Alfred Lang

University of Bern, Switzerland

Book Chapter 1993

Zeichen nach innen, Zeichen nach aussen - eine semiotisch-ökologische Psychologie als Kulturwissenschaft

1992.04

@GenSem @CuPsy

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Vortrag im Collegium Generale am 6. Mai 1992, Reihe: Welt der Zeichen -- Welt der Wirklichkeit
Pp. 55-84 in: Peter Rusterholz & Maja Svilar (Eds.) Welt der Zeichen -- Welt der Wirklichkeit. Berner Universitätsschriften. Bern, Paul Haupt, 1993.

© 1998 by Alfred Lang

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Inhalt

   

1. Wirkungen von etwas auf etwas

2. Die semiosische Wirkung

3. Der semiotisch-ökologische Funktionskreis

4. Was bringt es, die Psychologie semiotisch zu betreiben?

Literatur

Abstract


Psychologen und Semiotiker verstehen einander mässig bis schlecht. Wenn aber die "Welt der Zeichen" zu einem schönen Teil durch menschliches Handeln so ist, wie sie ist, so müsste man von der Psychologie einen Beitrag zu ihrem Verständnis erwarten. Zeichen wirken auf Menschen und viele Zeichen stammen von Menschen. Und die "Welt der Wirklichkeit"?

Was immer das sein mag: "wirklich" ist, was etwas bewirkt oder bewirken kann. Auch die für unser Leben relevante "Wirklichkeit" ist zur Hauptsache von handelnden Menschen gemacht. Ist mithin die Wirklichkeit eine Welt der Zeichen? Besteht also die Welt für uns, wie Charles S. Peirce meinte, aus Zeichen? Und ist auch "der Mensch selbst ein Zeichen", das Leben eine Folge von Zeichen (Peirce 1868=1992:54; "Peirce" spricht sich wie "Pörss")? Lohnt sich ein Versuch, die Semiotik mit psychologischer Zielsetzung verstehen zu wollen? Und kann die Semiotik gewinnen, wenn man ihre Grundkonzepte psychologisch analysiert und interpretiert?

Ich möchte anhand von drei Beispielen untersuchen, wie man zeichengetragene Wirkungen von etwas auf etwas anderes verstehen kann: Mensch und Tür, ein Haus bauen und bewohnen, jemanden zu seinem Freund gewinnen. Den allgemeinen Fall von Wirkung werde ich dann semiotisch zu beschreiben versuchen. Drittens werde ich diesen allgemeinen Fall von Wirkung dazu einsetzen, um jenen Austausch zwischen Menschen und ihrer Umwelt zu verstehen, der über den Stoff- und Energiewechsel hinausgeht. Man könnte vom Informationsaustausch sprechen, der sich in einen semiotisch-ökologisch verstandenen Funktionskreis abspielt. Zum Schluss will ich ein paar Fragen nach dem Gewinn aufwerfen, den eine semiotisch betriebene Psychologie bringen kann.

Es handelt sich um einen Teilbericht über Arbeit in Entwicklung. Angezeigt ist noch ein Hinweis auf eine Schwierigkeit, die sich jeder Semiotik stellt: dass sie über Zeichen mittels Zeichen abhandeln muss, in aller Regel mittels Sprachzeichen über Zeichen viel allgemeinerer Art. Sprachzeichen sind aber verführerisch bis irreführend. Denn um irgendetwas zu verstehen, müsste man sich eigentlich im Verhältnis dazu allgemeinerer Mittel, nicht derselben und schon gar nicht speziellerer, bedienen können. Aber das bin ich als Psychologe gewohnt: dass mein Gegenstand mit den Mitteln, die ich zu seiner Untersuchung brauche, in mancher Hinsicht zusammenfällt, so dass oft unsicher bleibt, ob wir eher einen Gegenstand beschreiben oder eher eine Art und Weise seiner Darstellung.

Damit sind wir schon mitten in der Semiotik: eine Sache wie eine Tür kann ich relativ leicht durch ein Sprachzeichen darstellen. Das Zeichen erscheint dann freilich noch irreführender als die Sache als ein Objekt, nicht zuletzt vielleicht, weil die Sprache Substanzen voraussetzt, denen sie Prädikate zuordnen muss. Die Prozesse, in denen Türen involviert sind, die Vorgänge zwischen Türen und Menschen -- denn dafür sind wohl Türen gemacht --, bleiben dann leicht und gern ausgeblendet. Aber Türen sind doch Wirkungen menschlichen Handelns und haben ihrerseits Wirkungen auf menschliches Handeln. Sie zeigen nicht nur ihr So-oder-so-Gemachtwordensein und ihr Wozugemachtsein, sonderen sie wirken auch in ein soziales System hinein.

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1. Wirkungen von etwas auf etwas

1.1. Das Beispiel von der Tür als Zeichen

Auch die Tür selbst ist also ein Zeichen, nicht nur das Wort "Tür", weil sie etwas ist, das in Lebenszusammenhängen wirklich sein oder Wirkungen erzeugen kann. Zeichen sind nicht besondere Gegenstände, anders als alles andere, sondern -- wenn möglicherweise alles ein Zeichen sein kann -- irgendwelche Entitäten (Gegenstände oder Ereignisse, dh Gebilde überhaupt, mit denen Menschen umgehen können) unter einem besondern Aspekt. Wenn Gebilde wie Türen Wirkungen haben, dann sollten wir sie nicht als gesonderte Zeichen untersuchen, sondern in ihren Wirkungszusammenhängen, also in jenen Prozessen, in denen sie ihre Rolle spielen.

Betrachten wir eine Tür in ihrer Wirkung auf ihre Benutzer. Hier kannst Du vielleicht hinein- oder hinausgehen, "sagt" sie mir. Als eine brauchbare Tür muss sie sich von der Wand figurhaft unterscheiden, durch einen Rahmen, einen Vorsprung, eine Vertiefung oder sonst etwas, damit ich aufmerken und sie als besondere Stelle in der Wand, als anders als die Wand, eben als eine Tür, wahrnehmen kann. Durch ihre Gesamtgestalt fordert sie mich dann zum Hinein- oder Hinausgehen auf oder weist mich in bestimmter Weise ab. Sie kann offen oder geschlossen sein, schlicht oder auffällig, grandios oder bescheiden u.dgl.m. Sie trennt und verbindet zwei Räume: in einem der beiden bin ich jetzt, im andern nicht; im andern könnte ich demnächst sein oder auch nicht. Sie teilt mir vielleicht etwas über das Hinter-ihr mit, über das Verhältnis zwischen hier und dort, wenn sie nicht prahlt, lügt oder untertreibt. Und sie lässt mir die Freiheit zu gehen oder nicht zu gehen.

Gehe ich, dann bin ich wieder wie beim Aufmerken von ihr "gefangen", und noch stärker. Sie zeigt mir -- hoffentlich! -- wo und wie ich sie öffnen kann, zB durch einen Knopf oder eine Klinke, zu drehen oder zu drücken; und auf welcher Seite, in welcher Richtung, nach innen oder nach aussen. Tür und Griff führen mein Handeln bis weit ins Detail. (Oder das sollten sie wohl, ihr Architekten!) Und sie bestimmt weiter meine Schritte, wenn ich ihre Schwelle übertrete.

Zwischen dem Türumfeld und mir kommt also, getragen durch die Tür und mein Sehen und Handeln, ein Austausch-Prozess zustande. Die Tür als Zeichen informiert mich in bestimmter Weise, ich benütze die Tür in bestimmter Weise. Zwischen Tür und Benutzer gibt es Prozesse, die als Zeichenprozesse verstanden werden können. Und irgendwie sind letztlich dabei auch ihre Hersteller, der Bauherr und der Architekt, involviert, welche sie an bestimmter Stelle plaziert und in bestimmter Weise gestaltet haben. Sie prahlen oder lügen hier und jetzt, mir gegenüber, mit dem Mittel dieser Tür, auch wenn sie weit weg oder schon lange gestorben sind. Und die Handwerker, die sie hergestellt haben, ihre Erfinder und Entwerfer, alle ihre Benutzer, überhaupt die gesamte Kultur des Türenhabens und -benutzens, sind involviert. Die Tür in der ihr eigenen Bedeutung kann offenbar nicht ohne Einbezug des Menschen beschrieben werden. Sie bloss als ein Objekt zu sehen, dürfte sie verpassen.

