Alfred Lang

University of Bern, Switzerland

Journal Article 1993

Warum wohnen wir eigentlich?

Zur Psychologie von Bauen und Wohnen

1993.06

@DwellTheo @Method

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Alfred Lang & Hubert Studer

Psychoscope Bd. 14 Nr. 9 vom November 1993, Pp.13-16. English abstract added.

© 1998 by Alfred Lang

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Inhalt

 

Einführende Gedanken zur Wohnpsychologie von Alfred Lang, unter Mitarbeit von Hubert Studer, vom Institut für Psychologie der Universität Bern. Obwohl wir, den Schlaf abgerechnet, wohl ein Drittel unseres Lebens "wohnen", kann nicht nur niemand genau sagen, was denn diese Tätigkeit nun eigentlich ist. Man hat sich auch bis vor kurzem mit ökonomischen, funktional-technischen oder ästhetischen Erklärungen zufrieden gegeben. Aber eigentlich ist die Psychologie wie keine andere Wissenschaft gefragt, dieses seltsame Geschehen dem Verständnis zu erschliessen. Warum wohnen wir eigentlich in Familien oder Gruppen? Und warum wohnen immer mehr Leute allein?

 


Inhalt

1. Was ist eine Wohnung?

Die Wohnung, das Wohnhaus behandeln wir gewöhnlich als einen Gegenstand. Sie ist durch Wände, Boden und Decke und allerlei Einrichtungen konstituiert und allerdings, wenigstens indirekt, an ein Stück Boden gebunden. Aber Menschen stellen sie her, handeln mit ihr und nutzen sie: wie andere Güter auch. Demgegenüber behaupten allerdings einige, sie sei ein besonderes Gut. Im heutigen Rechtswesen findet das gemischten Ausdruck: von ein paar Ausnahmen abgesehen (z.B. Schutz der Privatsphäre, Mietrecht) gilt sie aber schon wie irgend eine Ware.

Plausibel sagen wir auch, die Wohnung sei ein in bestimmter Weise strukturierter Raum: ein Stück Raum, aus dem übrigen Raum herausgetrennt, durch mehr oder weniger klar definierte Abgrenzungen, und dann seinerseits innerhalb räumlich gegliedert und inhaltlich angereichert, nicht nur durch Zimmerwände mit Türen, sondern auch durch die Ausstattung und Möblierung. Aber da kommen noch mehr Schwierigkeiten: wir alle wissen selbstverständlich, was eine Wohnung ist. Aber lässt sie sich klar und eindeutig definieren? Ich glaube nicht, wenn man nicht auf die willkürlichen Setzungen positiven Rechts zurückfallen will.

Zum Beispiel muss man die Wohnung als ein Gegenstück zum Raum um sie herum verstehen: keine Wohnung ohne eine Wohnumgebung; eine andere Wohnung je nach ihrer Nachbarschaft. Und was ihre Teile und Einrichtungen ausmacht, so sind diese nicht allgemein aufzählbar. Wir sagen: Zimmer zum Schlafen, zum Wohnen (!), zum Essen, zum Aufbewahren und Vorbereiten von Nahrung sowie für die Hygiene sind angeblich wesentlich, und es braucht offenbar Betten, Tische, Stühle, Schränke, Bilder an der Wand und Vorhänge an den Fenstern und viel anderes mehr.

Aber da ist noch einmal viel mehr, und das meiste davon nur bedingt oder überhaupt nicht unbedingt nötig. Das merkt man beim Zügeln. Und wirft doch nur wenig weg. Und wenn einem eingebrochen wird und alles durcheinander gebracht, so sagt man, man sei "im innersten getroffen". Und ist es. Selbst wenn gar nichts gestohlen worden ist.

Und schauen wir in das Wohnen anderer Kulturen oder in das Wohnen früheren Zeiten in unserer Kultur. Da kann alles ganz anders sein und doch wieder so eigenartig ähnlich. Die Nomaden schleppen ihre Wohnung mit Nötigem und Unnötigem gleich immer mit. Kasernierte Menschen oder Hotelabsteiger suchen wenigstens mit mitgebrachten Ersatzstücken etwas wie ihre eigene Wohnung zu simulieren. Wahrscheinlich gilt die allgemeine Aussage: alle Menschen bauen so etwas wie Wohnungen; und dann wohnen sie.

