Alfred Lang | ||
Unpublished Lecture Script 1991 | ||
Die Sekundärsysteme und das Freiheitsproblem | 1991.08 | |
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Ausschnitt aus einem Vorlesungsskript "Grundfragen Psychologie von aussen her: Entwürfe für ein komplementäres Lernbuch. Allgemeine Psychologie / Spezielle Psychologie " (1990/91) | © 1998 by Alfred Lang | |
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Kommentar 1996
- 1. Das Freiheitsproblem
Die nachstehenden Texte entstammen einem in der Vorlesung 1991 abgegebenen und diskutierten Skript zu einer Vorlesung Grundfragen der Allgemeinen / Speziellen Psychologie von 1988 bis 1991, welche eine integrative Sicht dieser Wissenschaft unter Betonung ihres ökologischen Charakters und in noch rudimentärer Weise ihres Kulturbezugs anbot. Semiotische Gesichtspunkte sind ebenfalls erst in ihren Anfängen berücksichtigt. Die hier vorgelegten Ideen haben überdies noch nicht von den durch Herders Einsichten gewonnenen Konzeption vom Menschen in der Kultur gewinnen können, besonders was das linguistische System (vgl. Besonnenheit) und das Selbstsystem betrifft (vgl. Humanitätsidee). Der Ausschnitt führt anhand des Freiheitsproblems in die Begründung sogenannter Sekundärsysteme ein, deren vier anschliessend in Grundzügen skizziert werden.
Der Grundgedanke von Sekundärsystemen innerhalb der psychologischen Organisation im engeren Sinn (also intrapsychisch, in der Terminologie der semiotischen Ökologie im IntrA-Bereich) ist einfach. So wie die primäre intrapsychische Organisation, von den Instinkten bis zu dem, was etwa als Kognitions-, Emotions- und Motivationssysteme bezeichnet wird, als sekundär zu den direkten Gegebenheiten der umgebenden Welt verstanden werden kann (im folgenden aber, unter psychologischer Perspektive, als Primärsystem bezeichnet), so kann innerhalb dieser intrapsychischen Organisation, wenn sie in der Phylogenese einen hohen Differenzierungsgrad erreicht hat, eine sekundäre von einer primären Funktionsebene unterschieden werden (hier als das Sekundärsystem bezeichnet).
Das Primärsystem schaft gegenüber dem Weltsystem ein Minimum an Distanz und relative Unabhängigkeit. Es macht aus einem passiven und der Umwelt voll ausgelieferten Teil der Welt etwas, was dieser umgebenden Welt gegenüber auch relativ widerständig ist, eben lebt und ihren Fährnissen relativ widersteht. Das Primärsystem schafft zunächst einmal aus der relevanten umgebenden Welt eine Umwelt dieses Organismus, bzw dieser Spezies, der er angehört, insofern nur noch eine Rolle spielt, was sich im Lauf der betreffenden Stammesgeschichte als förderlich erwiesen hat. Zum Primärsystem gehören u.a. auch Gestimmtheiten, so dass etwa die Reflexe und Instinktausstattung das Lebewesen nicht zum reinen Automaten machen, sondern ermöglichen, dass dieses System gewissen Umständen, inneren und äusseren gemäss, selektiv funktioniert. Seinen unermesslichen Wert für das Bestehen einer organismischen Struktur gewinnt das Primärsystem also, indem es gegenüber dem Weltsystem selektiv sein kann und mit Erfolg so ist. Es bildet sich also nicht die Welt eins zu eins ab, sondern macht sich ihr eigenes, partikuläres Modell davon, sei es zunächst einfach artspezifisch, in differenzierten Spezies auch zusätzlich individual-erfahrungsspezifisch. Durch die Verlagerung vieler vitalen Funktionen auf die Ebene des Primärsystems gewinnt das Tier eine gewisse Freiheit von seiner Umwelt. Bei Pflanzen und bei Tieren ohne Nervensystem kann man wohl entsprechende Funktionen nicht oder kaum finden (ein Minimum davon mag durch humorale Darstellungs- und Operationssteuerungssystem freilich schon geleistet werden).