Wenn wir die Tür als ein Zeichen verstehen wollen, dann sollten wir sie im Rahmen von Zeichenprozessen oder Semiosen untersuchen. Genau das tut die Semiotik. "Semiosisch" verweist auf ablaufende Wirkungsprozesse mit Zeichen; als "semiotisch" bezeichnen wir eine bestimmte begriffliche Konstruktion eines solchen Sachverhalts, nämlich vom Betrachtungsstandpunkt und mit den Verfahren eines Semiotikers (vgl. auch Nöth 1985).

 

1.2. Abgrenzung der semiosischen von den reaktiven Wirkungen

Nun können Entitäten dieser Welt auch direkt und zwingend auf andere Entitäten einschliesslich Menschen wirken. So hält mich das Schwerefeld der Erde am Boden und starke Strahlung kann mir die Haut verbrennen; oder eine chemische Reaktion läuft unter bestimmten Bedingungen notwendig so ab, wie es die Eigenschaften der beteiligten Stoffe bestimmen. Auch die geschlossene Tür lässt mir physisch keinen Spielraum; versuche ich dennoch hindurchzugehen, so werde ich es spüren und eine Beule mitnehmen.

Was unterscheidet solche reaktiven Wirkungen von den semiosischen? Alle Zeichen sind immer auch objekthaft, an einen Träger gebunden. Wir ahnen, dass Objekte als Zeichen von Objekten allgemein unterscheidbar sein müssen, da sie als zeichenhafte nicht gleich aufeinander oder auf uns wirken wie Objekte tel-quel. Aber wie können wir diesen Unterschied fassen? Ich untersuche kurz drei Möglichkeiten:

 

1.2.1. Die Wahlfreiheit

Auf manche Dinge "reagiere" ich gezwungen, der Stoss eines Autos wirft mich um. Auf Zeichen "agiere" ich mit einer gewissen Wahlfreiheit. Ich habe die Möglichkeit, mich der Tür zu verweigern. Ein Zeichen kann man ignorieren oder so und auch anders interpretieren, als es gemeint war.

Es scheint mir aber fraglich, ob uns dieser Hinweis wirklich weiterführt. Ist "Freiheit der Wahl" mehr als ein Name für mein Gefühl im Umgang mit Zeichen? Den freien Fall im Gravitationsfeld kann ich ein Stück weit beeinflussen, wenn ich ein geübter Fallschirmspringer bin. Da mich anderseits die Tür oder das Verkehrszeichen "Halt" in meinem Handeln auch "bestimmen", wenn ich mich ihnen verweigere, möchte ich genauer verstehen, was zwischen Zeichen und Menschen vor sich geht.

Über Wahlfreiheit sind ganze Bibliotheken voll geschrieben worden und alles mag in seinem Zusammenhang gültig sein oder nicht. Freiheit ist dabei aber stets etwas, was dem Menschen zugeschrieben wird und den Objekten nicht. Diese Idee verlegt also die Zeichenhaftigkeit einer Sache ganz in den rezipierenden Menschen, in den Zeichenempfänger oder -deuter. Für die reaktiven Wirkungen wären die Naturgesetze zuständig, für die semiosischen etwas ganz anderes, zum Beispiel etwas "Geistiges", etwa die Erkenntnis oder die Willenskraft. Wenn das so wäre, müsste ich ja jedes Zeichen willkürlich auch anders deuten können. Täte ich das, so würde ich die Folgen aber sehr bald "reaktiv" zu spüren bekommen. Offenbar verpasst dieser dualistisch-idealistische Erklärungsversuch gerade das aufzuklärende Verhältnis zwischen Menschen und Zeichen.

 

1.2.2. Der Zufall

Naturwissenschaftler haben lange geglaubt oder angenommen, das Universum sei eine grosse "Maschine", durch und durch bis ins letzte determiniert, vielleicht nach dem Vorbild der Idee eines allwissenden und allmächtigen Gottes. Dann waren sie durch die Gründlichkeit ihrer Beobachtung gezwungen, den Zufall in die Welterklärung einzubringen. Heute wissen wir, dass der Zufall ein wesentliches Prinzip jeder Entwicklung darstellt. Als Faktor in einem geregelten System bringt er nicht nur schreckliche, sondern auch wunderbare Dinge hervor. Aus der Chaos-Theorie kennen wir die Möglichkeit grosser Wirkungen von kleinen Ursachen. Offenbar erlagen auch die Naturwissenschaftler der Verwechselbarkeit von Erkenntnisgegenstand und Erkenntnismethode, solange sie mit ihrer Notwendigkeitslogik nur das Reaktive in der Natur begreifen wollten und glaubten, alles müsse diesem Modell folgen.

Freilich erklärt der Zufall wie die Naturgesetze immer nur die Möglichkeit, nicht die Wirklichkeit von bestimmten Ereignissen -- nicht jeder Schmetterlingsflügelschlag ist beteiligt am Entstehen eines Hurrikans -- und erklärt schon gar nicht den systematischen Verlauf von grösseren Ereignisketten wie zB der Bioevolution oder des Lebenslaufs einer Person oder der Geschichte einer Kultur. Für mein Bestimmtsein durch die Tür oder durch andere Zeichen reicht das Zufallsprinzip offenbar auch nicht aus, obwohl es für die Entwicklung einer Zeichenkultur unentbehrlich ist. Weiterentwicklungen der Chaos-Theorie mögen in mancher Hinsicht bedeutsam sein; aber sie ersetzen nicht die Idee einer allgemeineren Form nicht-reaktiver Wirkung.

 

1.2.3. Die Idee der semiosischen Wirkung

Ich kenne keine empirische Wissenschaft, der es gelungen wäre, solche Wirkungen von Entitäten auf Entitäten befriedigend aufzuklären (dh mehr als nur zu beschreiben), die durch Naturgesetze zwar als mögliche, aber nicht auch als tatsächliche bestimmt sind. Wirkungen also, für die sich nicht nur notwendige, sondern auch die hinreichenden Bedingungen angeben lassen. Wenn dies allgemein der Fall wäre, dann hätten wir nämlich beispielsweise nicht nur perfekte Wetter- und Katastrophen-Vorhersagen, sondern müssten auch im voraus wissen können, wann und wie wir sterben, welche Individuen und Wissenschaften wann sich wie verheiraten und wie Europa oder der Mensch übermorgen aussehen werden.

Zum Glück haben wir keine solche Wissenschaft, die das oft deklarierte Ziel der restlosen Aufklärung aller Ursachen erreicht! Das Leben wäre ja sonst absurd. Dass wir dennoch alle Anstrengungen unternehmen, solche Wissenschaften zu gewinnen, gehört mit zu den menschlichen Rätseln. Achtbar scheint mir immerhin ein Motiv dazu: wir glaubten langezeit, wir hätten Wissenschaften, die im Prinzip alle Wirkungen jedwelcher Art aufklären könnten. An den Folgen dieses Irr-Glaubens leiden wir bereits massiv und werden wir noch langezeit beträchtlich zu schaffen haben. So sollten wir also unser Spektrum der Wissenschaften komplementieren und mit besonderer Intensität Wissenschaften vom Nicht-Notwendigen und dennoch Regelmässigen pflegen. Meine Absicht setzt auf Ausweitung, nicht auf Ersatz unseres Verständnisses von Wirkungszusammenhängen.

So könnte man vielleicht sagen, die Semiotik sei ein Versuch, manche Dinge der Welt auch anders denn als allein reaktiv wirkende Objekte zu verstehen: nämlich als Zeichen, die auf ihre eigene Weise wirken. Und die Aufgabe wäre, aufzuzeigen, wie sie als Zeichen wirken.

Die Psychologie, so scheint mir, müsste an solchen Aufklärungen ein besonderes Interesse haben. Diese Wissenschaft über Wirkungszusammenhänge, an denen Menschen beteiligt sind, vermag zwar sicher manches zu erhellen, aber geklärt hat sie unser Betroffensein durch die Dinge der Welt oder gar unser Herstellen vieler Dinge der Welt, der Kultur nämlich, doch wohl bisher nicht.

 

1.3. Semiose als Wirksamwerden von Erfahrung in Entwicklungen

Nun lässt sich vermuten, dass die reaktiven Wirkungserklärungen bei allen Sachverhalten versagen, die "Geschichte" zeigen. Zufall scheint dafür wesentlich aber nicht ausreichend; Wahlfreiheit könnte in gewisser Hinsicht ausreichend sein, ist aber nicht notwendig, da viele Entwicklungen weder "gewählt" noch zwingend sind und die gewählten oft anders laufen als geplant. Ob wir an Wahlfreiheit festhalten wollen oder nicht, wir brauchen ein Wirkungsprinzip allgemeiner Art. Denn für Entwicklung ist typisch, dass sie nicht vorhersagbar und dennoch systematisch ist. Systematischen Wandel ohne Wiederkehr des Gleichen -- das verstehe ich unter "Entwicklung" -- können Sachverhalte dann zeigen, wenn wenigstens einige der beteiligten Gebilde etwas von ihrer bisherigen Geschichte "kennen" und etwas daraus zu neuer Wirkung bringen können.