Behausungen bauen auch manche Tierarten, von den Ameisen über Krebse und Vögel bis zu den Höhlen von Dachsen und Füchsen. Unsere nächsten Verwandten, die Menschenaffen, bauen sich wenigstens ein Bett für jede Nacht. Während das Bauen der Tiere stark instinktgeprägt ist, also auf angeborenen Verhaltensmustern beruht, halten wir das Bauen der Menschen für kulturell bedingt. Das belegen die enormen Unterschiede der Bauweisen zwischen den Kulturen und den Zeiten.

Können wir Menschen demnach also beliebig bauen, wie wir eben Lust haben und wie es die Strömungen (um nicht zu sagen: die Moden) der Architektur uns nahelegen? Sind die Behausungen der vielen Menschen in den Städten, die seit dem 19. Jh. gebaut werden, rein rational entworfene und funktionale Gebilde in unserem Belieben? Instrumentelle Produkte, entwickelt und optimalisiert wie andere Produkte unseres Fleisses, und dazu bestimmt, unsere Bedürfnisse nach Schutz vor Witterung und anderen Menschen, unsere Bedürfnisse nach Alleinsein und Zusammensein, unsere Bedürfnisse nach Schönheit und nach Prestige, nach Auftrumpfen und nach Selbstverwirklichung und einige andere Zwecke mehr zu erfüllen? (vgl. Flade 1987).

Wäre also die Antwort auf die Frage, warum wir denn eigentlich wohnen, dass wir Wohnungen brauchen, um damit Grundbedürfnisse zu befriedigen? Da wir diese Bedürfnisse eigentlich nicht kennen, sondern eben gerade aus unseren Wohngebräuchen erschliessen -- also die Erklärung aus dem zu Erklärenden -- , würde uns diese Schein-Erklärung aufforderen: Konsumieren wir Wohnungen und Möbel und Wohnungskunst, wie es uns die Werbung der Häuserbauer, der Finanzinstitute und der Einrichtungshäuser glauben machen! Ist Bauen wirklich das Herstellen und Wohnen das Nutzen dieser Einrichtungen zum Zweck der Erfüllung beliebiger Bedürfnisse?

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2. Was ist denn Wohnen?

Ich denke, wir sollten aufmerken, wenn so plausible und dann doch nicht stimmige Auffassungen vertreten werden. Was mir weiter auffällt: während uns zum Reden über die Wohnung, dieses nutzbare Etwas, verhältnismässig viele und brauchbare Wörter verfügbar sind, lässt uns die Sprache weitgehend im Stich, wenn es um das geht, was in diesen Wohnung geschieht: das "Wohnen". Es scheint, dass jede und jeder eine eigene Vorstellung mit diesem Begriff verbindet. Raum wird offenbar dadurch zur Wohnung, dass man darin wohnt.

Reden wir also über das Wohnen. Man muss es tun und sollte doch wohl nicht allzu viel erwarten davon. Bittet man Leute zu beschreiben, wie sie wohnen, so bringt man sie in der Regel in Verlegenheit. Sie verlieren sich rasch in Allgemeinplätzen und sagen dann: aber das ist doch völlig klar, und überhaupt nicht interessant, und das kennt man ja. Oder sie stutzen und sagen vielleicht nach einigem Überlegen, das gehe eigentlich niemanden etwas an.

Nur ganz selten beschreiben Schriftsteller oder zeigen Filme das Wohnen (man verwechsle das jetzt nicht mit der Wohnung und der Einrichtung!). Sie implizieren es vielmehr. Das Wohngeschehen ist eben oft "bloss" der Hintergrund zu dem, was sie uns aus dem sozialen und psychischen Leben der Menschen darstellen wollen. Aber wehe, wenn die Wohnung nicht zur Seele passt oder der Umgang mit ihr nicht stimmt! Oder andersherum gesagt: im Theater und Film ist die Ausstattung eine Hauptrolle. Aus der Wahrnehmungspsychologie wissen wir freilich, dass wir der Figur ausgeliefert sind; dass der Grund nicht bis ins Erleben dringt aber natürlich die Wahrnehmung der Figur entscheidend mitbestimmt.

So denke ich dezidiert: es reicht nicht, über das Wohnen zu reden. Natürlich muss man es tun, in intensiven und extensiven Gesprächen; und mittels Fragebogen und anderen verbalen Verfahren lassen sich wichtige Informationen gewinnen. Aber ohne Beobachtung des Geschehens und ohne Aufnahme und Analyse von weiteren Daten, die das transaktionale Geschehen zwischen den Wohnenden und der Wohnung dokumentieren, lassen sich keine brauchbaren Einsichten gewinnen.

