Alfred Lang

University of Bern, Switzerland

Magazine Contribution 1993  

Die Geistes- und Sozialwissenschaften bekommen ihr Haus!

1993.19

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Einleitung zu einer Unitobler-Broschüre zur Eröffnung der Unitobler, hrsg. von Alfred Lang. Bern, Uni-Intern (Pressestelle der Universität), 1993. Pp. 1-2

© 1998 by Alfred Lang

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Im Frühjahr sind wir eingezogen: aus dreizehn verstreuten Häusern in den Unitobler; sechzehn wissenschaftliche Institute mit ihren Abteilungen und angegliederten Forschungsstellen in ein grosses Haus. Um die 400 Mitarbeiter und über 3000 Studierende. Aus der Schokoladenfabrik ist nicht ein Denkmal, sondern ein Denk-Haus geworden.

Und die meisten sind glücklich über das Gewonnene. Die Anstrengungen des Umzugs waren aufwendig: eine gute halbe Million Bücher und Zeitschriftenbände, rund 250 Arbeitsräume und Forschungseinrichtungen und sonst noch dies und das. Mancherlei Provisorien, durchdringendes Bohren und Hämmern, scharfe Farbgerüche und andere Anfangsmühen mussten ausgestanden werden. Aber jetzt ist der Alltag eingekehrt. Die meisten sagen, sie arbeiten gern im Unitobler. Eine interessante Erfahrung, dieses allmähliche Heranwachsen von Zustimmung und Solidarität. Aus Betroffenen sind Beteiligte geworden und schliesslich -- das braucht noch etwas Zeit -- Mitgestalter des gemeinsamen Hauses. Die Geisteswissenschaften werden öffentlich präsent.

Wie war das schon? Mehr als 30 Jahre ist es her. Einer meiner ersten Aufträge als Assistent war es, ein Raumprogramm des Instituts für den geplanten Neubau auf dem Viererfeld zu erarbeiten. Später hätten wir auch mal aufs Land nach Riedbach verpflanzt werden sollen. Wir haben uns gelitten, in oft grosser Enge und verstreut über die halbe Stadt, immer wieder Umzüge, immer neue Provisorien...

Dann kam die grosse Chance. 1982 kaufte der Kanton das Areal der ausziehenden Schokoladenfabrik in der Längasse. Wir verdanken es dem beharrlichen Drängen eines kantonalen Planers, dessen Argumente so gut waren, dass sie die Regierung überzeugten. Und nun setzte ein einmaliger Planungsprozess ein. Ein überzeugendes Architektenteam und ihre Mitarbeiter; eine so kluge wie tüchtige und einsatzfreudige Schar von Fachleuten aus der kantonalen Baudirektion , der Erziehungsdirektion und der Universitätsverwaltung; bunte Delegationen von Professoren, Assistenten und Studierenden aus den betroffenen Fächern: in hunderten von Sitzungen rauften sie sich immer wieder zusammen und produzierten nicht nur Papierberge, sondern schliesslich auch die beste aller wirklichen Utopien: das Projekt Unitobler. "Unitobler", so nannte sich fast natürlicherweise diese Fortsetzung eines Quartier-Wahrzeichens in anderen Umständen. Unitobler wurde zum heissgeliebten und verwöhnten Kind einer Gemeinschaft von Eingeschworenen.

Kein Hochhaus-Neubau, sondern die Aneignung und Erneuerung gewachsener Anlagen im Quartier; kein Luxus-Palast, aber stützende und begeisternde Arbeitsbedingungen für Forschung und Studium; ein organisches Ganzes, in dem man in der Denkzelle der kleinen Gruppe intensiv arbeiten und doch zugleich im Konzert von vielerlei Disziplinen seine Anregungen und seine Partner zur Verbesserung, zur Vervollständigung, zum Wettstreit seines Wissens und seiner Ideen begegnen konnte.