Das ist der Fall etwa bei Lebewesen: Organismen haben im Genom ein Kondensat der Geschichte ihres Stammes und sie bestimmen damit ihre Nachkommen. Individuen speichern als ihr Gedächtnis etwas aus ihren Erfahrungen im bisherigen Verlauf ihres Lebens und nutzen dies zu einem gewissen Grad für ihr künftiges Verhalten und Handeln. Gruppen von Menschen legen einiges von ihren Erfahrungen in Dinge und Verhältnisse hinein, die sie einander und ihren Nachfahren anbieten; das ist, was wir Kultur nennen, die Verhältnisse und den Vorgang ihrer Erzeugung und Wirkung zusammen. Wir finden mithin im Bereich des Lebendigen chromosomale, cerebrale und kulturale Vermittler zwischen früheren und aktuellen und künftigen Ereignissen. In allen drei Fällen haben Ereignisse Spuren hinterlassen -- Gene, Gedächtnisse, Kulturdinge -- die es in sich haben, unter geeigneten Bedingungen neue Wirkungen zu entfalten. Solche Vermittler können wir Zeichen oder zeichenhaft nennen. Sie stehen nicht einfach für etwas; sondern sie können etwas Neues mithervorbringen, dessen Wurzeln bei aller möglichen Verschiedenheit in diesen früheren Geschehnissen liegen.

Kulturdinge sind offensichtlich etwas, was wir als Zeichen verstehen: Verkehrszeichen, Sprachzeichen, Bildzeichen, Herrschaftszeichen, etc. etc. In Kultdingen oder in Ritualen etwa sind religiöse Erfahrungen oder Erwägungen inkorporiert. Sie können andern angeboten oder auferlegt werden, so dass sie ähnliche Erfahrungen nachvollziehen können oder müssen, manchmal mit der Folge ihrer Lenkbarkeit oder Beherrschbarkeit. Oder noch einmal die Tür: ihre Konstrukteure haben damit eine Möglichkeit angeboten, und ihre Verwender schaffen die Tatsächlichkeit der Regulierung sozialer Bezüge und Prozesse. Nachdem einmal die Wand erfunden war, welche Gruppen räumlich trennt, und nachdem die Öffnung in der Wand gewonnen war, welche die Gruppen wieder verbindet und den Personen- und Sachenfluss dazwischen kanalisiert, kann die Tür das Geschehen im Kanal auch in der Zeit regulieren: zulassen, behindern, vorübergehend oder andauernd stoppen, kurz, kontrollierbar machen.

Auch kulturlose Lebewesen regulieren ihre individuellen Befindlichkeiten und sozialen Systeme und Entwicklungen durch analoge zeichenhafte Entitäten. Territoriale Arten beispielsweise setzen Duftmarken oder Identitätsrufe; das ist einfacher und wirkt ähnlich wie ständig an den Grenzen zu patroullieren, um mit Kämpfen oder Drohgebärden aktuelle Konkurrenten oder Rivalen abzuwehren. Angehörige anderer Arten bauen Nester, Erdhöhlen und andere Einrichtungen in ihrer jeweiligen Umwelt, womit sie ihren Sozialverband zusammenhalten und auch weitere Lebewesen in bestimmter Weise beeinflussen. Eigentlich tun dasselbe alle sozial interaktiven Lebewesen bereits mit ihrem Körperbau und ihren artspezifischen Verhaltensweisen: ob sie damit ihre Artzugehörigkeit bekanntgeben oder sie für Fremde mimikrihaft verwischen, ob sie durch (manchmal sogar essbare) Duftstoffe oder bunte Farben Symbionten oder Beute oder Partner anziehen, ob sie durch Grösse oder Haltung drohen, ob sie durch spezielle Anzeichen ihren Zustand und ihre Möglichkeiten kundtun oder Artgenossen und andern Tieren ihre Bereitschaften und ihre Angebote und Möglichkeiten signalisieren, etc. etc. Alle Körper- und Verhaltensformen selbst wie auch die dadurch bedingten Effekte in der Umwelt sind zeichengetragene Wirkungen. Sie sind ihrerseits bedingt durch einen zeichenhaften Niederschlag des Erfolgs gerade dieser Errungenschaften im Lauf der Artengeschichte in Form von Strukturen im Genom. Offenbar können gewisse Gebilde der Welt etwas von ihrer Geschichte inkorporieren und dann wieder zur Geltung bringen.

Und unsere individuellen Gedächtnisse? Sind sie nicht ebenfalls Zeichenkomplexe in Form von neuronalen Strukturen und Routinen, in denen sich niedergeschlagen hat, was für Erfahrungen wir gemacht haben? Nicht um dieser Erfahrungen selbst willen, sondern in einer Art und Weise, dass künftiges Handeln davon bestimmt sein kann. Und bedingen sie nicht ihrerseits im Handlungsvollzug die Erzeugung von neuen Zeichen und deren Weiterwirkungen mit? Peirce hat mit der Idee, auch der Mensch sei ein (sehr komplexes) Zeichen, offenbar eine sehr fundamentale Einsicht ausgesprochen und damit dem Zeichenbegriff eine Perspektive gegeben, die ihn weit über die klassische Tradition hinaus wirksam werden lässt und die noch bei weitem nicht ausgeschöpft ist. Zeichen sollte man nie als solche bestimmen, sondern aus den Semiosen heraus, in denen sie auftreten. Zeichenhaft ist, was Wirkungen vermitteln kann; was neue Wirkungen erzeugen kann, die ihrerseits wieder vermittelt oder vermittelnd wirken können.

 

1.4. Ein allgemeiner dreistelliger Zeichenbegriff

Das lässt sich versuchweise verallgemeinern: Über Zeichen kann etwas Früheres oder Fernes -- oft lange Vergangenes oder weit Entferntes -- etwas Aktuelles verhältnismässig stark bestimmen, und zwar indirekt, nicht direkt-reaktiv wie ein elektromagnetisches Feld oder ein Energiespeicher. Zeichenhaft sind Entitäten, in die Erfahrungen inkorporiert sind, und die dadurch unter geeigneten Bedingungen auf besondere Weise wirken können, dh etwas von diesen Erfahrungen übermitteln können. Das besondere an der Zeichenhaftigkeit von Dingen wäre dann ihre Möglichkeit, etwas von ihrer Geschichte in die Zukunft zu wenden.

Und wir hätten zu fragen, auf welche Weise dieses Weiter-Wirken zustande käme. Wie wird Erfahrung und dergleichen -- wenn Sie wollen: Information -- in ein Objekt "gepackt", das dann potentiell ein Zeichen ist? Wie wird diese Potenz im Zeichenobjekt in der Folge aktualisiert, oder besser, in neuer Weise wirksam? Wie kann etwas nicht direkt, sondern vermittelt über ein Drittes wirken, über etwas Zeichenhaftes, welches Zeit und Ort überdauern oder überwinden kann.

Eine Antwort auf solche Fragen ist nicht einfach und derzeit nicht in befriedigender Weise zu geben. Was ich andeuten kann, ist nicht mehr als eine Annäherung. Mir scheint, für Peirce ist der Zeichenbegriff kein Objektbegriff, sondern viel eher eine Suchvorstellung im Hinblick auf solche sich selbst endlos fortsetzende und verzweigende Wirkungsrelationen. Jede Semiose verbindet einen Ursprung, eine Vermittlung und eine Wirkung, impliziert also eine dreistellige Relation. Die reaktive Wirkung dagegen ist zweistellig: bei gegebener Ursache ist die (kausale) Wirkung notwendig.

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2. Die semiosische Wirkung

2.1. Semiotik als die Wissenschaft …

Nun habe ich hier eine Auffassung von Semiotik eingeführt, die in Lehr- und Einführungsbüchern nicht gerade eine sehr übliche ist (vgl. Nöth 1985). Ich möchte diese Auffassung daher kurz und vereinfachend im Zusammenhang anderer Auffassungen situieren, bevor ich sie weiter ausführe und auf Psychologisches und Kulturelles beziehe. Die nachstehend skizzierten Denkweisen sind eher typisierend als klassifizierend zu unterscheiden.