Die Psychologen haben das Wohnen erst vor wenigen Jahren zum Thema gewonnen. Und es scheint, dass sich die Mehrzahl von ihnen leider damit begnügt, die verbalen Spiegelungen des Wohnens zu untersuchen, wie ja überhaupt die Psychologie in weiten Teilen zu einer Befragungs- und Deutungspsychologie verkommen ist. Dem muss man aber nicht nur den Einwand der minimalen und mutmasslich entstellenden Darstellung des Wohngeschehens im Erleben und damit auch in der Verbalisierbarkeit entgegenhalten.

Man kann vielmehr mit guten Gründen argumentieren, wie später einsichtig werden wird, dass der Umgang mit Dingen und Raumteilen im sozialen Setting einer Wohnung und Wohnumgebung eigentlich selber den kommunikativen Charakter des "Sprechens" einer eigenen Form von Sprache oder Interaktion hat. Denn das meiste, was wir in der Wohnung tun, hat wie Gesprochenes potentielle Wirkungen auf die Mitbewohner und auf uns selbst, ist eine Art Dialog mit den andern und mit uns selbst mittels Dingen und Räumen anstatt Sätzen.

Nach allem was wir heute wissen, lässt sich die These vertreten, die "Wohnsprache" weise mit der Sprechsprache zwar manche Gemeinsamkeit, aber auch einige wesentliche Unterschiede auf, welche gerade eine simple Übersetzung der einen in die andere erschweren wenn nicht weitgehend ausschliessen. Es gibt Dinge, die lassen sich in einer Sprache sagen oder mit ihr bewirken, andere besser oder eigentlich fast nur in oder mit einer anderen.

Und warum sollten wir denn, wenn wir in einer Wohn-Gemeinschaft die "Wohnsprache" erfolgreich benutzen, diese immer auch noch parallel dazu oder gar vorgängig, in eine andere, die Erlebens"sprache" oder die Sprechsprache übersetzen? Das wäre ja wohl nicht nur unökonomisch, sondern möglicherweise sogar hinderlich. Ausser in jenen Situationen, wo man in der gewohnten Sprache nicht weiterkommt. Das Erleben wird ja im allgemeinen erst dann bedeutsam, wenn Wahrnehmungs- oder Verhaltensroutinen auf Hindernisse stossen. Das Wohnen ist aber zur Hauptsache eine zwar kulturell bedingte, aber dennoch wohl tiefsitzende Tätigkeit.

Die Wohnpsychologie hat zum Ziel, eine Art Grammatik und Wörterbuch der "Wohnsprache" zu entwickeln und natürlich damit auch zu zeigen, in welcher Weise das Wohnen eine eigene Art des interaktiven Sozialgeschehens und persönlichen Entwicklungsprozesses darstellt. Das ist eine langfristig anzulegende Aufgabe; wir stehen erst an ihrem Anfang.

In unserer Berner Gruppe Umwelt- und Kulturpsychologie haben wir in nunmehr bald 20 Jahren der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Thema relativ früh gefunden, dass "Wohnen" genauso wenig (oder noch weniger) definierbar ist wie "Wohnung". Für Arbeitszwecke approximieren wir den Begriff "Wohnen" im Sinne einer Tätigkeit.

Wir bezeichnen damit eine Gruppe von unterschiedlichen, aber aufeinander bezogenen sozialen und solitären Akten in raum-zeitlichen Mustern bezogen auf eine ebenso vielfältige und doch zusammengehörige Gruppe von Artefakten. (Mit Akten meinen wir Handlungen in einem allgemeinen Sinn, d.h. auf Teile oder Aspekte der Umwelt bezogenes Verhalten)

Die Akte lassen sich überindividuell als Handlungsmuster charakterisieren, werden aber konkret als Akte von Personen mit ihrer Umwelt vollzogen. Es sind viele grössere und kleinere Artefakte wie Bauten, Einrichtungen, Alltagsgegenstände, also menschgestaltete und zum grössten Teil unter Menschen ausgetauschte Werke, welche insgesamt die Wohnung ausmachen. Sie unterliegen durch solche Akte einem vorübergehenden oder andauernden Wandel in ihren Eigenschaften oder in ihrer Anordnung; zugleich bilden sie in ihrer Gesamtheit über die Zeit weg einen in hohem Masse gleichbleibenden Rahmen der Wohntätigkeit.