Sekundärsysteme verdoppeln genau dieser Verlagerung, indem vom Primärsystem noch ein zweites Mal eine selektive und klar unvollständige, dh auch vereinfachende Modellbildung (wie beim Primärsystem Darstellung der Umgebung zusammen mit den Arten und Weisen sinnvollen Umgangs mit ihr) vorgenommen wird. Wir haben sie zunächst im Jargon der Mitarbeitergruppe als "Partialverdoppelung" bezeichnet. Damit gewinnt das Lebewesen einen weitergehenden Grad an Freiheit von den unmittelbaren Bedingungen und überdies so etwas wie Freiheit zu Entwicklungen, die also nicht als bestehende Einflüsse oder Bedingungen einschränken, sondern nur als Entwürfe in symbolischen Formen bestehen, aber als Richtlinien die wirkliche Entwicklung mitbedingen.
In beiden Fällen handelt es sich semiotisch verstanden um Symbolisierungen, dh eigentlich arbiträre Strukturen, die mit ihren externen und internen Referenzen aber durch ein Minimum an ikonischer und indexischer Bezugnahme verbunden sind. Dies legt nahe, dass im Sekundärsystem mehr als im Primärsystem so etwas wie Probehandlungen möglich sind und mithin ein Umgang mit möglichen Zukünften.
Wiederum semiotisch verstanden nehmen die vier vorgeschlagenen Sekundärsystem bezug auf die Peirce'sche Differenzierung von Zeichen in ihrem Bezug zur Referenz:
(1) Im bewussten Erleben ist ein primär indexischer Vorgang zu sehen: das Erleben selektioniert und akzentuiert; es stiftet primitive Beziehungen zum vorausgehenden und zu bestenfalls einer Auswahl von nachfolgenden Zuständen. Es gibt keinen vernünftigen Grund, aus dieser sekundären Funktion, die wohl in ihrem Ursprung verhältnismässig primitiv ist und mit Momenten der Aufmerksamkeit in Verbindung gebracht werden kann. Ich vermute, dass eine solche Funktion bei den meisten differenzierteren Tierarten nachzuweisen ist. Inwieweit dies notwendig mit einer phänomenalen Manifestation von Erleben verbunden ist, entzieht sich unseren Erkenntnismöglichkeiten. Der Vorteil dieser Konstruktion ist eben gerade, dass sie eine strukural-funktionale Konzeption von Erleben anbietet und damit die Vermischung von phänomenologischer und konstruktiver Wissenschaft vermeiden kann.
(2) Das phylogenetisch differenziertere Sekundärsystem ist ikonischen Charakters und kann mit allen räumlich-zeitlichen Relationen und eben bildhaften Momenten (Anschauungen, Anmutungen etc.) und mit der Welt der unmittelbaren und gedächtnisbasierten Vorstellung in Verbindung gebracht werden. Natürlich kann das Imaginationssystem mit dem Erlebenssystem gekoppelt operieren. Eine wichtige Frage empirischen Charakters betrifft die synthetisierende Rolle des Imginationssystem: seine Hauptkategorie dürfte im Konzept der Ähnlichkeit zu finden sein. Auch mit imaginativen Sekundärsystemen sind wohl eine ganze Reihe von Tierarten ausgerüstet.
(3) Nur in wenigen Tierarten finden wir Andeutungen und nur beim Menschen ein ausentwickeltes linguistisches Sekundärsystem. Seine Funktionsweise beruht auf der Festigung von symbolischen Elementen und Weisen ihrer Kombinatorik, wie sie Sprechsprache und Denksprache vollziehen. Das Sprachsystem ist das symbolische Sekundärsystem par excellence. Es erweitert die Möglichkeiten des Spiels mit Modellen, das Als-Ob überhaupt in ganz beträchtlicher Weise.
(4) Schliesslich scheint die Annahme fruchtbar, das Zusammenspiel dieser Sekundärsystem, die so vielfältige Möglichkeiten (Freiheiten) eröffnen mit einem Subsystem zu ergänzen, dessen besondere Rolle die Lösung von Konflikten unter den anderen einschliesslich des Primärsystems betrifft. Nicht dass ich meine, es wäre sinnvoll, die alte Philosophen- und Theologenvorstellung von der Einheit des Bewusstseins in einem Selbst-Sekundärsystem wiederaufleben zu lassen. Allzusehr ist eine solche Vorstellung mehr Wunsch als Wirklichkeit. Und doch kann das gesamte Sekundärsystem seine Aufgabe nur erfüllen, wenn es allzu weitgehende Differenzierungen und Eigenständigkeiten seiner Teile zu mildern nach erfülltem Exzess wieder in einheitlichere Bahnen zu leiten versteht. Das Selbstsystem ist demnach eher als eine syntaktisch-pragmatischer Regulationsweise über alles zu verstehen, denn als eine direkter semantische Bezugnahme auf etwas.