 

2.1.1. … von den Zeichen

Die Semiotik wird von alters her am ehesten als die Wissenschaft von den Zeichen verstanden. Zeichen sind hier besondere Objekte, die etwas bedeuten oder die andere Objekte in gewisser Hinsicht vertreten können. Aliquid pro aliquo, das Signum für das Signatum, das signifiant für das signifié. Man kann Zeichen "botanisieren" und klassifizieren und untersuchen, ob und welchen Regeln die Zuordnung von Zeichen und Bedeutung folgt.

So nützlich dies in gewissen Zusammenhängen wie Wörterbüchern oder Enzyklopädien sein mag: Die Problematik dieses Zugangs wird darin offenbar, dass vollständige oder unanfechtbare Kataloge von Zeichen und ihren Bedeutungen nicht zu liefern sind. Denn es hat ja wohl alles seine Bedeutung oder Bedeutungen, und dann je nach dem und jede zu ihrer Zeit. Der Ansatz verliert sich denn auch in Abgrenzungsversuchen -- Zeichen gegen Nichtzeichen, diese Zeichenklasse gegen jene, diese Differenzierung von Bedeutung gegen eine ebenso mögliche -- und ist letztlich auf Setzungen verwiesen, die durch andere Setzungen ersetzt werden können.

 

2.1.2. … von den Bedeutungen

So hat man denn versucht, den Ansatz gewissermassen auf den Kopf zu stellen und Semiotik als die Wissenschaft von den Bedeutungen zu betreiben. Das ist insbesondere die Semiotik des sogenannten Strukturalismus. Es ist leicht einzusehen, dass in Bereichen wie Literatur und Kunst -- wenn ein wichtiges Motiv der Zeichenherstellung in der Innovation liegt -- Zeichenkataloge noch problematischer und vielleicht manchmal fast mehr schädlich als nützlich sind. Etwas auszudrücken, was bisher nicht "gesagt" werden konnte, sprengt die Zeichen-Listen und -Klassen.

An einem Stück Architektur oder Musik lassen sich durchaus eine Menge von Zeichen(objekten) identifizieren und, wenn man will, als einzelne oder in Gruppen deuten. Dagegen lässt sich einwenden, dass die "eigentliche" Bedeutung der Stücke auf diese Weise aber nur partiell erfasst oder gar verfehlt werde, weil diese sich erst in einem generativen Prozess in Auseinandersetzung mit dem gegliederten Ensemble, dem ganzen Text, konstituiere.

Auch die Probleme dieser Art von Semiotik können nicht in drei Sätzen nachvollzogen werden. Lassen Sie mich bloss vermuten. dass der Ansatz das Risiko läuft, Dunkles mit Dunkelheit ausleuchten zu wollen. Wissenschaften wollen Referenzobjekte und Konstrukte einander zuordnen, die beide intersubjektiv verlässlich aufzeigbar sind. Im günstigen Fall, in literarischen oder bildnerischen Traditionen, kann sinnklärender Kommentar über Kunst aber durchaus selber künstlerischen Charakter annehmen.

 

2.1.3. … vom Zeichengebrauch

Eine dritte Gruppe von semiotischen Ansätzen setzt den Zeichenprozess oder die Semiose ins Zentrum des Interesses und fokussiert so stärker als die beiden vorgenannten auf die Bedingtheit jedes Zeichens durch bestimmte Zeichenbenutzer in einem bestimmten Lebenszusammenhang. Im Zeichen des nachrichtentechnischen Zeitalters hat Charles Morris in den 30er Jahren diese kommunikationstheoretische Zeichenauffassung mit seiner Deutung des Zeichenempfängers als "behavioristischen Organismus" inauguriert. Zeichen werden hier weder als substantielle Objekte noch als immaterielle Bedeutungen gesehen, sondern aus ihrer Funktion in kommunikativen Prozessen verstanden. Zeichen sind hier Signale oder Informationsübermittler zwischen zwei Systemen. Je nach dem, welche Arten von Systemen man für solche Betrachtungen zulassen, welche Voraussetzungen für einen kommunikativen Prozess man anerkennen will, ergeben sich eine Fülle von teils einander konkurrenzierenden, teils aufeinander beziehbaren Zeichenprozess- oder Zeichenfunktions-Modellen.

Gegenüber dem fixierenden Zeichenobjekt-Denken und der drohenden Beliebigkeit mancher Bedeutungserwägungen ist diese Denkweise ein Gewinn, weil der Gebrauch eines Zeichens auch seine Geschichte impliziert. Aber der Ansatz hat Dutzende von unterschiedlichen Semiosemodellen hervorgebracht, die je nach Anwendungsbereich ihre Vorzüge haben mögen, zwischen denen aber kaum ohne Willkür entschieden werden kann. Er bringt insbesondere den Ursprung und die Wirkungen der Zeichenprozesse nur unzureichend auf den Begriff; dadurch verlagert er die Abgrenzungsprobleme der älteren Ansätze mehr als dass er sie löst. Als Motto dieses heute in der Semiotik dennoch vorherrschenden Denkens über Zeichen könnte man verallgemeinert Wittgensteins berühmten Satz beiziehen, die Bedeutung eines Wortes sei sein Gebrauch.

 

2.1.4. … von den Zeichenwirkungen

"An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen!", ist hingegen der Bibelspruch, mit dem Peirce seinen Pragmatizismus auf die Essenz bringt. Zeichen sind mehr noch aus den Möglichkeiten ihres Gebrauchs als allein aus diesem selbst zu verstehen. Hier verweist der Funktionsbegriff nicht notwendig auf Zweckhaftigkeit, sondern meint einfach Wirkungszusammenhang. Siebzig Jahre vor Morris hat Peirce diese wesentlich allgemeinere Konzeption der Semiose vorgeschlagen, welche die Nachrichtenübermittlung als einen Spezialfall neben anderen einschliesst. Ähnlich wie im bedeutungszentrierten Ansatz sind Zeichen hier Entitäten, die sich allein von ihren eigenen Eigenschaften her nicht sinnvoll bestimmen und klassifizieren lassen, aber auch durch einen im voraus festgelegten Funktionszusammenhang wie dem der Kommunikation nur partiell verstanden werden können. Morris machte den Interpreten oder das Subjekt, das Peirce mit seiner Descartes- und Kant-Kritik als Resultante anstatt als Voraussetzung semiosischer Prozesse verstehen wollte, wieder zur Grundlage der Semiotik. Für ihn und seine Nachfolger sind Zeichen Signale, die von einem Subjekt hergestellt werden, um einem andern Subjekt etwas zu übermitteln. Anstatt zu zeigen, unter welchen Umständen etwas zum Zeichen wird, wird dessen Zeichensein vorausgesetzt.

Zeichen, was immer das sei, werden aber aus Zeichen "geboren" und "erzeugen" ihrerseits Zeichen, postuliert Peirce. Für ihn ist all jenes zeichenhaft, was ein Potential enthält, unter geeigneten Bedingungen weitere und neue Zeichen hervorzubringen: in unendlich verzweigten Ketten oder Netzen. Zeichen sind mithin die Träger von Entwicklungen und es gilt, ihre Rolle in sich entwickelnden Systemen aufzuklären. Damit wird die Semiotik zur Untersuchung von jener Art von Verursachung, welche Entwicklungen zugrundeliegt. Semiotische Begriffe und Methoden sollen dazu eingesetzt werden, jene Austauschprozesse zwischen lebenden und anderen Gebilden zu beschreiben und verständlich zu machen, die reaktiv-dyadisch nicht aufzuklären sind; darunter jene, die wir kommunikative nennen, ebenso wie alle Vorgänge der Systembildung und -veränderung überhaupt.

Lassen Sie mich, bevor ich diesen vierten Ansatz weiter ausführe, noch anmerken, dass ich versuche, die für die Semiotik zentralen Ausdrücke "Zeichen" und "Bedeutung" zu meiden wo ich kann, da sie in nicht zu reduzierender Weise vieldeutig sind. Wenn ich sie ausserhalb der Übernahme ihres Gebrauchs in bestimmten Denktraditionen einsetze, dann meine ich sie unspezifisch, nahe an der Alltagssprache. Manchmal versuche ich den Objektcharakter mit Ausdrücken wie "zeichenhaft" oder "Zeichencharakter" zu mindern.

 

2.2. Das Beispiel vom Hausbauen und Wohnen

Meine Weiterführung des Ansatzes von Peirce möchte ich nun mit einem zweiten Beispiel verdeutlichen. Diesmal soll der Aspekt der Herstellung von etwas Zeichenhaftem draussen in der Welt im Vordergrund stehen, der in der kommunikationstheoretischen Semiotik infolge der üblichen Annahme von vorgegebenen Zeichensystemen (Codes) besonders schwach ausgebildet ist.