Sowohl die beteiligten Personen wie auch die Artefakte bilden durch den Vollzug und die Wirkungen der Akte je ein Teilsystemystem "wohnende Menschen" und "Wohnraum mit Wohndingen"; zusammen stellen sie das relativ beständige und dennoch sich entwickelnde Gesamtsystem "Wohnen" dar. Es ist die Aufgabe der wohnpsychologischen Forschung, die Manifestationen dieses Wohnsystems auf allen seinen Stufen als Prozess und Strukturen zu beschreiben und sein "Funktionieren" als Gesamtsystem auf den Begriff zu bringen.

Es gibt vielfältige Sachbezüge zwischen den Akten und den Artefakten. Ähnlich wie die lexikalischen und syntaktischen Bezüge der Wörter und Wortarten in der Sprache bilden Akte und Artefakte untereinander Familien und Kontraste; manche Akte gelten nur bestimmten Arten von Artefakten, andere sind allgemeinerer Natur. Darüberhinaus gibt es beim Wohnen und ähnlichen Tätigkeiten Grade der Zugehörigkeit zwischen Personen und Artefakten. Zugehörigkeiten lassen sich etwa als Zutritt, Ausschluss, Kontrolle, Besitz oder anderen Formen von Verfügbarkeit für Personen oder Gruppen charakterisieren.

In den meisten Kulturen betreffen die Wohnsysteme eher kleine und relativ konstate soziale Gruppen. In technisierten und insbesondere in industrialisierten Kulturen ist Wohnen ein eher privates oder intimes Geschehen in einem gewissen Gegensatz zu "öffentlichen" Tätigkeiten, geniesst aber einen gewissen Grad an impliziter oder institutionalisierter allgemeiner Anerkennung, z.B. als konventionell und rechtlich geschützte Privatsphäre. Oft sind korrespondierende hierarchisierende Stufungen oder "Schachtelungen" der sozialen Gruppen einerseits und der Raum- und Baustrukturen anderseits zu beobachten (Person, Familie, Sippe, Nachbarschaft, Gemeinde; Wohnung, Haus, Baukomplex, Dorf, Quartier, Stadt).

Wenn wir den so umschriebenen Begriff des Wohnens weit nehmen, so "wohnen" Menschen ein rundes Drittel ihrer Lebenszeit. Man kann auch sagen, dass in den meisten Kulturen der überwiegende Teil besonders der frühen Enkulturation und Sozialisation sich im Wohnbereich abspielt. Dieser essentielle reproduktive Prozess macht also häufig einen Teil der Wohntätigkeit beider Enkulturationspartner aus. Natürlich tummeln sich auf diesem Feld allerlei Ansprüche auf die Formung der jungen Generation. Es wird versucht, die Sozialisationsprozesse stärker in die öffentliche Sphäre zu verlagern und gleichzeitig unter partikulären Einfluss zu bringen.

Die Wohntätigkeit ist aber nach wie vor auch in der Abendländischen Kultur eine Lernsituation erster Ordnung, auch wenn ihr Gewicht zunehmend von den Bildungsinstitutionen und noch stärker von den Medien relativiert wird, welche direkt in den Wohnbereich eingedrungen und zu einem eigenartigen und mächten Teil des Wohnsystems geworden sind.

Es liessen sich weitere Charakterisierungen anführen; doch dürften damit die wichtigsten zusammengestellt sein. Noch einmal sei der Ensemble-Charakter aller Komponenten der Wohntätigkeit betont und wiederholt, dass wir nicht mehr als eine Umschreibung eines Phänomenfeldes zu geben versuchen, da keine eindeutige Definition von Wohnen möglich ist.

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3. Wie können wir "Wohnen" verstehen?

Auf diesem Hintergrund ist eigentlich schwer zu verstehen, dass die Psychologen nicht früh den eminent psychologischen (insbesondere sozialpsychologischen, entwicklungspsychologischen, handlungspsychologischen, kulturpsychologischen) Problemgehalt des Wohnens erkannt und das Thema als Forschungsfeld und Beispiel für die Theoriekonstruktion aufgenommen haben. Einmal mehr, scheint die Praxis das Gebiet vor der Wissenschaft entdeckt zu haben. Es zeichnet sich aber auch hier ab, dass theoriefreie Praxis leicht zum Opfer von allgemeinen Voreingenommenheiten wird und wie so oft eher zur Vernebelung von Interessen als zur Erhellung eines Phänomenfeldes führt.