(Herbst 1996)
1. Freiheit -- Wie gewinnt der Mensch jene gelebte und erlebte Freiheit des Entscheidenkönnens, des eigenen, willentlichen Handelns?
1.1. Freiheit bei Tier und Mensch
Der Funktionskreis und Binnenstruktur der psychischen Organisation, wie sie bisher beschrieben wurden, können so oder ähnlich für alle höher organisierten Lebewesen, insbesondere Wirbeltiere konstruiert werden. Neben dem Menschen denke man an die meisten Säugetiere, insbesondere an die sog. Menschaffen, aber auch an Fische und Vögel, ja in gewisser Hinsicht auch an Reptilien, Amphibien und sogar an Gliederfüssler, insbesondere Insekten, kurz an alle Tierstämme, die über ein differenzierteres Nervensystem verfügen. Zumindest die gestellten Fragen, aber auch ein Teil der Antworteversuche - vielleicht mit Ausnahme der Erwägungen zur Ganzheitlichkeit (Person) - sind gültig. Bei der zwischenartlich vergleichenden Psychologie wird darauf zu verweisen sein. (Für Überblick: Eibl-Eibesfeldt 1980, Hinde 1966).
Beobachtet man Tiere, so kann man sich dem Eindruck der recht strikten Regelhaftigkeit ihres Verhaltens, gemischt mit einem Schuss Zufälligkeit, umso weniger entziehen, je ursprünglicher in der Phylogenese die betreffende Art anzusiedeln ist. Umgekehrt attribuieren wir bei höheren Tieren, zumindest in gewissen Lebenssituationen, eine gewisse Lösung von solchen Automatismen des Verhaltens, die uns umso stärker beeindrucken können, je mehr wir mit einem bestimmten Tierindividuum vertraut geworden sind (man vergegenwärtige sich gewisse Verhaltensweisen seines Hundes, seiner Katze, seines Pferdes, gewisser Vögel usw.). Möglichkeiten des Treffens "freier" Entscheidungen schreiben wir traditionell ausschliesslich unserer eigenen Art zu, ohne freilich deren Bedingungen ausreichend zu verstehen.
Während früheres Nachdenken über Freiheit von der Setzung eines scharfen Schnittes zwischen Mensch und Tier bestimmt war - für Descartes war das Tier eine Maschine, für die meisten religiös bestimmten Welt- und Menschenbilder war nur der Mensch ein beseeltes Wesen - sind wir heute bereit, einen viel fliessenderen Übergang anzunehmen. Hier steht aber nicht die Frage der Schärfe des Schnittes oder des Unterschiedes zwischen Mensch und Tier zur Diskussion; es gibt sowohl Unterschiede wie Gemeinsamkeiten. Vielmehr wollen wir unsere Konstruktion der psychischen Organisation mit Bestandteilen zu ergänzen versuchen, die den angedeuteten Tatsachen einer gewissen Freiheit des Entscheidens Rechnung tragen können. Freiheit heisse zunächst nicht mehr, als dass Entscheidungen oder Handeln uns weder rein zufällig noch voll determiniert erscheinen, wofür wir gerne eine Erklärung hätten.
1.2. Freiheit nur eine Täuschung?
Bevor wir die Frage als Sachverhaltsfrage behandeln, sollten wir uns mit der Möglichkeit kurz beschäftigen, dass das Erscheinungsbild der Freiheit bloss ein Ergebnis einer bestimmten Wahrnehmungsbeschränkung darstellen könnte. Wenn wir von einer Erscheinung die Ursache(n) nicht ausfindig machen können oder nicht zur Verursachungsattribution an eine fiktive Instanz bereit sind, sprechen wir heute idR von "Zufall". Spätere Kenntnis der notwendigen und hinreichenden Ursache(n) ersetzt diesen vorläufigen Erklärungsversuch augenblicklich durch einen Determinismus (oder eine engere Wahrscheinlichkeitsbeschreibung, soweit Messfehler, Störfaktoren, etc. einbezogen werden müssen). So gesehen wäre nicht auszuschliessen, dass die Wahrnehmung von Freiheit ihren Ursprung eher in uns selbst und nicht so sehr in unserem wirklichen Verhältnis zur Welt hätte.