Ich beginne also mit der Voraussetzung, in mir und für mich als Bauherr und potentiellem Bewohner sei eine grosse Menge von Haus-bezüglicher "Information" vorhanden und grösstenteils verfügbar. Ein Bild, wie solches zustande kommen könnte, wollen wir uns nachher anhand des dritten Beispiels machen.

Nun ist auch der aktuelle Vorgang des Bauens oder Einrichtens ein über längere Zeit erstreckter und reich gegliederter Komplex von einzelnen Akten, die freilich alle aus jenem Fundus von verfügbaren und aktivierbaren Wissens- und Könnensstrukturen bestimmt sein müssen, ob sie von mir persönlich entwickelt oder von anderen übernommen und angewandelt oder sich als riesiges Potential an Bestimmungsfaktoren in externen Strukturen niedergeschlagen haben. Hierzu gehören neben den in anderen Personen, sog. Fachleuten und anderen, inkorporierten entsprechenden Wissens- und Könnensstrukturen und deren Traditionen auch sehr wesentlich die Situationensangebote an und die Geschichte von Materialien und Formen und Gestaltungsmöglichkeiten. Natürlich werden sich ungezählte Herstellungsakte zu Ketten und Netzen gruppieren, gereiht und geschachtelt aufeinander aufbauend, sich gegenseitig kontrastierend, im Wechselspiel von Planen, Realisieren, Überprüfen, Bewerten, Korrigieren, usf.

Wesentlich scheint mir dabei, dass meine inneren Strukturen, wenn Sie wollen mein Wissen und Können und Wollen im Zusammenhang mit Hausbau -- aber das ist recht verkürzt ausgedrückt -- zusammen mit den Angeboten der Situation und meinen Handlungsmöglichkeiten -- materiell, ideell, personell, sozial etc. -- ein Drittes, Neues schaffen, nämlich das Haus und seine Einrichtungen.

Wir haben es also insgesamt mit einem triadisch-semiosischen Wirkungszusammenhang zu tun, wie er oben eingeführt worden ist. Vielleicht ist der Hinweis wichtig, dass bei diesem Vorgang verschiedene Betrachtungsebenen möglich und nötig sind. Neben der Globalbetrachtung -- ein sehr zusammengesetzter und längerdauernder Vorgang hin zum Haus als ganzem -- gibt es alle Stufen von Detailbetrachtung -- Planung und Ausführung von allen seinen einzelnen Teilen etc. bis hinunter zur Auswahl oder Formung und Plazierung und Umplazierung von Wänden und Türen, von einzelnen Einrichtungsgegenständen, eines Möbelstücks, eines Bildes usf. Bei all dem handle ich i.d.R. nicht allein; das meiste geschieht in Interaktion mit andern, mit Fachleuten, mit Freunden, die ihr Urteil, ihre Meinung, ihren Rat geben, mit meinen Mitbewohnern, meinen Besuchern etc.

Auch bei allen Einzelvorgängen handelt es sich um Semiosen, die diesen Dreifachcharakter haben. Das Haus stellt das zeichenhafte Resultat der Gesamtheit dieser Wirkungen von Innen- und Aussenstrukturen aufeinander dar. Es (re)präsentiert gewissermassen den semiosischen Vorgang, die ganze Geschichte seiner Möglichkeiten reduziert auf eine Wirklichkeit, die in bestimmter Weise -- und in bestimmter anderer Weise nicht -- weiterwirken kann.

Gewiss, ich bekomme auf diese Weise einen Zeichenbegriff, der zu verschwimmen droht; vor allem in den Zeichenprozessen mittlerer Ebene und deren Verschränkungen, während das Gesamtzeichen "konkretes Haus" und Darstellungen der Einzelakte leichter fassbar erscheinen. Der Zeichencharakter ist die Qualifikation einer Dreifachrelation, weder eine Substanz noch ein Attribut, von dem ich ausgehe oder das ich zuschreibe. Anderseits habe ich mit dieser Konzeption, so meine ich, genau jene vermittelte Wirkungsweise im Visier, die interessiert, wenn man verstehen will, warum denn Häuser gerade so gebaut und genutzt werden, wie es der Fall ist.

 

2.3. Das Beispiel vom Gewinnen eines Freundes

Mit dem dritten Beispiel möchte ich dem Typus von Vorgängen näherzukommen versuchen, welche ausgeprägter den Aufbau von Innenstrukturen betreffen. Dass auch beim Hausbau die Entwicklung meiner selbst betrieben wird, teils aktiv von mir gezielt und gewählt, teils passiv dadurch, was mir alles geschieht, sei vorweg mit der Bemerkung verbunden, die Person dieses Menschen, den ich mir zum Freund gewinne, werde gerade dadurch ebenfalls eine andere. Doch kann man sagen, bei diesem Vorgang stehe im Unterschied zum Hausbau die Veränderung von Innenstrukturen im Vordergrund des Interesses.

Nehmen wir an, das Bekanntwerden beginne mit einem Namen: jemand soll mir dort und dann vorgestellt werden. Der Name ist zunächst eine Leerstelle, so wie ein algebraisches Zeichen jeden denkbaren Inhalt annehmen kann. Aber als Name, als Zeichen für eine potentielle Person, geht er bereits in mein Gedächtnis ein, flüchtig oder bleibend, vielleicht nicht erinnerbar, aber fast sicher wiedererkennbar. Damit muss bereits in meinem Inneren eine spezielle Struktur aufgebaut worden sein, die diesen Namen als Möglichkeit einer Person darstellt. Das muss darauf beruhen, dass ich diesen Namen perzeptiv aufnehme, höre oder lese, und ihn mit meinen Möglichkeiten, Namen zu verstehen und als potentielle Personen zu interpretieren, in Verbindung bringe.

Wieder haben wir also diese Dreifachrelation:

(1) Ein Name, der natürlich seinerseits ein Zeichen ist, aber bei den jetzt interessierenden Vorgängen die Rolle eines Ursprungs, eines Auslösers, einer Referenz übernimmt.

(2) Eine Interpretationsmöglichkeit, auch sie zeichenhaft, nämlich mein gesamtes Wissen und Umgehenkönnen mit Namen als Zeichen für Personen.

(3) Und dieses Zusammentreffen schafft ein Neues, Drittes, nämlich in mir, in meinem Erleben und in meinem Gedächtnis, die Spur oder Darstellung dieses Fast-Leerzeichens mitsamt der wie immer qualifizierten Erwartung, diese Person kennenzulernen.

Hinfort brauche ich in Anlehnung an, aber leicht abweichend von Peirce die Bezeichnungen:

 

(1) Referenz -- worauf die Semiose bezugnimmt

(2) Interpretanz -- wodurch die Semiose bezugnimmt

(3) Presentanz -- was die semiosische Bezugnahme darstellt

(Die "Presentanz" oder "Präsentanz" habe ich in früheren Arbeiten auch als "Repräsentanz" bezeichnet. Die neue Bezeichnung vermeidet nicht nur Verwechselungen etwa mit "symbolischer Repräsentation, sondern verweist auch daauf, dass die neue Struktur nicht die Referenz noch einmal darstellt, sondern eben die Referenz im Lichte der Interpretanz.)

 

Im Hausbeispiel also, global betrachtet, so etwas wie meine Leitvorstellung vom Haus und dem Bewohnen als Referenz; als Interpretanz diese gesamten derzeit im Person- und Sozial- und Kultursystem verfügbaren Materialien und Weisen des Bauens und Wohnens, von funktionellen bis zu ästhetischen, einschliesslich der technischen Kenntnisse und Prozeduren, die zu deren gelungener Realisierung erforderlich sind; und als Presentanz dann das tatsächliche Haus und was dazugehört.

Oder im Beispiel vom Freundgewinnen: der Name als Referenz, zunächst eine leere Variable vom Typus Person; als Interpretanz mein soziales Wissen bezüglich Personen (zB wird mir der Name mit meinem Wissen zusammen schon das Geschlecht, ev. die Herkunft deutlich machen); und als Presentanz eine Gedächtnis- oder Wissensstruktur von trotz eindeutiger Existenz relativ vagem Charakter.

Nun liesse sich das Beispiel mit dem werdenden Freund in Einzelheiten ausführen: wie ich ihn treffe und die leere Variable mit jeder Informationsaufnahme von ihm oder über ihn fortwährend auffülle und so im Lauf der Zeit eine ihn nun mehr und mehr als eine individuelle Person darstellende Innenstruktur bereichere, konkretisiere, verfestige, zu einem Ganzen meiner Vorstellung dieses lebenden Menschen und seiner Lebensform und seiner Umwelt aufbaue.