Ein Beispiel dafür ist etwa die Rolle des obenerwähnten und sehr geläufigen Erklärungsvorschlags, Wohnen als Konsumption im Dienste der Erfüllung von sogenannten Grundbedürfnissen (eben "Wohnen", mit einem langen Katalog von beliebigen Sekundärbedürfnissen) zu verstehen oder die Wohnung und ihre Ausstattung im Dienste der Selbstverwirklichung der Individuen zu sehen.

Auf dem Hintergrund der letzten ein bis zwei Jahrhunderte Geschichte der Wohnungsarchitektur und der Wohngüterindustrie, insbesondere der explosiven quantiativen Vermehrung des Anspruchs auf Wohnraum und -ausstattung seit 1950, ist leicht einzusehen, dass hier längst ein positiver Rückkoppelungsprozess zwischen Bauwirtschaft und Konsumgüterindustrie einerseits und einer unstillbaren "Sucht" der Wohnenden nach immer grösseren und immer aufwendiger ausgestatteten Wohnungen für immer weniger Personen eingesetzt hat, für den es eigentlich kein Stop-Kriterium gibt. Es sei denn, die Menschheit ertrage, physisch und sozial, einen aus den gegenwärtigen Abläufen extrapolierbaren Zustand, den man etwa so umschreiben könnte, dass jeder Weltbürger in mindestens drei Erdteilen je eine Einzelperson-Wohnung belegt.

Ich spreche deshalb bewusst von einer "Sucht'; denn die heute als normal geltenden Wohnansprüche scheinen genau jenen Charakter eines Suchtmittels angenommen zu haben, das man einfach nehmen und haben muss, obwohl man nicht versteht warum; von dem man etwas erwartet und erhofft, das es nicht erfüllen kann, weil man nicht einmal weiss, was man davon erwartet; das man aber im aktuellen Augenblick dennoch so herrlich gut und beglückend findet. Von dem man auch nicht weiss oder nicht wissen will, was und wie es einem auf Dauer wahrscheinlich Schaden zufügt.

Man bedenke in diesem Zusammenhang das oben über die Verbalisierung des Wohnens durch die Beteiligten Gesagte. Menschen über ihre Wohnbedürfnisse und ihre Wohnzufriedenheit und allerlei Umstände davon zu befragen, ist letztlich nicht mehr als eine sich um sich selbst drehende Betriebsamkeit einer sozialen Fiktion. Denn die Befragten können kaum anderes als das und ein bisschen mehr vom Gleichen für gut halten, was von der Wohnindustrie angeboten wird und was demnach aufgrund sozialer Vergleichsprozesse eine Norm umschreibt. Etwas blank gesagt: die Ergebnisse naiver Wohnpsychologie spiegeln vermutlich zur Hauptsache die Inhalte von Magazinen wie "Schöner Wohnen" und "Das ideale Heim".

Demgegenüber ist es die Aufgabe der Wissenschaft, ein gründlicheres Verständnis jener Prozesse und Produkte zu liefern, welche das Leben von Menschen so sehr bestimmen wie die Wohnungen und was darin und darum herum geschieht. Es bedarf gemeinsamer Anstrengungen von mehreren Disziplinen, um diesen Komplex auseinanderzulegen. Der Psychologie, so scheint mir, kommt dabei ein zentrale Rolle zu, weil menschliches Handeln in dem Komplex die zentrale Rolle spielt.

Man wird wohl für sinnvoll halten können, alles was in und um die Wohnungen herum und worauf sich andere kulturelle Bedingungen und Wirkungen beziehen lassen, in gründlicher und geduldiger Anstrengung angemessen zu beschreiben. Während beispielsweise der Botaniker bei der entsprechenden Aufgabe verhältnismässig leicht Pflanzenarten unterscheiden, sammeln, wiedererkennen und nach unterschiedlichen Gesichtspunkten in eine Ordnung bringen und schliesslich in ihre evolutiven und ökologischen Bedingungs- und Wirkungszusammenhänge einfügen konnte, ist der Psychologie in der schwierigen Lage, dass er sein Phänomenfeld nicht säuberlich in "vorgefertigte" Einheiten aufgeteilt vorfindet. Er muss vielmehr auf der Basis kluger Theorie adäquate Beobachtungs- und Beschreibungsverfahren erst entwickeln, um das zu bestimmen und zu erfassen, was sich in den Wohn-Bedingungs-und-Wirkungsgefügen als bedeutsam erweist. Wir haben angedeutet, wie leicht man sich dabei durch Oberflächenerscheinungen verführen lassen kann.