Von Freiheit des Handelns und Entscheidens zu reden, meint aber wohl auch etwas ausserhalb dieser simplen Dichotomie des Erkennens zwischen determiniert und zufällig. Es ist eine Charakterisierung, die nur Lebewesen, insbesondere eben Menschen, zukommen kann, und die wir in letzter Konsequenz nur dann beiziehen (sollten), wenn wir eigentlich alle in Frage kommenden Bedingungen für zwei oder mehr Alternativen des Handelns zu kennen glauben und alles dafür spricht, dass keine der Alternativen gegenüber irgendeiner andern zum vornherein irgendwelche Bevorzugung aufweist. Wenn wir einen Menschen unter solchen Umständen eine Option wählen sehen, ohne bei voller Kennntnis aller relevanten Bedingungen seine Wahl vorhersagen zu können, nur dann sollten wir von Freiheit sprechen.
Es ist offensichtlich, dass diese Bedingung der Kenntnis aller relevanten Bedingungen in Realität des Lebenden oder des Psychischen nie zutrifft, und damit ist die Fage, ob es überhaupt Freiheit gibt, faktisch nicht beantwortbar. Praktisch bedeutsam ist dann vielmehr die Tatsache, dass es nicht möglich ist, alle relevanten Bedingungen zu kennen. Dadurch wäre Freiheit, praktisch gesehen, durchaus eine Tatsache, obwohl theoretisch Determiniertheit bestehen könnte.
1.3. Freiheit und Verantwortung
Anderseits können wir den Begriff und die Möglichkeit von Freiheit nicht aufgeben, wenn wir nicht eine entscheidende Bedingung des menschlichen Zusammenlebens zugleich aufgeben wollen, nämlich die Idee der Verantwortlichkeit. Nur dann wenn wir dem Andern (und uns selber) zugestehen, dass sein Handeln nicht aus einem Automatismus bestimmt war, können wir uns erlauben, ihn (uns) für sein Handeln zur Rechenschaft zu ziehen, sei es, indem wir unerwünschtes (?) Handeln mit Schuldhaftigkeit in Verbindung bringen und/oder dafür Strafen androhen und Sühne fordern, sei es, dass wir erwünschtes Handeln loben, belohnen, als Vorbild bewerten. Im Rechtswesen der meisten Gesellschaften gibt es dafür implizite oder explizite Setzungen und Ausführungsregeln. Es ist leicht zu sehen, dass aus dem Verantwortlichkeitsprinzip die Forderung der Tatsache von Freiheit abzuleiten ist. Im Anschluss an die Frage nach der Täuschung über Freiheit müssen wir also die Frage offenlassen, ob Freiheit eher als eine Tatsache oder eher als postulierte Voraussetzung einer Lebensform in einer Gesellschaft zu betrachten sei. Für die gelebte und erlebte Wirklichkeit ergibt sich daraus freilich kein Unterschied. Wer sich umbringen kann, ist wirklich frei, ob er es tut oder nicht (vgl. etwa Carl Amérys Essay "Hand an sich legen")
Vielleicht ist es gut, Freiheit begrifflich in drei konzentrischen Kreisen zu sehen: (a) Anthropologisch beschreibt Freiheit eine (von mehreren möglichen) Grundverfassung von Lebewesen; (b) empirisch-wissenschaftlich (biologisch-psychologisch) meint sie ein bestimmtes (angeborenes oder erworbenes) Verhältnis des Lebewesens zu sich selbst, nämlich ob es wollen muss oder wollen kann; (c) praktisch oder aus der Sicht seiner Umwelt ist sie die Möglichkeit eines Lebewesens, das zu tun oder zu lassen, was es will. (In Anlehnung an Hist. Wb. Philo.) In unserem Zusammenhang ist primär der zweite Kreis des Wählenkönnens angesprochen.
