Alfred Lang

University of Bern, Switzerland

Newspaper Column 1992

Progressive Ver-Ameisung?

1992.13

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Bund-Kolumne. Der Bund (Bern) Nr. 20 vom 25.1.92, S.15

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Was für ein Leben soll ich für meine Enkelchen wünschen? Für welchen Lauf der Dinge soll ich mich einsetzen? Sollen sie ein Leben haben wie Ameisen oder sollen sie -- ich bin versucht zu sagen: wie Menschen -- ihr Leben in einem Verband führen, den sie in seinen wesentlichen Zügen gemeinsam selber mitbestimmen?

Meine Antwort ist eindeutig. Diese relative Eigenständigkeit von Individuen und Gemeinschaften -- man hat sie langezeit "Freiheit" genannt und dabei das Wörtchen "relativ" oft leichtfertig unterdrückt -- ist ein so hohes Gut, dass ich mir nicht vorstellen kann, die Generation meiner Enkel und deren Kinder würden sie ausschlagen wollen. Denn müsste man nicht aufhören, von Menschen zu reden, wenn es keine mehr gäbe, die ihre Ideale für wichtiger halten als ihr Leben oder ihren Wohlstand?

Ver-Ameisung? Nun, ich vereinfache, wie es sich für eine Zeitungskolumne gehört. Das Ameisenleben ist ein recht treffendes Bild für die Preisgabe dieser Eigenständigkeit von Personen und Gemeinschaften zugunsten des simplen "Funktionierens" der ganzen Gesellschaft. Ist das nicht der Zustand, auf den die Menschheit nach dem Willen ihrer Führungsschichten sich hinbewegt? Wir sind uns selbst über den Kopf gewachsen. Und als Heilmittel empfiehlt man uns die totale Vernetzung und Verkabelung aller mit allen. Funktionieren als höchstes Ziel. Den europäischen Binnenmarkt, den weltweiten Freihandel, die Überschwemmung mit überflüssigen Nachrichten und Dienstleistungen, mit unerwünschten Gütern und Arbeitskräften. Obwohl doch schon überall zu viele zu viel arbeiten und überall zu viele gar nicht arbeiten können.

Im Ameisenstaat, wie wir ihn ja treffend nennen, ist die Funktionalisierung von unglaublicher Perfektion. Die einzelne Ameise ist nur scheinbar ein Individuum, sie ist vielmehr vollständig in das Ganze ihres funktionierenden Staates eingespannt. Die Abhängigkeit aller vom Ganzen ist nahezu total. Es gibt Arten mit einer starken Zentralisierung der Koordination, andere sind gewissermassen quasi-"demokratisch". Aber jede einzelne Ameise hat vielleicht so viel Einfluss auf das Ganze wie ein einzelner Bürger in einem grossen Staat mit seinem Wahl- oder Stimmzettel: keinen.

Was nämlich die einzelne Ameise jederzeit tut, ist zur Hauptsache bestimmt von einem System von chemischen Botschaften, den Pheromonen, die von den verschiedenen Staatsangehörigen ausgegeben werden, und deren Wirkung auf das Handeln aller so zwingend ist wie bei den Menschen die letztendliche Wirkung von Gesetzen und Vorschriften. Natürlich hat auch die Ameise ihre kleinen "Spielräume". Ob sie auf der "Autobahn" zu den Futterplätzen, die durch die Duftstoffe der Vorgänger markiert ist, links oder rechts ausweicht, ist ihre Sache; ebenso ob sie diese oder jene Blattlaus melkt.

Um das Bild nicht zu strapazieren, sollte ich anfügen, dass die Ameise um ihre kleine "Freiheit" wohl nicht weiss und sie also im Unterschied zum Menschen nicht geniessen und ausweiten kann. Und natürlich kommt keine Ameise in die Lage, Pläne für die Zukunft zu machen, eine Interessengruppe oder Partei zu gründen oder ihren Einfluss auf andere gegen den Einfluss der andern auf sie selbst auszuhandeln.

Das Kontrollsystem der Ameisen ist eben dort, wo die Pheromone wirken, zwingend, direkt und unentbehrlich. Eine einzelne Ameise, die aus dem Einflussbereich hinausgerät, ist verloren. Ausbrecher und Aussteiger gibt es keine; es besteht daher auch kein Bedarf wie so oft bei den Menschen, über mutwillige und harmlose Abweichler mit allen Druckmitteln herzufallen. Man kann im Ameisenleben also ein Prinzip des totalen wechselseitigen Einflusses ausmachen, welches das Überleben des Staates, das Funktionieren der ganzen Gesellschaft wunderbar sichert. Aber auf die einzelne Ameise kommt es dabei nicht an; sie ist auswechselbar.

Man kann sich des Eindrucks schwer erwehren: so etwas wie eine Ver-Ameisung der Menschen sei seit einiger Zeit im Gang. Warum eigentlich, wenn doch dieser Mensch sich homo sapiens sapiens (klug und weise) nennt?

Hat jemand etwa ein Interesse daran? Ist es wirklich der einzige gangbare Weg, die bösen Folgen der übersteigerten Individualisierung des abendländischen Menschen durch ihre weltweite Ausdehnung und durch die Verdichtung der Kontrolle zu bekämpfen. Sekundäre Ver-Ameisung des Menschen: wie kann ich das meinen Enkelchen und ihren Kindern ersparen?

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