Es ist hier nicht der Platz unsere teils sehr grundlegenden theoretischen und methodischen Leitlinien auszubreiten. Interessierte Leser seien auf unsere Arbeiten verwiesen. Erschliessen lassen sie sich unter dem Gesichtspunkt der semiotischen Ökologie aus Lang (1993 a und b), unter dem Gesichtspunkt unserer Analysen der Wohnens und seiner Bedingungen und Wirkungen aus Lang (1990, 1991 und 1992), Slongo (1991), Studer (1993) und Markwalder (1993). An einem Beispiel aus einer der neueren Diplomarbeiten von Hubert Studer sei aber illustriert, wie wir versuchen, praktische und auch aktuelle Fragen mit der längerfristigen Zielsetzung unseres Forschungsziels zu verbinden.

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4. Kann man allein oder "verteilt" wohnen?

Eine der vielen drängenden Fragen ums Wohnen herum, die freilich erst unter die Haut geht, wenn man ihre Tragweite zu verstehen versucht, ist der Trend zum freiwilligen Alleinwohnen, der in den 60er Jahren eingesetzt hat. Heute (Volkszählung 1990) leben im schweizerischen Durchschnitt etwas über zwei Personen in einem Haushalt;1970 waren es noch fast drei. Die rund 6.87 Millionen Bewohner der Schweiz leben in 3.14 Millionen Haushalten, davon sind ein Drittel Einpersonenhaushalte;1970 sind es bloss 18%, vor dem Krieg nur 10% gewesen. In den "grossen" Städten beträgt der Anteil sogar um die 50%. In der Schweiz wohnt nahezu eine auf fünf Personen allein.

Genauere Analysen zeigen, dass der grössere Teil der individuell Wohnenden und vor allem der Zuwachs der vergangenen Jahrzehnte auf die Altersstufen zwischen 20 und 40 fällt, also zur Hauptsache auf diejenigen, welche diese Lebensform aus freien Stücken suchen. Man könnte nun sagen, das sei ein Trend der Lebensformen, der wie andere gesellschaftliche Entwicklungen hinzunehmen ist. Anderseits hält sich der Mensch für ein denkendes Wesen, welches nicht nur seine Zukunft plant, sondern bei seinem Planen und Handeln auch die möglichen Folgen seines Tuns berücksichtigt.

Ein Hauptsatz unseres dargelegten Verständnisses des Wohnens besagt, dass wir mit Vorteil die Wohnungen mit ihren Inhalten und Ordnungen als ein dynamisches "soziales Gedächtnis" oder als eine Art "externe Seele" verstehen. Hinter diesen Stichworten verbirgt sich die Idee, dass diese organismus-externen oder kulturellen Strukturen, die über die Geschichte vieler Generationen und in der Entwicklung von individuellen Lebensläufen jeweils gerade so geworden sind, wie sie hier und dort vorzufinden sind, für ein soziales System in mancher Hinsicht ähnliche Funktionen tragen wie das organismus-interne Hirn für die einzelne Person.

Es handelt sich demgemäss in unserem Verständnis bei den Räumen und Sachen nicht einfach um Objekte, unserer individuellen und kollektiven Verfügungswillkür anheimgestellt, sondern um Strukturen, an denen alle teilhaben, welche in einem engen oder weiten Sinn zusammenleben. Jede Manipulation dieser Strukturen betrifft nicht bloss diese selbst, sondern trifft indirekt auch die Mitmenschen, welche mit diesen Wohndingen zusammen aktuell und künftig sozio-kulturelle Systeme bilden. Zeichentheoretisch ausgedrückt handelt es sich bei den Wohnstrukturen um "Texte" eigener Art, in denen und durch welche wesentliche Teile unserer individuellen und sozialen Existenz ihre Verkörperung finden und zur Wirkung bringen. Wohnprozesse sind ein bedeutendes "Medium" der Selbstorganisation der menschlichen Kondition.

