reglemente herauszutreten und sich dem Generationendialog zu stellen. Denn die Professoren können das nicht von selbst und die Gesetzesentwerfer noch weniger.