Das Projekt passierte den Grossen Rat des Kantons mit viel Einsicht und viel Glück. Auch die städtischen Instanzen, Volk und Behörden, gaben ihre Zustimmung, obwohl es Kräfte gab, die das Fabrikgebäude lieber in (zu teure) Wohnungen umgewandelt hätten. Würde es die kantonale Volksabstimmung überleben? Es ging immerhin um rund 90 Millionen Franken, das Grundstück eingeschlossen; die Hälfte davon allerdings zu Lasten der Eidgenossenschaft. Es sind jetzt, mit einem Zusatzkredit für die Sozialwissenschaften und der Teuerung, sogar über 100 Millionen geworden. Für einen Luxus wie die Geisteswissenschaften?

Das Hauptargument für Unitobler leuchtete bei vielen Politikern und Journalisten sofort ein: diese Kulturwissenschaften, die da über Sinn und Gehalt unserer Lebensformen nachdenken, deren Herkunft und Zusammenhang aufzeigen und mit ihren Formen und Werten umzugehen lehren, müssen endlich kräftiger auftreten und öffentlich sichtbare Anerkennung finden. Hat nicht unsere Gesellschaft seit gut hundert Jahren viel zu ausschliesslich auf die unmittelbare Nützlichkeit der Wissenschaften gesetzt? Mit unserem Glauben an den Fortschritt und die Machbarkeit der Welt sind wir aber vielleicht in eine Sackgasse gefahren. Die Trennung von "Nutzen" und Sinn", von "Machen" und "Bewerten", erweist sich je länger je deutlicher als verhängnisvoller Irrtum. Mit einem eigenen und sichtbaren Haus könnte man die Zusammenarbeit dieser Wissenschaften verbessern und vor allem ein Zeichen setzen für ein besseres Gleichgewicht. Die Gesellschaft braucht die Geisteswissenschaften -- diese Wissenschaften von der Gesellschaft und Kultur brauchen ein Haus!

Es gab auch sonst noch gute Argumente. Mit Unitobler könnte man die Studierenden und die Kulturwissenschaften in der Stadt behalten, wo sie hingehören; nicht in die künstliche Welt eines grünen Campus verpflanzen. Und Unitobler war unglaublich günstig: der Kanton investierte in Gebäudekosten (auf Basis 1983) pro Gymnasiast oder Seminarist 50'000 Franken; im Unitobler pro Student würden es bloss 22'000 Franken sein, die Forschung noch nicht einmal berücksichtigt. Und rechnet man den hohen Zuwachs an Studierenden seither und gerade in den Unitobler-Fächern noch dazu, so sind es heute weniger als 20'000 Franken pro Student.

In der Abstimmungskampagne setzten sich neben manchen Politikern und der Universität als ganzer und ihren Freunden unter anderen auch dreissig Persönlichkeiten ("Kulturträger") aus allen Sparten des bernischen geistigen Lebens auf einem grossen Plakat für das grosse Haus ein. Die kantonalen Stimmbürger hiessen das Vorhaben in der Volksabstimmung vom 7. Dezember 1986 mit über 70% Ja gut. Die Detailplanung begann und zwei Jahre darauf setzte der Baubetrieb ein. Ein Vorhaben von ungewöhnlicher Komplexität.

Das Herz der Anlage bilden die Bibliotheken der Fächer der philosophisch-historischen Fakultät im "alten" Fabrikgebäude von 1898 und seinen Erweiterungen: ein "offenes Labyrinth" ungezählter Sachgruppen von Büchern und die zugehörigen Leseplätzen, aufgetürmt auf 22 Plattformen und ihren Annexen in Keller und Dach, mit Brücken und Treppen untereinander und mit den Instituten verbunden. Hier wird vielleicht am besten sichtbar und fühlbar, was die meisten Mitglieder der im Unitobler vereinten Wissenschaften suchen. Es ist die Intimität des Denkens im eigenen Fach in Verbindung mit der freien Auseinandersetzung mit den anderen, den engeren oder weiteren Nachbarn. Oder wie die Fakultät in einer Planungsunterlage geschrieben hat: die Wahrung und Pflege der je eigenen Identität der Seminare und Institute bei gleichzeitiger Betonung ihrer Einbindung in einen grösseren Zusammenhang des Denkens über den Menschen und seine Welt.