Es gibt viele Lebensbereiche, wo solche Wahlfreiheit und die zugehörige Verantwortlichkeit alltäglich und trivial sind. Es kann sein, dass anhand trivialer Beispiele, wie sie manche Philosophen anylsieren und zu Ende denken, das Entscheidende im Hinblick auf eine gültige Ethik herausgeschält werden kann. Anderseits ist nicht zu übersehen, dass verschiedene menschliche Gesellschaften gerade im Umgang mit wesentlichen Freiheiten und Verantwortlichkeiten starke Unterschiede zeigen. So ist etwa die Bewertung des Lebens und des Tötens von Menschen, Angehörigen der eigenen Gesellschaft und Fremden, oder von Tieren, unter diesen oder jenen Umständen, sogar innerhalb einer Kultur, oft einem erstaunlich starken Wandel unterworfen. Man denke etwa in unserer Kultur an den Wandel in der Bewertung der Selbsttötung, einem Feld, wo vielleicht die Bedeutung der hier untersuchten Freiheitsfrage am allerdeutlichsten erkennbar ist.
Es ist jedoch nicht üblich, die Freiheit als eine Konstruktion zu erschliessen aus dem Artenvergleich, aus der praktischen Unmöglichkeit ihrer Widerlegung oder aus ihren tatsächlichen gesellschaftlichen Konsequenzen. Freiheit wird nicht nur gelebt, sondern von Individuen vor allem andern erlebt. Eher wahrscheinlich ist also, dass die Idee von Freiheit ihrem Erleben entprungen ist. Insofern kann sie als eine erklärungsbedürftige Erscheinung verstanden werden. Auch wenn wir uns nicht auf direkte Erlebnisberichte verlassen wollten, müssten wir aus Tatsachen des Verlustes von Erlebnisfreiheit schliessen, dass hier ein Sachverhalt in der psychischen Organisation die Aufmerksamkeit unserer Rekonstruktionstätigkeit verdient. Es scheint sogar, dass Freiheit und Erleben in intimer Weise miteinander verbunden sind. Das ist daraus ersichtlich, dass es verhältnismässig selten Menschen (in Zuständen) gibt, welche aussagen, dass ihr Erleben durch eine fremde Instanz bestimmt wird, für sie gemacht wird, nicht mehr in ihrer eigenen Willkür liegt. In den meisten Fällen wird das von den Betreffenden selbst sowie von Dritten als ein abnormer Zustand, oft mit Ängsten verbunden, als dysfunktional in den Bereich des Pathologischen eingeordnet.
Auch gibt es Verwirrtheitszustände, in denen Individuen für einen Beobachter verhältnismässig funktional handeln, gemäss ihrem eigenen Bericht aber keine oder nur eine verminderte Kontrolle mehr über sich selbst ausüben konnten. Solche Zustände werden denn auch in Rechtsverfahren anerkannt; sie rechtfertigen als "verminderte Zurechnungsfähigkeit", sei sie aktuell oder chronisch, eine teilweise oder gänzliche Entlastung von Verantwortlichkeit.
Recht viel häufiger gibt es Zustände, die Personen als ungewöhnliche Veränderungen ihres eigenen Erlebens beschreiben. Es hat sich dafür der Ausdruck veränderte Bewusstseinszustände eingebürgert. Solche Zustände erscheinen nach Einnahme von gewissen Substanzen (nach ihrer Wirkung unter den Sammelnamen "psychotrope Drogen" klassififziert) aber auch nach etwas ungewöhnlichen körperlichen Betätigungen, so zB Hyperventilation, starke Ermüdung, extreme körperliche Anstrengungen (wie Dauerlauf) oder geistige Konzentration (wie Meditation, etc.) oder sensorischen Sonderbedingungen (wie Überstimulation, andauernde Unterstimulation oder Deprivation). Diese Bedingungen solcher Erscheinungen zeigen, dass jedenfalls auch das Erleben einer biologisch-somatischen Grundlage bedarf (vgl. Biol).
Die skizzierten Erscheinungsformen legen die Verallgemeinerung nahe, dass diese Bedingungen zunächst geeignet sind, den Erlebnisstrom in geringerem oder stärkerem Ausmass nach Tempo und Verschiedenheit der Bewusstseinsinhalte zu intensivieren und dabei auch das Gefühl einer Erhöhung der Eigenkontrolle des Stroms zu vermitteln. Nicht selten schlägt jedoch dieses eigene Kontrollgefühl um in Ohnmacht und den Eindruck, der Erlebensstrom mache sich selbständig. Das mit weniger extrem veränderten Bewusstseinszuständen oft verbundene Glücksgefühl macht dann einer Bedrohtheitserfahrung, Angst, Panik, etc. Platz. Dass es dabei bei vielen Menschen (und möglicherweise in einigen Lebensphasen der meisten Menschen) um äusserst starke, wichtige, existentielle Selbsterfahrungen geht, zeigen die Folgeerscheinungen von gehäuftem oder wiederholtem Herbeiführen solcher Zustände; Stichwort: Süchte.
