Alfred Lang

University of Berne, Switzerland

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Newspaper Column 1991

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Bund-Kolumne. Der Bund (Bern) Nr. 45 vom 23.2..91, S.15

 

Schulorganisation


Harmloseres bitte! Dem gutgemeinten und berechtigten Wunsch eines Kollegen kann ich mich schwer verschliessen.

Mit meinen blauen Augen beobachte ich also Alltägliches, beispielsweise Formen menschlichen Zusammenlebens. So wie es rings um uns alle herum sich abspielt. Da bilden sich Gruppen, wenn Menschen gemeinsam eine Aufgabe lösen oder gemeinsam sich am Leben freuen. Und diese Gruppen sind fast ausnahmslos rollendifferenzierend organisiert.

RollendifferenzierendeGruppen sind erfolgreich, weil jedes Mitglied über das gemeinsame Ziel hinaus an jedem andern Mitglied ein je besonderes Interesse hat. Rollendifferenzierung macht interessante und leistungsfähige Gruppen, weil im günstigen Fall immer eines der andern Gruppenmitglieder gerade jene Kenntnisse und Fähigkeiten einbringt, die man selber nicht hat und die doch der Leistung und Freude zugute kommen. Nur rollendifferenzierende Gruppen ermöglichen es Menschen, einer Gemeinschaft anzugehören, indem sie sich selber sind, und zugleich sich selber zu werden, indem sie einer Gemeinschaft dienen.

Man betrachte die Arbeitswelt. Je mehr Menschenkraft im Lauf der Geschichte durch Maschinenkraft ersetzt wurde, desto wichtiger ist die Rollendifferenzierung geworden. In der Landwirtschaft ist es lange sinnvoll gewesen, dass viele Personen im Gleichtakt dasselbe taten. Tätigkeiten wie Fischen oder Bauen oder Handel waren aber immer schon rollendifferenzierend organisiert. Heute ist Güterproduktion ohne Zusammenarbeit unterschiedlicher Spezialisten unmöglich. Dienstleistungen sind undenkbar ohne differenziert organisierte Teams.

In der Sport- und Spielwelt gibt es noch Relikte von Rollenparallelisierung. Etwa wenn alle gleichzeitig 100m weit rennen. Vergleichen machen gelegentlich Spass, aber Team-Sport gibt jedem seine Chancen. Sogar die Armeen der Welt pflegen die Gleichschaltung nur noch in der Als-Ob-Situation des Exerzierens. Man stelle sich Kinderspiel, Musikmachen oder Theater ohne Rollendifferenzierung vor!

Die rollendifferenzierende Gruppe par excellence ist die Familie - nur drohen ihr die Rollen auszugehen.

So gibt es heute eigentlich nur noch einen nach dem Prinzip des "alle gleich!" organisierten Lebensbereich. Das ist seltsamerweise ausgerechnet jene ernsteste Als-Ob-Welt, von der behauptet wird, sie sei die unverzichtbare Lebensvorbereitung.

Sie haben es erraten: es ist die Schule, von der Volksschule bis hin zur Hochschule, welche stark verschult ist und unter dem wachsenden Andrang und den stagnierenden Mitteln ihre Existenzchance auch noch in der Gleichbehandlung der Studierenden zu sehen scheint.

Um nicht Missverständnisse aufkommen zu lassen: ich rede von der Schulorganisation, nicht von der schulischen Wirklichkeit. Lehrerinnen und Lehrer sind interessiert an der Eigenart von Kindern und wollen differenzieren helfen. Im Schulalltag müssen sie jedoch zunächst gegen widersinnige institutionelle Bedingungen ankämpfen: das sind zum Beispiel die Jahrgangsklassen, das sind die Lehrpläne und Stundentafeln, das ist die Autokratie des Ein-Lehrer-als-Herr-über-zwanzig-Schüler. Über Folgen dieser Schulorganisation wären etliche Kolumnen zu schreiben. Denn es ist die primitivste aller Rollendifferenzierungen: einer gegen alle andern, alle gegen eine. Schulorganisation ist eben Macht- und damit auch Männersache.

DieJahrgangsklassen: Sind denn wirklich alle Kinder desselben Jahrgangs gleich? Und können Kinder nicht viel besser von Personen und in Situationen aller Art als von einzelnen Lehrern lernen und dann eine Sache am besten verstehen, wenn sie sie rollenwechselnd weitererklären?

DieStundentafeln: Die sind fast so gewalttätig wie das Fernsehen, das auch in alle Stuben die gleiche Kost liefert und dann abbricht, wenn ein Thema wirklich packt, weil man nun schon etwas davon versteht.

DasautokratischePrinzip: Schule ist institutionalisiert worden, bevor im 19. und 20. Jahrhundert unsere demokratischen Gesellschaften entstanden sind. Das merkt man ihr an. Die Kinder merken es natürlicherweise zu spät und können nicht viel Sinnvolles dagegen tun. Es den Lehrern zu verleiden, verschafft wenigstens etwas Luft. Sonst halt resignieren für den Rest des Lebens. Wohl zum Schaden für die Demokratie.

Ist Schulorganisation heute bloss Trägheit, oder sollte sie immer noch Methode haben? Über Harmloses schreiben, bitte! Wohin habe ich nur wieder meine rosa Brille verlegt?

Seltsam, den Kindern Mündigkeit zu versprechen und sie im Gleichtakt für eine Welt vorzubereiten, die es nicht mehr gibt. Aber Gleiche sind halt leichter durch Gleiche ersetzbar. Von der Lehrerschaft dürfen wir Impulse kaum erwarten. Keine Zunft schafft sich freiwillig selber ab. Aber als Menschen und als Bürger, das weiss ich, möchten viele kräftig an der Schulorganisation rütteln.

Übrigens: glauben Sie, geneigte Leserin und geneigter Leser, dass es leichter sein wird, eine demokratische Schulorganisation im 350-Millionen-Europa als zum Beispiel im 800'000er Kanton Bern zu erfinden? Wo wir doch hier schon nur über begeisternde Nebensachen spiegelfechten: über Schuljahrsbeginnkoordination und abstruse Abschnittbildungen wie 4/5, 6/3 und 5/4 etc.


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© 1998 by Alfred Lang, scientific and educational use permitted, last revised 98.03.05