Natürlich laufen gleichzeitig mit diesem komplexen Internalisierungsvorgang stets auch Externalisierungen: Zeichenbildungen nach innen -- Zeichenbildungen nach aussen. Sprachlich, durch mein soziales Verhalten und durch mancherlei Handlungen und deren Produkte gebe ich oft auch Informationen über meine im Aufbau begriffene Innenstruktur ab, über meine werdende komplexe Darstellungen seiner Person sowie meiner "Realität" unserer Beziehung, und ich gebe damit meinem werdenden Freund, sofern sie ihn erreichen, Gelegenheit zur Korrektur, zur Ergänzung. Er wird sich seinerseits zusätzlich und als Teil seiner Vorstellung von mir auch eine Repräsentation meines von ihm mir zugeschriebenen Wissens über ihn aufbauen, und ich glaube wiederum zu wissen, was er über mich zu wissen glaubt, etc. etc. Man darf mit guten Gründen vermuten, dass nur der geringste Teil von diesen Strukturaufbauten im Bewusstsein der beiden Beteiligten in irgendeiner Form und Weise erlebt wird, ja überhaupt erlebbar ist. Denn diese internen oder externen Strukturaufbauten oder -veränderungen, welche Semiosen aufgrund von schon bestehenden Strukturen bewirken, sind ganz generell etwas was unseren Austausch mit der umgebenden Welt fortwährend ausmacht. Semiosen "laufen" laufend, ähnlich wie und parallel zum Stoff- und Energiewechsel.

Kommt eine Freundschaft zustande, so setzt das voraus, dass wir im Verlauf von Myriaden von kleinen und grossen, untereinander eng oder locker verbundenen semiosischen Vorgängen wechselseitig je eine komplexe Repräsentation des andern und unseres Bezugs aufeinander in uns aufbauen. Dass solche Vorgänge Zeit und Zuwendung, gemeinsame Gefühle und Handlungen voraussetzen, ist evident. Es wundert deshalb nicht, dass die Ethologen bei entsprechenden Vorgängen, insbesondere bei paarweise lebenden Tieren, von "Investition" in den Partner sprechen. Bei menschlichen Freunden wird in diese wechselseitigen Repräsentationen nicht nur die gemeinsame Erfahrungsgeschichte wesentlich eingehen, sondern darüber hinaus auch indirekt Erfahrungsgeschichten aus dem Vorleben, die über Medien wie Sprache und Bilder vermittelt werden.

Überdies ist zu erwarten, dass aus diesen beiden Innenstrukturen unser Umgang mit dem jeweils andern, aber auch unser indirektes Bezugnehmen auf den andern gegenüber Dritten, in jeder Hinsicht mitbestimmt sein wird. Ob und auf welche Weise diese Innenstrukturen untereinander oder mit irgendeiner gemeinsamen Wirklichkeit übereinstimmen, ist eine offene Frage. Denn die beiden Innenstrukturen sind ja je eigene, obwohl sie grossenteils aus Semiosen entstanden sind, an denen die beiden Personen, freilich auf je unterschiedliche Weise, beteiligt waren. Es ist nicht denkbar, ohne solche zeichenhaften, den andern in unserer Beziehung (nicht einfach als Person!) (re)präsentierenden Innenstrukturen zusammenzuleben. Angesichts der enormen "Investition" und des eher abstrakten Wissens darum ist es wohl auch so schmerzhaft und überraschend, wenn ein Teil einer Partnerschaft meint feststellen zu müssen, die beiden aufeinander bezogenen Innenstrukturen seien nicht so parallel und verzahnt wie bisher angenommen und sie liessen sich nicht länger koordinieren.

 

2.4. Der logische Aufbau des "Zeichens" (Semion)

Die bisherige Beschreibung von Zeichenprozessen (Semiose) kann auch in einer logischen oder strukturellen Betrachtung zusammengefasst werden. Ich nenne die logische Einheit, nach welcher jede Semiose analysiert werden kann, egal ob als minimaler Zusammenhang oder als grosser Komplex, das Semion. Wie in der Chemie das Ion, ist das Semion ein dynamisch-aktives Instrument zum Aufbau von Verbindungen und zugleich der strukturelle Träger der so gebildeten (Zeichen-)Komplexe. Das Semion begreift die Minimalbedingungen jenes triadischen Bezugs, der gegeben sein muss, wenn Dinge anders als direkt auf andere Dinge einwirken. Nicht mit "roher Kraft", wie Peirce sagt, nicht in dyadischer, sondern eben als Zeichen in triadischer Relation. In logischer Hinsicht sind Semiosen durch das Semion essentiell beschrieben, unabhängig von ihrer konkreten Manifestation. Zugleich sind Semionen gewissermassen die Bausteine oder Glieder, aus denen Semiosen bestehen, insofern normalerweise nicht nur die Presentanzen, sondern auch die Referenzen und Interpretanzen Zeichencharakter haben. Aber das Semion ist nicht durch seine Substanz, sondern durch seine Verbindbarkeiten in Ketten und Netzen definiert. Die Einbindungen jedes einzelnen Semions ist dadurch bestimmt, welche Verbindungen seine Referenzen und Interpretanzen eingehen können. Seine wichtigste Eigenschaft ist sein Potential zur Aufbewahrung oder besser noch zum Weiterwirkenlassenkönnen eines einmaligen Ereignisses über Ort und Zeit, also sein dynamischer Gedächtnischarakter. Seine Differenzierungen müssen nicht zusammenfallen mit den Differenzierungen in Objekte, die wir aus unserer perzeptiv-kognitiven Organisation heraus als unsere Gliederung über die Welt legen.

 

2.5. Die Verkettung von Semiosen/Semionen zu Genesereihen

Der logische Aufbau des Semions ist in Figur 1 dargestellt. Geht man davon aus, dass in der Regel alle drei Komponenten einer Semiose ihrerseits Zeichencharakter haben, so ist leicht zu sehen, dass die Presentanz jeder Semiose in später folgenden Semiosen als Komponente eingehen kann, sei es unmittelbar oder zur irgendeiner späteren Zeit, solange diese Presentanz überdauert. Eine gegebene Presentanz kann dabei entweder zu einer Referenz oder zu einer Interpretanz werden und die Bildung neuer Presentanzen auf diese Weise mitbestimmen. Mithin können sich Ketten und (auch rekursive) Netze bilden. Und insofern Referenzen und besonders Interpretanzen Komplexe bilden können, ist auch einzusehen, dass mit so gebildeten semiosischen Strukturen nicht nur Wandel sondern auch Kontinuität verständlich gemacht werden kann.

Aus den drei Beispielen in Verbindung mit den knappen formalen Überlegungen sollte hinlänglich klar geworden sein, dass der Semiosebegriff eine Konzeption nicht-notwendiger und dennoch systematischer Verursachung darstellt, wie sie für lebende Systeme einschliesslich dessen, was uns als geistig, psychisch oder sozial erscheint, typisch sind. Semiosisch begreifbar sind Wirkungszusammenhänge, welche durch allgemeine Gesetze zwar notwendig, aber in ihrer Aktualität nicht hinreichend bestimmt sind. Dieser allgemeinere Versursachungsprozess, von dem der uns vertrautere deterministische Kausalitätsbegriff als ein Spezialfall gesehen werden kann, impliziert zugleich eine Konzeption von Struktur und Strukturwandel. Semiose als Prozess- und Semion als Strukturdarstellung betreffen denselben Sachverhalt in strukturaler oder dynamischer Hinsicht. Die Instanzen, an denen die Veränderungskräfte ansetzen und die sie hervorbringen, sind nichts anderes als diese Veränderungsbedingungen selbst.

Wir bekommen damit Begriffe von Entitäten, welche sich wandeln und dennoch sich selbst bleiben können; welche Neues erzeugen können, indem sie Altes fortsetzen. Es sind Gebilde, die unzweideutig auseinander hervorgehen, obwohl sie zugleich völlig neu sind. Im Gegensatz zu den Zustandsabfolgen in geschlossenen Systemen, deren jeder alle anderen eindeutig bestimmt, bilden semiosische Gebilde Querschnitte in offenen Genesereihen (Kurt Lewin, vgl. Lang 1992), deren Zukunft weder notwendig noch beliebig ist. Organismen, Lebensgemeinschaften und Geistesgebilde oder Kulturen sind solche Wirklichkeiten. Solche Gebilde sind weder mit materiellen noch mit ideelen Begriffen allein ausreichend zu beschreiben. An deren Stelle treten die semiosischen Zusammenhangsbedingungen.

