Alfred Lang | ||
Symposium Report 1993 | ||
Psychologie und Semiotik -- Zeichensysteme und -prozesse Ein Arbeitsgruppen-Bericht | 1993.07 | |
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Pp. 607-608 in: Leo Montada (Ed.) Bericht über den 38. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychologie 1992 in Trier. Bd. 1. Göttingen, Hogrefe. | © 1998 by Alfred Lang | |
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Psychologie und Semiotik sind Wissenschaftsgebiete mit einer langen Vergangenheit und und einer kurzen Geschichte. Beide beanspruchen trotz ihrem bunten Pluralismus mit Recht einen zentralen Platz im Gesamtfeld der Wissenschaften, akademisch und praktisch. Will die Psychologie das Handeln der Menschen aufklären, so untersucht die Semiotik Zeichen, also zur Hauptsache das, was Menschen herstellen und aufnehmen. Wahrnehmen und Handeln, insbesondere in der Kultur, also Zeichenprozesse, bestimmen aber nicht nur das Schicksal der Menschen, sondern auch das der Erdoberfläche.
Dennoch geniessen beide Disziplinen nicht ungetrübtes Ansehen, und sie haben ein gestörtes Verhältnis zueinander. Nur sehr wenig Psychologen beachten die Semiotik überhaupt. Viele Semiotiker jedoch interessieren sich für Psychologie, einige suchen gar psychologistische Begründungen der Zeichenprozesse. Aber nicht wenige machen sich ihre eigene Psychologie.
Am Psychologenkongress in Trier sind eine Gruppe von Semiotiker-Psychologen zusammengekommen, um anhand ihrer Forschungsarbeiten zu prüfen, auf welche Weise die beiden Wissenschaftsfelder füreinander fruchtbar gemacht werden können. Der Arbeitsgruppe und ihrer Zielsetzung wurde von den Zuhörern ein wohlwollend-kritisches Interesse entgegengebracht. Im gleichen Geist, so darf man vermuten, ermöglichten die Kongress-Veranstalter die Einladung eines interdisziplinären Diskutanten. Der psychologisch bestens informierte Philosoph Dr. Helmut Pape (Montjoi/Hannover), der unter anderem als Übersetzer und Herausgeber der semiotischen Schriften von Peirce bekannt geworden ist, übernahm diese Rolle mit Bravour und zu allgemeinem Gewinn.
Von den sechs geplanten Beiträgen musste derjenige von Niels Galley (Köln) leider ausfallen; zum grössten Bedauern der Teilnehmer, da er kritische Fragen zur beliebigen Ausweitung des Gebrauches semiotischer Terminologie zu stellen gedachte. Klaus Landwehr (Wuppertal) sah sich genötigt, anstelle der geplanten analytisch-semiotischen Untersuchung zum Verhältnis von Wahrnehmung und Sprache, aus einem mehr pragmatischen Thema zu referieren, nämlich zum Aufbau und zum Wandel des Systems der Strassenverkehrszeichen. Er deutete sie im Sinne Gibsons als Affordanzen und analysierte gewisse Diskrepanzen zwischen Bedeutungs- und Zeichenordnung. Der Beitrag wird in der Festschrift für Martin Krampen erscheinen.
Eine sehr anregende Analyse eines erst seit kurzem sich neu herausbildenden Zeichensystems, nämlich der sogenanten "Icons" auf dem Computer-Bildschirm, leistete René Jorna (Groningen). Verbessern diese von Apple vor knapp 10 Jahren in breiten Umlauf gebrachten und seither von andern Software-Häusern übernommenen Darstellungsformen von Programmen, Daten, Werkzeugen oder Systemzuständen die Interaktionsprozesse zwischen Nutzer und Computer? Wenn ja, in welcher Weise? Und wie lässt sich dieser emblematische Zeichengebrauch theoretisch einordnen? Die typischen Argumente für Icons erweisen sich allesamt als schwach bis falsch. Sie sind keine Abbilder, sondern wie Sprachteile sind sie Symbole und wie Wörter kontextabhängig, entbehren aber einer differenzierteren Syntax und sind nicht leichter lernbar. Der einzige Vorteil ist ihre leichtere Manipulierbarkeit. Besser als Wörter eignen sie sich und laden gewissermassen zum Draufzeigen und Herumschieben ein. Sie sind stellvertretendeObjekte, konstituieren zwar ein System aber kaum eine Sprache. Als Zeichen sind sie eher Indices, überwiegend symbolisch und schwach ikonisch. Ihre Einordung in das insgesamt visueller Sprachzeichen bleibt noch zu leisten.