Weltweit zeigt Erfahrung, dass die problematischen Nebenwirkungen des übermässigen Wachstums der Universitäten durch maximale Funktionalität der Einrichtungen und organisatorischen Massnahmen nicht recht aufgefangen werden können. Vielmehr beruht ein gedeihliches Studium und eine hochstehende Forschung letztlich auf direkter und intensiver persönlicher Zusammenarbeit. Räumliche Rahmenbedingungen können diesen Dialog ganz erheblich stützen und fördern. Unitobler hat, bei beträchtlicher Grösse der Gesamtanlage, ein menschliches Mass. Der Bau vereint auf gelungene Weise Grosszügigkeit mit Kleinräumigkeit.

Um dieses Herzstück der Bibliothek herum gruppieren sich auf fünf Stockwerken die Arbeits- und Forschungsräume der verschiedenen philosophisch-historischen Wissenschaften und deren Dekanat. Diese Fakultät mit insgesamt 51 vollamtlichen Professuren umfasst noch sieben weitere Fächer, die im Unitobler aus unterschiedlichen Gründen nicht Platz gefunden haben, zum Teil aber wenigstens in der Nähe sind (Kunstgeschichte, klassische Archäologie, vorderorientalische Archäologie und altorientalische Sprachen, Ur- und Frühgeschichte, Pädagogik, Musikwissenschaft und Theaterwissenschaft).

Im ursprünglichen Tobler-Verwaltungsgebäude an der Längasstrasse (von 1933) werden die beiden theologischen Fakuläten mit 13 Professuren und ihren Mitarbeitern einziehen, sobald die jetzt dort untergebrachten Informatik-Abteilungen ins Areal des alten Tierspitals umgesiedelt sind; es wird derzeit für deren Zwecke erneuert. In den oberen Geschossen des "neuen" Fabrikgebäudes am Lerchenweg (von 1951) -- ursprünglich für eine städtische Berufsmittelschule vorgesehen -- sind mit 5 vollamtlichen Professuren drei sozialwissenschaftliche Fächer und deren gemeinsame Bibliothek eingezogen. Sie gehören der rechts- und wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät (RWW) an, von ihren Aufgaben her pflegen sie enge Verbindung mit manchen Fächer der phil.-hist. Fakultät.

In den unteren Geschossen der "neuen Fabrik" befinden sich die Hörsäle und Seminarräume für den Unterricht, von zwei Pausenräumen mit vielen Diskutiernischen erschlossen. Im Untergeschoss des "alten" Fabrikteils ist die Basisbibliothek Unitobler, eine Filiale der Stadt- und Universitätsbibliothek eingezogen, welche zusammen mit dem im Aufbau begriffenen Medienlernzentrum den Studierenden aller Fächer vielfältige Materialien und Arbeitsplätze anbietet.

Nicht zu vergessen für das leibliche und gemüthafte Wohlergehen aller Nutzer und Gäste die Cafeteria mit der sonnigen Terrasse und der heranwachsende Platanenhain mit dem "Hexenhäuschen" für die Organe der Studentenschaft. Im Schatten der Bäume, wenn sie einmal gross geworden sind, sollen uns wandelnd und redend die besten Ideen kommen. Park, Terrasse, Cafeteria und auch die Basisbibliothek sind öffentlich zugänglich; auch die Fachbibliotheken, in erster Linie die Arbeitsbasis der Hausbewohner, sind auf Anfrage nutzbar. In diesem zweiten Zentrum der Gesamtanlage stehen schliesslich die sieben überlebensgrossen und herrlich bunten Tonfiguren von Elisabeth Langsch, in deren Schatten sich gut sein lässt. Wer imm er zum "Kuss" bereit ist, wird hier seine Muse finden

Was geschieht in diesem grossen Denk-Haus? Schwer zu sagen, wenn man nicht selber daran teilnimmt. Menschen von jung bis alt und beiden Geschlechts sitzen halt an Tischen, in Sesseln, an Computern oder um Tische herum und lesen und schreiben und reden und reden und ... Und wachsen an Verstand und hoffentlich auch an Weisheit. In den nachstehenden 16 Beiträgen haben einige von ihnen versucht, einen Einblick zu vermitteln, wovon wir denn nun die ganze Zeit reden und träumen.

Alfred Lang, Beauftragter der Fakultät

Illustrationsvorschlag: das Abstimmungsplakat von 1986 mit den 30 "Kulturträgern" in Bild und Unterschrift

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