Alfred Lang

University of Bern, Switzerland

Newspaper Column 1992

Unitobler-Denkhaus-Membranen

1992.17

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Bund-Kolumne. Der Bund (Bern) Nr. 208 vom 5.9.92, S.15

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In wenigen Wochen ziehen die ersten Institute der Universität in die Unitobler ein, die frühere Schokoladefabrik in der Längasse, die für die philosophisch-historische Fakultät, die Sozialwissenschaften und die Theologen der Universität umgebaut wird. Die Toblerone-Stätte wird nicht zu einem Denkmal, sondern zu einem Denkhaus, in dem das kulturelle Erbe mit den Mitteln der Wissenschaft geprüft und weitergedacht und an die junge Generation vermittelt wird.

Warum ich jetzt schon, ein halbes Jahr vor dem eigentlichen Bezug und mehr als ein Jahr vor der offiziellen Einweihung davon berichte? Nun, das Denkhaus ist es wert, bedacht zu werden.

In der Unitobler kommen gegen zwanzig Institute zusammen. Sie führen jetzt, über die ganze Längasse und die Innenstadt verstreut, ein teilweise etwas isoliertes Eigenleben. In der Unitobler werden sie, auf Flügel und Stockwerke verteilt, nicht nur ihre Arbeitsräume und Hilfsmittel vorfinden, sondern beim Näherrücken auch ihre Eigenheit im Rahmen eines Ganzen behalten können. Das muss in sozialen Systemen von der Familie bis hin zu Staatenverbänden so sein. Hier möchte ich am Beispiel unserer Bibliotheken zeigen, wie wir uns das vorstellen.

Bücher und Zeitschriften und sonstige Papiere, ergänzt durch Computer-Dateien und -Netzwerke, sind den Kulturwissenschaften ungefähr, was den Volkswirtschaften die Transportsysteme sind. Man kann Gedanken und Sachen zu Freude und Nutzen im kleinen Kreis herstellen, weitergeben, empfangen und gebrauchen. Aber richtig interessant wird erst der Austausch von Ideen oder Waren in einem grösseren Rahmen. Offenes Anbieten und Prüfen und Übernehmen des Neuesten und Besten weltweit. Bibliotheken sind Welt-Märkte der Gedanken.

Gedanken müssen ja in Bücher oder andere Informationsträger "verpackt" werden, damit sie in grossem Masstab weitergegeben werden können. Auch mit Gütern handeln wir nur ausnahmsweise um ihrer selbst willen; denn auch in Handwerks-, Industrie- und Kunstprodukten stecken eigentlich Ideen, mit denen ihre Erfinder, Erzeuger oder Vermittler einen Einfluss auf ihre Abnehmer und Benützer ausüben. Werkzeuge oder Spielzeuge veranlassen ihre Benützer zu bestimmten Arten des Handelns. Raffinierte Agrarprodukte erzeugen besondere Genüsse und wecken neue Begierden. Technischen Geräte erweitern die Handlungsmöglichkeiten, stehlen die Zeit und machen teils abhängig teils unabhängig. Ideen und Waren sind wesentliche Träger der menschlichen Beziehungssysteme, gewissermassen die Körper von Gesellschaft und Kultur.

Deswegen suchen sich ja die Machstrebenden dieser Erde ein Monopol über den Verkehr mit Gütern und Ideen zu verschaffen. Und umgekehrt ist die Befreiung der Menschen aus überschiessender Herrschaft wesentlich dann gewonnen, wenn Individuen und Gruppen über den Austausch von Gedanken und Waren selber verfügen können: Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Handelsfreiheit. Zur Freiheit des Angebots muss freilich die Freiheit des Auswählenkönnens hinzukommen, des Bildens meiner und unserer eigenen Kultur.

Aber von Waren wie von Büchern kann der Mensch offenbar nie genug bekommen. Sind mehr Bücher und mehr Güter auch bessere Ideen und Beziehungen? Dieses Jahrhundert kennt eine nie dagewesene Vermehrung von Dingen und von Information. Sie drohen die Menschen zu überschwemmen und zu ersticken. Auswählen wird immer wichtiger. Auch die modernen Bibliotheken wachsen ins Gigantische -- oder würden so wachsen, wenn man ihnen die Mittel dazu gäbe.

Die Planer unseres Unitobler-Denkhauses wollten uns eine zwar kleine, aber moderne Bibliothek geben: eine übersichtlich klassifizierte, zentral verwaltete, wohlgeregelte "Fachbereichsbibliothek". Wir haben ja heute an 18 Standorten je unsere besonderen Büchereien, in die wir unsere Studierenden sorgfältig einführen und die wir unseren Gästen mit Stolz und Freude zugänglich machen. Wir sollten unser Bibliothekswesen rationalisieren, wurde geltend gemacht. Und als staatliches Gut müssten die Bücher öffentlich zugänglich sein.

Die Mitglieder der philosophisch-historischen Fakultät haben sich in weitgehendem Konsens gegen die "zeitgemässe Modernisierung" gewehrt. So ordentlich "manage-bar" sind eben die Inhalte unserer Bücher nicht. Eher gleichen unsere Bibliotheken einem Labyrinth, in dem man sich auskennen lernen muss. Wir brauchen fachbezogene Bibliotheken, die ihre Identität zeigen und mit denen die Lernenden aller Stufen in der täglichen Arbeit in direkte "Berührung" kommen. Natürlich wird man im gleichen Haus oft gebrauchte Bücher nur noch ausnahmsweise mehrfach kaufen müssen, und selbstverständlich sind unsere Bücher der ganzen Universität und auch Aussenstehenden zugänglich. Aber in erster Linie sind sie die täglichen Arbeitsinstrumente unserer Mitarbeiter und Studierenden.

Sind wir mit dieser Haltung von gestern oder von übermorgen? Die Zeit wird es weisen. Wir haben mit klugen Architekten und verständigen Kantonsvertretern eine Lösung erarbeitet, die uns und unseren Nachfahren erlaubt, ohne grossen Aufwand zwischen drei Varianten der Bibliotheksorganisation zu wählen und bei Bedarf auch umzustellen. Die eine Extremvariante ist die moderne Fachbereichsbibliothek, in die alle Institute ihre Bücher einbringen: ein zentralverwalteter Grossraum mit schrankenloser Durchlässigkeit. Am andern Extrem liegen die getrennten Institutsbibliotheken, jede mit ihrem eigenen, unverwechselbaren Profil, ein "Hag" drum herum: eigentlich wie bisher, nur jetzt dann in einem grossen Haus. Die dritte Variante liegt dazwischen. Sie folgt dem Membranprinzip. Membranen sind eine Errungenschaft von lebenden Systemen: die Zellmembran, die Haut etc. Sie erlauben Lebewesen, gleichzeitig in sich geschlossen sich selber und in ihre Umwelt hinaus offen zum Geben und Nehmen bereit zu sein. Gilt das nicht auch für Institutionen aller Art? Abgrenzungen die zum Durchgehen einladen und doch eine Schranke setzen: dort du, hier ich -- was wollen wir miteinander austauschen?

Wir werden mit einer gemischten Organisation beginnen: einige Institute mit geschlossenen Schranken, einige mit Membranen zu ihren Nachbarn. Ich glaube, die meisten Bibliotheksnachbarn werden mit der Zeit zum Membranprinzip übergehen. Dass sie, wenn zu viele Bücher geklaut würden, die Schranken wieder schliessen könnten, wird ihnen die Sicherheit geben, sich gegenseitig zu öffnen. Ein europäisches Modell?


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