Die Frage, was denn eigentlich, und wie und mit was für Folgen, durch solche Zeichen artifizieller Systeme repräsentiert wird, ist grundlegend nicht nur für den Umgang mit ihnen, sondern auch für jede Methodik. Für jedwede psychologische oder andere wissenschaftliche Untersuchung dürfte sie von wesentlich grösserer Bedeutung sein, als wir immer noch meinen. Sabine Kowal (Berlin, gemeinsam mit D.C. O'Connell, Georgetown) zeigte dies anhand der Probleme der sogenannten Transkription von linguistischen Ereignissen. Dabei sind die konkreten lautsprachlichen Äusserungen von Personen in Situationen die Primärdaten; sekundär lassen sich Konservationen auf Tonträgern herstellen; Auswertungen erfolgen in der Regel aufgrund von tertiären Repräsentationen, eben dem sog. Transkript. Dass dieser Vorgang der Datenreduktion theoriegeladen und psychologisch hoch komplex ist, eigentlich ebenso erklärungsbedürftig wie das Sprechen oder Lesen selbst, wurde erst neuerdings im Methodenbewusstsein prominent. Die volle Explikation eines Transkriptionssystems ist trotz seiner Konstruiertheit gar nicht leicht, wäre aber bei der Interpretation jeglicher damit gewonnenen Befunde in Rechnung zu stellen. Sind Gesprächstranskripte wirklich "Transkript", also ikonisch oder den Pirmärdaten strukturgleich; oder sind sie eher "Deskription", d.h. symbolische oder konventionale Darstellung ausgewählter Aspekte des Gesprächsverhaltens; oder sind sie blosse "Präsentation", d.h. Versuche mittels besonderer Hilfszeichen die Orientierung des Transkriptlesers zu verbessern? Frau Kowal vertrat die These, dass die gegenwärtig verfügbaren Transkriptionssysteme überwiegend reine Deskriptionssystem seien, welche Tertiärdaten von nur entfernter Ähnlichkeit mit ihren Zielereignissen erzeugen. Überzeugend belegte sie dies anhand verschiedener Vorschläge, den Zeitverlauf des Sprechens im Transkript darzustellen. Transkription ist Theorie (Ochs 1979)! Analysiert die Forschung Gespräche oder die Erzeugnisse ihrer Transkriptionssysteme? In der Diskussion wurde die Frage aufgeworfen, ob und wie Transkripte der Unterscheidung von Zeichen (types) und Zeichenereignissen (tokens) gerecht werden sollen und können. Sie wird durch die Separierung von semiotischer und psychologischer Zugangsweise eben gerade nicht gelöst, sondern erschwert. Beizufügen wäre die Umkehrung des Ochs'schen Satzes: Theorie ist Transkription, "Übersetzung" in einanderes Zeichensystem. Die Frage ist nicht, ob man weglassen will oder nicht, sondern ob und was man durch Weglassen verliert oder gewinnt.
Aus der Göttinger Forschergruppe um Andreas Müller (1992) berichtete Frau Micha Strack über ihre Untersuchungen zum Problem der Semiogenese. In weiten Teilen der Semiotik und der Kommunikationspsychologie wird die Existenz von Zeichensystemen (Codes) vorausgesetzt, obwohl deren Modifikation und letztlich ihr Ursprung nicht nur ein kulturhistorisches (man denke an Herder usw.), sondern auch ein konkret-aktuelles Problem darstellen (vgl. Jorna oder Kowal). Man kann das Problem auf die "Bootstrap"-Frage zuspitzen und mithin zu klären versuchen, ob und wie zwei einander völlig fremde Wesen in einer für beide völlig neuen Umgebung (two strangers in a strange world) in der Lage sind, eine Sprache herauszuentwickeln, mit der sie sich adäquat auf ihre Umgebung beziehen und einander verstehen können. Die psychologisch und erkenntnistheoretisch sehr bedeutsame Antwort der Göttinger Gruppe ist positiv. Sie stützen die These mit einem automatentheoretischen Modell, dessen Essenz nicht nur in Simulationen, sondern auch in einem Experiment dargestellt werden kann. Zwei Personen in Computerverbindung erfinden in einem kooperativen Begriffsbildungsversuch ohne Fremdfeedback von einer allwissenden Instanz anhand einer artifiziellen Welt (Elemente variierend in 4 binären Dimensionen) ihre je eigene "Sprache" (bestehend aus 4-bit Worten) über diese Welt und koordinieren sie in realtiätsgerechter Konvergenz zu "verständigem" gemeinsamen Gebrauch. Zeichensysteme sollten vermehrt in ihrer Genese untersucht werden. Auch das ein gemeinsames Projekt für dialogische Konversation von Psychologie und Semiotik. Behindern uns die schon gewohnten Sprachen?