Vergleichbare, jedoch normalerweise nicht eigentlich angstverbundene, Zustände sind freilich alltäglich auch ohne toxische Vorbedingungen. So gibt es Berichte und Beobachtungen über Tagträume oder gewisse Gruppenerfahrungen (Intimgruppen oder Massen): Zustände, die ebenfalls zwischen Eigen- und Fremdkontrolle des inneren Geschehensstromes (und manchmal auch des äusseren) oszillieren. Vergleichbar sind auch die Berichte über die Schlafträume (aber auch Alpträume, Schlafwandeln, etc.), deren Verlauf sich der Kontrolle entzieht, und die deshalb auffallen, weil wir im Normalzustand in so hohem Masse den Eindruck der Steuerbarkeit von Erleben und Handeln haben.
Bedeutsam ist noch die Festellung, dass die Funktionalität des Handelns (also die Möglichkeit, das Verhalten zielgerecht und wirklichkeitsangepasst zu vollziehen) in solchen veränderten Bewusstseinszuständen für einen Beobachter von aussen oft erstaunlich wenig beeinträchtigt erscheint (zb unter dem einfluss von sog. psychoaktiven Drogen). Allerdings ist das eine Frage des Grades; und zweifellos findet eine Labilisierung statt, welche den Handlungsstrom insbesondere an heiklen Stellen gefährdet (wo Routinehandlungen nicht ausreichen, wo rasche und adäquate Entscheidungen verlangt werden) und damit zu einem Risiko für Betroffene und ihre Umgebung macht.
1.5. Wie steht das Erleben von Freiheit zur Freiheit?
Im vorausegehenden Abschnitt dieses Kapitel wurde auf das Erleben als eine Wurzel der beanspruchten Freiheit hingewiesen. Befragungen dazu zeigen einen eigenartigen Widerspruch. M.R. Westcott (1982, Quantitative and qualitative aspects of experienced freedom. Journal of Mind and Behavior 3 99-126) hat Personen Situationsbeschreibungen vorgelegt mit der Bitte, Aussagen über den Grad der in solchen Situationen erlebten Freiheit zu machen. Das berichtete Freiheitserleben scheint dann am stärksten, wenn man aus einer Situation von Zwang (Schmerz, Versagung) befreit wird oder wenn man eine erlernte Fertigkeit ausüben kann. Beides sind paradoxerweise Bedingungen hoher Determination, im ersten Fall aus der Situation, im zweiten aufgrund von eigener Begabung und früherer Übung. Anderseits wird am wenigsten Freiheit erlebt, wenn man vor besonders schwierigen Entscheidungen steht
Im Gegensatz zu diesen Innensichten attribuieren wir Andern dann die grösste Freiheit, wenn sie eine Wahl zwischen gleichwertigen Optionen getroffen; denn wenn eine der Optionen vor der oder allen anderen einen für den Wählenden wesentlich günstigeren Erwartungswert gezeigt hätte, müssten wir ja sagen, dass er nur dem Wertgefälle gefolgt sei. Der Wählende selbst jedoch fühlt sich dann am freisten, wenn er es fertiggebracht hat, eine Option gegen alle "Vernunft" zu wählen; das wiederum wird von der Reaktanztheorie als hochdeterminierte Reaktion auf bedrohte Wahlfreiheit beurteilt. Die Widersprüche lassen sich beim gegenwärtigen Stand der Forschung nicht auflösen.
Die vorstehend beschriebenen Sachverhalte über Freiheit sind durch die bisherige Konstruktion des Funktionskreises (die psychologischen Grundfunktionen Wahrnehmung, Gedächtnis, Handeln) und der differenzierten Binnenstruktur der psychischen Organisation (Kognition, Motivation/Emotion, Lernen, Aufmerksamkeit) nicht abzudecken. Denn wir stehen unter dem Eindruck, dass die geschilderten Erscheinungen, egal ob von aussen oder von innen betrachtet, einer vollständigen Regelhaftigkeit eines "durchkonstruierten" Gebildes nicht gerecht werden.