 

Figur 1

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3. Der semiotisch-ökologische Funktionskreis

3.1. Der Funktionskreis des Mensch-Umwelt-Bezugs

Ich möchte nun dieses semiotische Instrumentarium auf das Grundproblem der Psychologie anwenden, nämlich auf das In-der-Welt-Werden der individuellen Person. Der Begriff des Funktionskreises stammt vom Biologen Jakob von Uexküll (1906). Es geht dabei im Kern darum, dass jedes Lebewesen nur mit den ihm eigenen Wahrnehmungsmöglichkeiten (Merkmitteln) auf die Welt orientiert sein kann und nur mit den ihm eigenen Handlungsmöglichkeiten (Wirkmitteln) auf die Welt einwirken kann. Das macht jedes Lebewesen artspezifisch zu einem eigenen. Nicht weil es sich seiner Umgebung anpasst, existiert es; sondern weil es sich von seiner Umgebung absetzt, ohne gegen deren Bedingungen zu verstossen. Seine Merk- und Wirkmittel erbringen gerade jene Ausrichtung auf die Welt, die sein Eigenständigsein zulässt. Alle anderen Aspekte der Welt kann es semiosisch, würden wir jetzt sagen, weder bemerken noch verändern, weil ihm die entsprechenden Interpretanzen fehlen. Natürlich kann die Welt mit roher Kraft (reaktiv) auf es einwirken. Uexküll war ein erstklassiger Semiotiker, ohne deren Terminologie zu gebrauchen.

In bezug auf Gebilde von der Komplexität von Mensch-Umwelt-Systemen muss man diesen Gedanken weitertreiben. Offensichtlich sind die Eigenschaften der psychischen Organisation bei Lebewesen nicht ein für allemal festgelegt, dies desto weniger, je höher sein Komplexitätsgrad ist. Durch die im Lebenslauf gesammelten Erfahrungen und daran anschliessende semiosische Prozesse können Individuen in bezug auf ihre Merk- und Wirkmöglichkeiten, ihre den Bezug zur Umwelt vermittelnden Interpretanzen also, ihre Einmaligkeit im Rahmen der Artbesonderheit individuell weiterentwickeln. Nun scheint es mir sinnvoll, diesen zweigliedrigen Funktionskreis von Merken und Wirken in bezug auf Lebewesen wie den Menschen zu einem viergliedrigen auszuweiten und explizit semiotisch zu formulieren.

 

3.2. Ausweitung zum vierphasigen Funktionskreis

Was wir also brauchen, ist eine begriffliche Konstruktion, welche Strukturen innerhalb der Person (die psychische Organisation im engeren Sinn) mit Strukturen ausserhalb der Person (die Kultur im weiten Sinn) im Hinblick auf welchselweise Veränderungseinflüsse zuammenbringt und zudem dem Umstand Rechnung trägt, dass Veränderungsprozesse systematischer Art auch innerhalb der Person und innerhalb der Kultur stattfinden. Die ersteren sind die psychischen Prozesse im engeren Sinn, die letzteren resultieren im wesentlichen aus den Tätigkeiten anderer Personen im sozio-kulturellen Verband. Mit diesen vier Veränderungsweisen im Mensch-Umwelt-System (nach aussen, aussen, nach innen, innen) sind alle möglichen Prozesse charakterisiert (vgl. Figur 2). Jede von ihnen führt in einem semiosischen Dreischritt von Referenzstrukturen über Interpretanzstrukturen zu Presentanzstrukturen. Die vier Veränderungsschritte können als Folge betrachtet werden, da jeder von ihnen auf den Ergebnissen der vorhergehenden aufbaut. Wahrnehmen, innerpsychische Prozesse und Handeln sind damit entgegen ihrer üblichen Behandlung als strukturgleich aufgezeigt, und der Funktionskreis wird durch ein kulturelles Glied zu einem sich schliessenden. Da jeder der Schritte durch die beteiligten Strukturen auf frühere Errungenschaften bezugnehmen und auch potentiell neue Strukturen hervorbringen kann, ist der Funktionskreis als Spirale in der Zeit zu denken. Im Wechselspiel von Hervorbringen und Hervorgebrachtem konstituiert er Entwicklung des Gesamtsystems, der Person in der Kultur oder der Grupupe in der Gesellschaft. Es ist hier nicht möglich, diese semiotische Deutung des ökologischen Funktionskreises über die nachstehenden Hinweise zu den verschiedenen Phasen hinaus zu begründen (vgl. auch Lang 1992, 1993 i.D.).

 

Figur 2

 

3.3. Zu den zwischen innen und aussen vermittelnden Semiosen

Über die hineingehenden und intern strukturaufbauenden Semiosen haben wir anhand des Freund-Gewinnen-Beispiels ausführlich gesprochen, über die hinausgehenden oder externalisierenden, kulturschaffenden Semiosen anhand des Hausbauens. Innen- wie Aussenstrukturen haben vergleichbare Funktionen oder Wirkungen: es sind komplexe Zeichen oder "Texte", auf welche aktuelle Semiosen jederzeit zurückgreifen können. Aussenstrukturen bestimmen das Wahrnehmen semiosisch mit, Innenstrukturen lenken semiosisch das Handeln. Der wichtigste Gedanke ist: innen wie aussen sind relativ überdauernde Strukturen gegeben, die durch Semiosen laufend geändert werden. Dennoch überwiegt deren Konstanz über die Zeit, da ihre Veränderung zur Hauptsache auf den bestehenden Strukturen aufbauen muss.

 

3.4. Externe oder kulturell-semiosische Prozesse

Es ist leicht, sich innerhalb der Aussenstrukturen selbst analoge Funktionskreise von anderen Personen zu denken. Der Mensch lebt ja nicht mit sich allein. Ebensowichtig für die persönliche Entwicklung ist freilich, dass auch die eigenproduzierten Aussenstrukturen wieder semiosisch in Wahrnehmungen zurücklaufen können und damit neben den weiteren, das sozio-kulturelle System bestimmenden Prozesse auch ein engerer, auf das Individuum zentrierter Kreis zustandekommt. Die beiden Funktionskreis-Bereiche lassen sich freilich nur analytisch trennen. Nicht unerwähnt darf ferner bleiben, dass sich die Aussenwelt auch reaktiv, dh nicht-semiosisch, verändern kann, durch energetisch-stoffliche Vorgänge als solche.

 

3.5. Interne semiosische Prozesse: Psychologie im engeren Sinn

Am schwierigsten ist es, über die innerpsychische Phase zu sprechen und die entsprechenden Prozesse und Strukturen empirisch zu untersuchen. Diese Phase entspricht in gewissem Sinn dem ursprünglichen Gegenstandsbereich der Psychologie. Es ist offensichtlich, dass diese internen Strukturen, analog der externen, als ein überaus reich gegliederter Zeichenkomplex gedacht werden können. Im Unterschied zu den externen, sind die internen Zeichenträger jedoch in ihrer materialen Gliederung nicht wirklich aufzeigbar. Erlebniskategorien wie Denken, Fühlen, Wollen oder Selbst einerseits und Hirnaufbau wie Stamm-, Mittel- und Grosshirn oder Hemisphären und daran anschliessende Differenzierungen mit ihren dominaten Funktionen mögen grobe Hinweise darauf geben, sind aber nicht weitreichend genug. Die semiotische Betrachtung macht evident, dass man über diese Strukturen und Prozesse eigentlich nur Gültiges erfahren kann, indem man sie in Gebrauch nimmt. Es ist denn auch die Forschungsstrategie der Psychologen, semiotisch ausgedrückt, Personen unter gewählten hineinwirkenden Bedingungen agieren zu lassen und deren Akte und Produkte als Presentanzen von aktuellen Referenzen und Interpretanzen zu deuten. Wie man sieht, stehen hier in der Regel Gleichungen mit mehr Unbekannten als Bekannten zur Lösung an. Beschränkt man den Zugang auf den Weg der sprachlichen Äusserung, so wird man mit entstellenden Darstellungen rechnen müssen. Die Semiotik kann auf die Unumgänglichkeit der Diversität von Zugangsweisen aufmerksam machen.

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4. Was bringt es, die Psychologie semiotisch zu betreiben?