In Form einer "Naturgeschichte der Zeichenprozesse" machte sich Arne Raeithel (Hamburg) das Insgesamt der Genese von Zeichensystemen oder der Kultur überhaupt zum Thema. Raeithels (1989) eigene Dreistufen-Vorstellungen auf der Basis des kulturhistorischen Ansatzes von Wygotski und Leontjew treffen sich in überzeugender Weise mit den Thesen des kanadischen Kognitionspsychologen Merlin Donald (1991). Die in den aktuellen Schriftkulturen prominenten sozialen und psychischen Selbst-Regulationssysteme auf Zeichenbasis, also das konventionale Symboldenken und -handeln, haben sich demnach nicht in einem Sprung herausgebildet. Vielmehr ist ein Fortschreiten in drei Kultur-Stufen anzunehmen. Vorausgesetzt sind instinktgetragene Interaktionsweisen und bei nicht-hominiden Primaten und bei homo habilis auch durch (0) Episoden-Erfahrung bestimmte Orientierungs- und Kommunikationsfähigkeiten. Dazu kommen nun während mehreren hunderttausend Jahren (I) ein vorsprachliches dramatisch-mimetisches Regulationsverfahren wie wir es auch heute nicht nur bei Kindern oder Behinderten oder auf dem Theater täglich beobachten können. Seit vielleicht 150 bis 200 Jahrtausenden werden durch die Sprachentwicklung der oralen und später auch der bildschaffenden Kulturen zusätzlich (II) mythisch-diskursive Zeichensysteme bedeutsam, ohne natürlich die älteren zu ersetzen. Erst seit ca. 15'000 Jahren sind mit der Entstehung der archaischen Agrargemeinschaften Darstellungs- und Interaktionsmöglichkeiten (III) symbolisch-gegenständlichen Charakters dazugekommen. Sie sind ganz wesentlich mit der Erfindung von Schrift und anderer externaler Zeichensystemen wie Zahlen oder Pläne verbunden, welche erfolgreich probeweises Operieren mit Symbolen erlauben und damit die Voraussetzung unserer "wissenschaftlich"-rationalen Regulationssysteme bilden. Diese semiotisch-psychologische Kulturgeschichte versteht mit Charles S. Peirce (1986ff.) Denken im weiten Sinn als Dialog mit sich selbst, innere und äussere Kommunikation als gleichartig.
Die bei allen Beiträgen rege Diskussion über Grundsätzliches und Einzelheiten war geprägt von einer wachsenden Überzeugung der Fruchtbarkeit des Perspektivenwechsels zwischen der individuums- und prozessbezogenen Sicht des Psychologen und der allgemein-strukturbezogenen Sicht auf Zeichenprozesse des Semiotikers. Auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Semiotik im Herbst 1993 in Tübingen soll deshalb das gemeinsame Gespräch eine Fortsetzung finden. Mittelfristig könnte ein Katalog von Problembereichen erarbeitet werden, in denen Psychologie und Semiotik mit wechselseitigem Gewinn bereits kooperieren. Der Stand dieser Dinge sowie die anstehenden Aufgaben wären reziprok aus den beiden Perspektiven darzustellen.
- Donald, M. (1991) Origins of the modern mind: three stages in the evolution of culture and cognition. Cambridge Ma., Harvard Univ. Press.
- Müller, A. (1992) On knowledge representing interacting systems. Pp. 271-305 in: Jorna, René J.; Heusden, Barend van & Posner, Roland (Eds.) Signs, search, and communication: semiotic aspects of artificial intelligence. Berlin, De Gruyter.
- Ochs, E. (1979) Transcription as theory. Pp. 43-72 in: Ochs, E. & Schieffelin, B.B. (Eds.) Developmental pragmatics. New York, Academic.
- Peirce, C. S. (1986, 1990, 1993) Semiotische Schriften. 3 Bände. (Übersetzt von Chr. Kloesel und H. Pape und mit Einleitungen von H. Pape.) Frankfurt a.M., Suhrkamp.
- Raeithel, A. (1989) Kommunikation als gegenstandliche Tatigkeit. Zu einigen philosophischen Problemen der kulturhistorischen Psychologie. Pp. 29-70 in: Knobloch, C. (Ed.) Kommunikation und Kognition Studien zur Psychologie der Zeichenverwendung. Münster Westf., Nodus.