Es ist immer wieder versucht worden (zB in algorithmischen Modellen psychischer Funktionen) solchen Abweichungen von Determiniertheit durch Einführung des Zufallsprinzips Rechnung zu tragen. In der Tat ist es so, dass geregelte, sollwertbestimmte Systeme, wenn sie durch zufällige Einflüsse (von aussen oder als systemeigenes "Rauschen") eine Zustandsänderung erfahren und diese dann als Folge ihrer Rückkoppelungskreise auszuregulieren vermögen, einem Betrachter in oft erstaunlichem Masse als lebensanalog oder handlungsanalog verstanden werden (Beispiel: Homeostat von R Ashby, ein wegfindender Roboter).
Sollwertbestimmte Regelsysteme sind eine Vorstellung, die sich in geweissen Teilen der Psychologie (Sensorik, Motorik, Lernen, Motivation, Handeln, etc.; vgl. etwa Bischof 1985, Klix 1971) einer grossen Beliebtheit erfreuen. Ich bin nicht sicher, dass sie der vorstehend exemplarisch geschilderten Freiheitsproblematik gerecht werden können. Die Frage, woher die Sollwerte kommen und ihrerseits Veränderungen erfahren, lässt sich nämlich in dieser Konzeption nicht beantworten (es sei denn man lasse den unendlichen Regress zu oder hole sie von aussen her herein). Was in abgegrenzten Teilbereichen (Beispiele: räumliche Zielfindung, Handeln in industrieller Arbeitsorganisation) sehr stimmige und oft sogar anwendungsbereite Modelle ergibt, hat in einem so komplexen Gebilde wie der psychischen Gesamtorganisation möglicherweise heuristischen Wert; es besteht aber auch ein Risiko der Horizonteinengung, Dem möchte ich aus dem erwähnten Grund der Sollwertfrage entgehen, indem ich vorderhand ein eher "lockeres", in gewissen Aspekten nur kybernetik-analoges System-Denken vorziehe.
Wenn ich jetzt beispielhaft etwa an einen Lebenslauf eines Menschen von aussen beobachtend und synthetisierend denke und mit demjenigen etwa eines Pferdes oder Hundes vergleiche, so lassen sich allgemein einige Ähnlichkeiten und eine Verschiedenheit festhalten. Beide erscheinen einem Betrachter als eine Art Gestalt, insofern wohl die grösste Zahl wenn nicht alle manifesten morphologischen und verhaltensmässigen Erscheinungen irgendwie zueinander passen, ein Ganzes bilden. Weitaus das meiste davon mag als arttypisch charakterisiert werden; vieles beschreibt in seiner Gesamtheit auch das individuell Charakteristische, dh der Beobachter kann aus einem Teil des beobachteten Verhaltens etwa überzufällig zutreffende Vorhersagen über das Verhalten zu anderen Zeitpunkten des Lebenslaufes machen. Beide Typen von Lebensläufen sind aber in ihrem Verlauf auch von einer grossen Zahl von "Zufälligkeiten" bestimmt, insofern das Milieu, in dem sich das Lebewesen aufhält, in seinen Einflüssen auf das Individuum nur zu einem Teil von dem Individuum selbst bestimmt ist. Beide Typen entwickeln jedoch auch Präferenzen und Gewohnheiten für und innerhalb eines einmal wirksamen Milieus, welche wiederum mit zu der charakteristischen Gestalt gehören.
Worin ich nun jedoch einen Unterschied sehen möchte, ist die Beobachtung, dass bei vielen Menschen, von einem gewissen Alter nach der ersten Kindheit an jedenfalls, solche Gewohnheiten und Präferenzen zunehmend eine gewisse Systematik erreichen, die sich von derjenigen beim Tier deutlich unterscheidet. Es kann offen bleiben, ob der Unterschied kategorial oder graduell sei. Persönlich halte ich ihn eher für graduell, weil Menschen interindividuell und über Altersstufen auch recht sehr variieren; aber denoch recht massiv, weil er geeignet ist, doch ganz andere Lebensläufe und Gesellschaften hervorzubringen.