Auf diesem Hintergrund erwächst die Vermutung, dass Alleinwohnen, so angemessen es in gewissen Lebensphasen sein mag, als Dauerkondition dazu führen kann, dass die individuell Wohnenden sich auf diese Weise gewissen regulativen Prozessen des Zusammenlebens entziehen. Das mag im bewertenden Erleben der Betreffenden, vielleicht verstärkt durch starke Regulationszwänge im Berufsleben, sehr positiv erscheinen. Doch müsste man eigentlich besser verstehen, welche Auswirkungen von solchen Lebensformen langfristig auf die Betreffenden und auf das gesamte Sozialsystem zu erwarten sind.

Natürlich kann eine solche Frage erst nach vielen Jahren breiter Erfahrungssammlung und -auswertung eine Antwort erhalten. Unmittelbar ist es aber möglich, die regulativen Prozesse von Alleinwohnenden mit solchen von kollektiv Wohnenden zu vergleichen. Die Untersuchung von Hubert Studer hat dazu geeignete Begriffe und Methoden entwickelt und explorative Befunde bei je vier Personen in entsprechenden Wohnlagen erhoben. Der Zugang ist über die Erhebung der gesamten Zeitabläufe innerhalb und ausserhalb der Wohnung während einer Woche ("Zeitbudget"): was habe ich in welchen Zeitabschnitten, an welchen Orten, mit welchen Personen und mit was für Dingen gemacht? Die Protokolle der Tätigkeiten wurden in ausführlichen Gesprächen mit den Personen mit soviel Kontext aus deren physischer und psychischer Lebenslage angereichert, dass ihre ordnende und deutende Analyse möglich wurde.

Wir können hier als ein Hauptresultat nur Belege dafür anführen, dass im Vergleich mit den Zusammenwohnenden bei den Alleinwohnenden weniger die Quantität (also die Zeit des Zusammenseins, die freilich eine eigene räumliche Verteilung erhält) als die Qualität der interaktiven Vollzüge verändert ist. Dieser Qualitätswandel kann ohne Darstellung der Methodik und von Detailergebnissen nicht kurz zusammengefasst, noch gar ohne Bedenken zusammenfassend bewertet werden, weder positiv noch negativ. Einigermassen überraschend erwies sich die Feststellung, dass manche Alleinwohnende faktisch "verteilt" wohnen. Sie haben ihre Einpersonenwohnung und ziehen sich immer dorthin zurück, verbringen aber beträchtliche Teile ihrer Nicht-Arbeitszeit in der Wohnung von Partnern oder Freunden.

Das Verständnis der menschlichen Existenz sollte sich orientieren am Bezugsfeld von Menschen in der Kultur. Denn das sind die Bedingungen, welche nicht nur auf Menschen einwirken, sondern welche Menschen überwiegend selber herstellen. Natürlich kann dies niemand für sich allein; es geschieht vielmehr im überpersönlichen und langfristigen Werden von sozio-kulturellen Systemen. Menschsein ist nicht denkbar ohne solchen evolutiven Dialog in der Kultur. Wohnen ist ein exemplarisches Feld der Konkretisierung dieser kulturpsychologischen Sichtweise in theoretischer, methodischer und faktischer Hinsicht.

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Literaturangaben

Flade, Antje (1987) Wohnen psychologisch betrachtet. Bern, Huber. 194 Pp.

Lang, Alfred (1990) Mehr und besser? Über Raumansprüche und Gestaltungsangebote. Information Raumplanung 5 (2) 3-5.

Lang, Alfred (1991) Wohnraum als Aussenraum des Innenlebens - ein Dialog zwischen Bürgerin und Wohnpsychologe. (Mit einer Bildgeschichte gezeichnet von Camillle Halter und einem Kasten: Verstehen wir Bauen und Wohnen?) Der Bund (Bern) Nr. 223 (Beilage: "Bauen -- Wohnen 1991") vom 24.9.91.

Lang, Alfred (1992) On the knowledge in things and places. Pp. 76-83 in: Cranach, Mario von; Doise, Willem & Mugny, Gabriel (Eds.) Social representations and the social basis of knowledge. Bern, Huber.

Lang, Alfred (1993 a) Non-Cartesian artefacts in dwelling activities -- steps towards a semiotic ecology. Schweizerische Zeitschrift für Psychologie 52 (2) 138-147.

Lang, Alfred (1993 b) Zeichen nach innen, Zeichen nach aussen -- eine semiotisch-ökologische Psychologie als Kulturwissenschaft. Pp. 55-84 in: Rusterholz, Peter & Svilar, Maja (Eds.) Welt der Zeichen -- Welt der Wirklichkeit. Bern, Paul Haupt.