Zm Schluss möchte ich kurz auf die Frage der Bewertung semiotischen Denkens in der Psychologie eintreten. Auf die Semiotik bin ich gekommen beim Versuch zu verstehen, warum Menschen eigentlich Wohnungen und Siedlungen bauen, beides mit allerhand Dingen, nützlichen und anderen, anfüllen und darin eben "wohnen". Die üblichen funktionalen Antworten -- diese Dinge dienen diesem Bedürfnis und jenem Zweck -- schienen mir oberflächlich und willkürlich, überwiegend der Rechtfertigung von allerlei Herrschaftsverhältnissen dienend (Lang 1991). Mein Antwortversuch zielt darauf ab, dass diese Dinge viel mehr ein Teil von uns selbst sind als wir meinen. Das wird vielleicht daran erkennbar, dass sie oft viel stärker über uns verfügen als wir über sie. Etwas provokant packe ich den Kern dieser Einsicht ins Schlagwort, die Kultur sei unsere "externe Seele".

Hier muss ich mich jedoch damit begnügen, einige Punkte zu nennen, in denen uns das semiotische Denken in der Psychologie und Ökologie bisher zu Einsichten geführt hat, von denen ich nicht glaube, dass wir anderswie so leicht dazu gekommen wären. Ob und in welcher Weise unsere Sichten gültig sind, muss die Zeit weisen: "An ihren Früchten sollt ihr Ideen erkennen".

 

4.1. Durchgängige Begrifflichkeit für Gleichartiges

Im gegenwärtigen psychologischen Denken werden die Bereiche des Wahrnehmens oder des Handelns, des (Inner-)Psychischen und erst recht der die Menschen betreffenden Vorgänge ausserhalb ihrer selbst mit völlig unterschiedlichen und kaum übertragbaren Begrifflichkeiten behandelt. Wenn diese vier Bereiche aber als Phasen eines Funktionskreises aufeinander bezogen sind, so ist es angezeigt, eine ihnen gemeinsame Beschreibungssprache zu entwickeln. In der triadischen Semiotik habe ich ein vielversprechendes Mittel dazu gefunden.

 

4.2. Subjekt-Objekt-Verhältnis neu denken

Gewinnt man auf der Grundlage einer semiotischen Beschreibung des Funktionskreises die Einsicht, dass kaum ein Erlebnisinhalt ohne Bezugnahme auf die äussere Welt spezifisch sein könnte und dass weite Teile der äusseren Welt, insbesondere natürlich, aber nicht nur, die Kultur, ohne korrespondierende interne Strukturen sinnlos wären, so beginnt man am abendländischen Verständnis der Entgegensetzung menschlicher Subjekte und objektiver Natur/Kultur immer mehr zu zweifeln. Und dies nicht mehr nur aufgrund ihrer problematischen Folgen, sondern man stellt sie grundsätzlich in Frage. Peirce war seit 1866 einer ihrer schärfsten Kritiker. Sollte die moderne Psychologie, aus der cartesianischen Entgegensetzung ganz wesentlich konstituiert, geradezu ihr Opfer geworden sein, wenn sie ihr durch Spaltung in einen geisteswissenschaftlich-idealistischen und einen naturwissenschaftlich-materialistischen Zweig vergeblich zu entgehen sucht?

 

4.3. Die Frage nach dem Status des Individuums

In den abendländischen Gesellschaften haben die Menschen sich seit einigen Jahrhunderten weitgehend auf der Grundlage der individuellen Person organisiert. Das Individuum gilt nicht nur als der Träger von Verantwortung in unserem Rechtssystem, sondern auch als Nutzniesser sehr weitgehender Freiheiten, vor welchen der Rest der Welt nur sehr unzureichend geschützt ist. Dem Postulat der Freiheit für persönliche Entfaltung haben wir nur schwache Prinzipien der Freiheit von Entfaltungswirkungen anderer entgegengesetzt. Den Selbstwert der nicht-menschlichen Sphäre missachten wir bis zur Selbstschädigung. Unsere Heraushebung des Individuums ist oder war in anderen menschlichen Gesellschaften durchaus nicht üblich. Sie dürfte uns auch, wie wir zunehmend begreifen, auf die Dauer vielleicht mehr Nachteile als Vorteile bringen. In bezug auf mögliche Prioritätsverteilungen zwischen Individuen und Gruppen sind die "totalitären" und die "liberalen" Institutionsformen der modernen Gesellschaften verhältnismässig recht extreme Lösungsversuche. Ein Bankrott des einen gibt nicht zwingend dem anderen freien Raum. Denn weitere Formen des Zusammenlebens sind nicht nur möglich, sondern auch älter und stabiler. Die Frage nach dem Status des Individuums und der Abgrenzung und Kooperation der anthropologischen Wissenschaften muss gestellt werden. Die Semiotik bietet dazu ein bedeutsames Instrumentarium.

 

Ich schliesse mit einer Frage, die Sie ruhig meiner Blauäugigkeit zuschreiben dürfen. Wenn unsere Umwelt in Natur und Kultur so viel von uns selbst inkorporiert wie uns die semiotisch-ökologische Perspektive aufweist, nämlich eine Art "externe Seele", und wenn sich dieser Gedanke anstelle des "Macht euch die Erde untertan" zu Lebensgewohnheiten umformen liesse: würden wir dann nicht etwas vorsichtiger mit ihr umgehen?

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Literatur

Lang, Alfred (1991) Wohnraum als Aussenraum des Innenlebens Ð ein Dialog zwischen Bürgerin und Wohnpsychologe. (Mit einer Bildgeschichte gezeichnet von Camillle Halter und einem Kasten: Verstehen wir Bauen und Wohnen?) Der Bund (Bern) Nr. 223 (Beilage: "Bauen -- Wohnen 1991") vom 24.9.91.

Lang, Alfred (1992a) Die Frage nach den psychologischen Genesereihen -- Kurt Lewins grosse Herausforderung. Pp. 39-68 in: Schönpflug, Wolfgang (Ed.) Kurt Lewin -- Person, Werk, Umfeld: historische Rekonstruktion und Interpretation aus Anlass seines hundersten Geburtstages. Beiträge zur Geschichte der Psychologie Bd. 5. Frankfurt a.M., Peter Lang.

Lang, Alfred (1992b) Kultur als 'externe Seele' -- eine semiotisch-ökologische Perspektive. (Beiträge zum 2. Symposium der Gesellschaft für Kulturpsychologie, Mittersill, 9.-12.5.91.) Pp. 9-30 in: Allesch, Christian; Billmann-Mahecha, Elfriede & Lang, Alfred (Eds.) Psychologische Aspekte des kulturellen Wandels. Wien, Verlag des Verbandes der wissenschaftlichen Gesellschaften Österreichs.

Lang, Alfred (1993) Toward a mutual interplay between psychology and semiotics. Journal of the Society for Accelerated Teaching and Learning im Druck.

Nöth, Winfried (1985) Handbuch der Semiotik. Stuttgart, Metzler.

Peirce, Charles S. (1986, 1990, 1993) Semiotische Schriften. (3 Bände, mit Einleitungen von Helmut Pape) Frankfurt a.M., Suhrkamp.

Peirce, Charles S. (1992) The essential Peirce: selected philosophical writings. 2 Vols. Bloomington Ind., Indiana Univ. Press.

Slongo, Daniel (1991) Zeige mir, wie du wohnst, … -- eine Begrifflichkeit über externe psychologische Strukturen anhand von Gesprächen über Dinge im Wohnbereich. Diplomarbeit, Januar 1991, Bern, Psychologisches Institut der Universität. (vgl. auch in Allesch et al. 1992, s. Lang 1992b)

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Abstract

The paper proposes to a general public a psychologically practicable version of semiotics. Building upon Charles S. Peirce`s general logic, a triadic semiosis model is sketched and illustrated which emphasizes the role of semiosis to build, in endless developing chains or nets of semiosic conditions and effects, familiar and new representant structures on the basis of existing referent and interpretant structures. Looking at humans developing in a given and changing world, such structures are continually formed both within the person (as a personal mind-brain) and in the environment (as culture in so far such structure formations are largely recursive within a group of people). The conception of a four-phased function circle semiotically elaborating Jakob von Uexkuell`s and Kurt Lewin`s ecological ideas allows to construe, in the same semiotic concepts, of acting and perceiving as well as of innerpsychological and extrapersonal or cultural processes. Internally or externally formed semiosic structures fulfill largely equivalent functions for an acting and developing individual. The present conception proposes semiosis as a general form of causation to deal with developing systems; it embraces traditional necessity conceptions as a special case. Also, the semiosic model proffered appears to be more general than traditional concepts of the sign as object and meaning or common communication models of semiosis.

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