Alfred Lang

University of Berne, Switzerland

info@langpapers.org

Newspaper Column 1991

6 KB @Educ @CuPsy

Bund-Kolumne. Der Bund (Bern) Nr. 304 vom 10.8.91, S.11

 

Träumerei zum Schuljahrsbeginn


Weil ich von Schule nach dem Urteil von Zuständigen ja gar nichts verstehe, habe ich mir gedacht, ich könnte ein bisschen von meinen Erfahrungen aus einem Land ohne Schule erzählen.

Da bin ich also herangewachsen: mitten im Leben. Um mich herum waren, so früh ich mich erinnere, Menschen aller Art, von launigen Kindern über zielstrebige und andere Erwachsene bis zu ehrwürdigen und lächerlichen Greisen, und übrigens auch mancherlei Tiere.

Nur zwei Minuten von uns lebte eine von Liebe überströmende Dame. Sie hätte mich so gerne ordentlich erzogen. Aber hätte sie es ernsthaft versucht, so hätte sie mich wohl nur selten gesehen. Doch sie war klug und wusste mich zuerst mit ihren Geschichten anzulocken, später öffnete sie mir ihre Schätze, eine kleine, aber ausgewählte Bibliothek. Sie lehrte mich lesen, im doppelten Sinn: Bücher verschlingen und ergründen. Sirup oder Tee dazu, wie sich's für die Lebensart gehört. Manchmal sagte sie, sie hätte jetzt keine Zeit für mich. Bis ich herausfand, dass sie den Vorwand benutzte, um mich noch fester an sich zu binden. Sie war halt ganz und gar vernarrt. Und dennoch eine tüchtige Frau mit viel Verstand. Sie ist jetzt schon sehr alt. Ich besuche sie regelmässig, sooft ich kann. Kein Pflichtgefühl, denn ich weiss, dass ich ihr nie zurückgeben kann, was sie für mich gewesen ist. (Vielleicht hat sie's eben schon damals bekommen.)

Die Leute im Quartier gingen alle fleissig ihren verschiedenen Beschäftigungen nach. In ihren Häusern und drumherum gab es verschiedenartige Lauben, Vorgärten, Schuppen, offene Erdgeschosse, Hallen und Wintergärten, etc., die Arbeitsräume eben. Da konnte man überall ohne extra Vorwand ein Stück weit hinein und sah rasch, ob man gerade willkommen war oder ob man störte, ob jemand Hilfe brauchte oder bewundert werden wollte. Die ernsthafteste Beschäftigung von fast allen: das war ihr Umgang mit uns Kindern. Sie hatten viel, und fast immer, Zeit für uns. Es machte ihnen offensichtlich Spass. Als ich entdeckte, dass ich sie foppen konnte, indem ich ihre Aufmerksamkeit heischte und mich dann entzog, kam ich mir schön gross vor. Bis ich selber frustriert war, als bald der Schreiner, dem ich so gerne zuschaute, meine kleinen Hilfsangebote verschmähte und seine Aufträge an meinen jüngeren Bruder vergab.

Erst später ging mir auf, warum wir uns so viel Zeit für unsere Kinder nehmen, für die eigenen wie für die unserer Nachbarn und Freunde. Und warum wir sie nur ausnahmsweise in den wenigen Stunden hochkonzentrierten Arbeitens vorübergehend wegweisen. Es kam nämlich einmal ein Besucher aus einem fremden Land, der erzählte, dort würden die Kinder nach wenigen Lebensjahren in besonderen Häusern, Schulen genannt, an Spezialisten übergeben, um sie aufs Leben vorzubereiten. Viele Leute verlören dann über kurz oder lang fast jeden Einfluss auf ihre Kinder und diese verlören das Interesse an ihren Eltern, und wenn sie einander nicht aus dem Wege gingen, so würden sie nicht selten heftig oder dumpf miteinander streiten. Die meisten Leute würden dann nur noch für ihre Lebensprojekte leben, und wenn diese scheiterten, dann seien sie oft auch persönlich erledigt. Die Schule sei nur eines ihrer vielen gigantischen Kollektiv-Projekte; man könne es, wie die andern, nicht mehr wenden oder stoppen. Überdies seien sie daran, ihre Umwelt und einander selbst mit ihren überdimensionierten Unternehmungen fast völlig zu zerstören. Hoffentlich hat er ein wenig übertrieben.

Aber bei uns ist es eben so, dass Kinder ein unentbehrlicher Bestandteil all unserer Pläne und Unternehmungen sind. Man denkt gar nicht daran, so selbstverständlich ist das. Aber es ist doch logisch! Wie leicht könnten sonst unsere Projekte, wenn die Kräfte nachlassen, von Leuten übernommen werden, die davon überhaupt nichts verstehen, und dann wäre doch auch unser Einsatz für nichts gewesen. Kinder, die von klein auf dabei sind, verstehen eben etwas davon. Und wenn sie dann übernehmen, wissen wir's nicht nur in guten Händen, wir können uns auch freuen, wenn sie, zusammen auch mit neuen Partnern, unsere Sache noch besser, noch origineller, eben auf ihre Weise neu machen. Ich habe mich schon gefragt, ob sie in dem Land mit den Schulen so viele Kinder machten, weil sie so wenig von ihnen haben. Aber davon verstehe ich auch zu wenig.

In allen Häusern hatte es natürlich auch Bereiche, wo man normalerweise nicht hineinkam. Ein verstohlener Blick aus der Halle durch eine Tür konnte mich manchmal schön neugierig machen. Wie konnte ich nur an jene Sammlung von ausgestopften Vögeln herankommen? War das eine Freundschaft mit einem Knaben wert, den wir oft genug verlachten? Mit einem verkürzten Bein konnte er halt nicht alles mitmachen. Aber es lohnte sich, eine Weile die Hänseleien der andern auch auf mich zu ziehen. Aus der Zweckfreundschaft wurde nämlich sehr viel mehr. Er ist mein Freund bis heute. Und warum hatte ich eigentlich bisher nicht gesehen, wie toll seine Schwester war?

Es gäbe noch viel zu erzählen aus meinem Traumland ohne Schule. Zum Beispiel von den Tieren, die mich formten, oder von den "Kinderspielen" -- so nannte der Mann aus dem fremden Land, was wir bei uns alle den ganzen Tag lang tun. Wir haben eben kein Wort dafür. Und unter Wörtern wie Freizeit, Arbeit, Musse, Stress und andern, die er in einem Selbstgespräch vor sich hin murmelte, konnte ich mir nichts rechtes vorstellen. Der Mann kam, wie er sagte, aus "Europa". Aber ich muss aufhören, weil die Kolumne sonst zu lang wird.

Doch Sie können ja auch selber weiterträumen. Wenn Sie nicht können, dann sind Sie schulgeschädigt; wenn Sie nicht wollen, dann sind Sie schulgläubig und haben jetzt allen Grund, mich als einen vom sommerlichen Hitzeschlag Getroffenen zu bedauern. Und wenn ich auch nach dem Abkühlen noch denke, die Schule sei eine der dümmsten Erfindungen, welche die Menschen je gemacht haben, dann ist mir halt wirklich nicht zu helfen.


Alfred Lang's Homepage | Top of Page

© 1998 by Alfred Lang, scientific and educational use permitted, last revised 00.12.16