Markwalder, Stefan (1993) Auf den Spuren des Wohnens -- eine explorative Untersuchung zur Regulation der sozialen Bezüge im Zweipersonenhaushalt. Diplomarbeit, Bern, Institut für Psychologie der Universität. 116 Pp + Anhang.

Slongo, Daniel (1991) Zeige mir, wie du wohnst, ... -- eine Begrifflichkeit über externe psychologische Strukturen anhand von Gesprächen über Dinge im Wohnbereich. Diplomarbeit, Bern, Psychologisches Institut der Universität. 135 Pp.

Studer, Hubert (1993) Individuelle und kollektive Wohnformen -- eine explorative Untersuchung ihrer sozialer Implikationen. Diplomarbeit, Bern, Institut für Psychologie der Universität. 188 Pp.

 

Zusammenfassung (250)

Bis vor kurzem hat man sich mit ökonomischen, funktional-technischen oder ästhetischen Erklärungen des Wohnens zufrieden gegeben. Aber eigentlich wäre die Psychologie wie keine andere Wissenschaft gefragt, dieses bedeutende kulturelle Geschehen dem Verständnis zu erschliessen. Denn Menschen widmen ihm, den Schlaf abgerechnet, wohl ein Drittel ihrer Lebenszeit und ziehen darin nicht nur Kinder auf, sondern verstehen es häufig als ein örtliches Zentrum ihrer persönlichen Identität und ein Basisfeld ihrer sozialen Existenz. Die Autoren skizzieren und kritisieren die allgemein vorherrschende Auffassung von der Wohnung als einem Objekt des Konsums, welches im Interesse der Wohnenden angeblich beliebig gestaltet werden könne, sofern es deren Wohnbedürfnisse befriedige. Der in der Psychologie üblich gewordene methodische Zugang zum Wohnen über seine Versprachlichung übernimmt nun freilich diese Zirkularität der Erklärung, insofern mit Fragebogen und Gesprächsverfahren, die sich auf das Objekt Wohnung und die damit verbundenen Wünsche und Versagungen der Menschen richten, kaum anderes als die gängige soziale Konstruktion des Wohnens dargestellt werden kann. Eine wissenschaftliche Ergründung des Wohnens sollte darüberhinaus in aller Gründlichkeit beobachten und beschreiben, was Menschen mit ihren Dingen in ihren Räumen eigentlich tun; sie soll dessen Bedingungen und dessen Wirkungen nachgehen und sie in einen theoretischen Zusammenhang ordnen. Anhand einer Untersuchung über das Alleinwohnen zeigen die Autoren, dass man den Wohnprozess wohl am besten als ein sehr grundlegendes psycho-soziales Regulationsgeschehen sieht. Dieses findet in jeweils bestimmten gebauten und gestalteten Strukturen seine Verkörperung, welche ihrerseits kulturell und individuell einmalige psychische und soziale Entwicklungs- und Stabilisierungsprozesse bestimmen.

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Abstract

Until recently there was wide agreement and satisfaction about explaining the dwelling process in economical, functional-technical, or esthetic terms. However, looking more carefully, it is unavoidable to turn to psychology (or perhaps to something that might be called empirical anthropology) more than to any other science to understand this important cultural practice. For, humans spend, in addition to sleeping time, roughly a third of their life time in this activity and educate in the process not only their children but also understand it often as the spaial center of their personal identity and as the base of their social existence. The authors sketch and criticize the prevailing wisdom seeing in the dwelling an object of consumption which can be formed to fancy as long as it fulfills the dweller's dwelling needs. The methodical approach common in psychology by way of languistic representations, in fact, accepts the implied circularity of explanation, in that questionnaires and interviews directed at the object and the activity of dwelling and the connected desires and frustrations cannot help but tap the common social construction of dwelling present in speech and media. A scientific inquiry of dwelling, however and in addition, should carefully and thouroughly observe and describe what humans are really doing in and with their things and rooms; in addition, the conditions and the effects of these activities over time should be gathered and organized in a comprehensive conceptual structure. By the example of an investigation into "dwelling single" the authors demonstrate that it is highly revealing to conceive of the dwelling activity as a fundamental psycho-social regulation process. This process is embodied in the particular built and furbished structures which in turn carry and direct the cultural and individual psychical and social developments and stabilizations observable.

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