Es scheint nämlich dass der der Kindheit entwachsene Mensch in geringerem oder stärkeren Ausmass dazu übergeht, verschiedene Erfahrungen seines Lebens untereinander in Beziehung zu setzen, Lebensentwürfe zu prüfen und zu machen und miteinander zu vergleichen, diejenigen anderer Personen, aber auch einfach mögliche, fiktive, ausgedachte Lebensentwürfe, und dann solche verschiedene Entwürfe untereinander vergleichend zu bewerten, Handlungen im Hinblick auf solche Entwürfe zu vorzuziehen bzw. zu vermeiden. Kurz der (mündige) Mensch bringt eine eigene Systematik in sein Leben, die paradoxerweise eine (selbstgewählte) Verminderung der aktuellen Freiheit des Handelns zur Folge haben kann, gleichzeitig aber die Freiheit, nämlich als Entscheid für einen bestimmten Entwurf, umso stärker betont. Denn hat man gewählt, ist das Andere (Boesch 1989) ausgeschlossen. Kurz, man kann einen Lebensentwurf und das daraus bestimmte Handeln etwas widersprüchlich als eine Systematik der eigenen Freiheit bezeichnen.
Nun lässt sich wohl eine solche Beschreibung leichter auf innere Beobachtung von mir selbst und auf die Deutung von verbalen Berichten anderer abstützen als auf Beobachtung von aussen. Immerhin ist darauf hinzuweisen, dass Lebensentwürfe und ihr Vollzug stabilere und labilere Phasen aufweisen, was sich in Verhalten rasch erkennbar macht (vgl. Entw); und besonders deutlich wird eine solche Betrachtungsweise gestützt durch Erscheinungen im Zusammenhang mit eigentlichen Brüchen in den Entwürfen. Was ich hier vielleicht etwas umständlich am Beispiel Lebensentwurf beschreibe, ist in der Psychologie vielfach unter Bezeichnungen wie Identität, Selbstfindung, Identitätsbruch, etc. untersucht worden. Die Literatur dazu ist immens und reicht von der Verleugnung des Sachverhalts als psychologisches Problem (zB Skinner) bis zu religiös oder esoterisch gestimmten Fantasmen und Mythen (zB Jung); einen Überblick bietet Wylie 1974/79; vgl. unten). Den Vorzug meiner Perspektive auf den Sachverhalt von der Freiheit her sehe ich darin, dass sie mich näher an möglich Prozessvorstellungen über das Selbst führt und zudem leichter auch andere, über die Grundfunktionen hinausreichende Erscheinungen in die Konstruktion einbeziehen lässt (vgl. die nachfolgenden vier Unterkapitel zu R).
1.7. Reflexivität oder das Prinzip der sekundären Repräsentation
Gesucht ist also eine Konstruktion, welche im Rahmen des bisher allgemeinpsychologisch dargestellen Funktionen-Insgesamts, das offenbar grundsätzlich zum Verständnis einfachen Lebens (von Tieren, von kleinen Kindern) ausreicht, eine Art Überbau darstellt. Wir brauchen einen solchen Konstruktinsteil, wenn wir den Tatsachen der Freiheit und ihrer Systematik (um es so paradox auszudrücken wie es uns erscheint) gerecht werden wollen. Für Viele beginnt allerdings die Psychologie überhaupt erst hier. Auf dem Hintergrund meines Wissenschaftsverständnisses brauche ich nicht weiter zu begründen (vgl. Meth), warum ich eine solche Abtrennung von Sachverhalten aus einem Ganzen für ebenso verhängnisvoll halten würde wie die in der akademischen Psychologie zu beobachtende Vernachlässigung der gegenwärtigen Thematik.
Gehen wir davon aus, dass über die Lebensspanne eines Individuums zwischen W und H ein überdauerndes aber dynamisches Gebilde laufend differenziert und aufgebaut wird, aus welchem unter Zufluss der aktuellen Wahrnehmungsinformation alles Handeln, alle weitere Entwicklung und auch die Aufmerksamkeitskontrolle der Wahrnehmung bestimmt sind, so bleibt hier kein Platz für Freiheit im beschriebenen Sinn. Zufälligkeit kann mitspielen im Sinn von "Systemrauschen" und von teilweiser Arbitrarität der Begegnungen des Individuums mit dieser oder jener Weltoberfläche.
Jedenfalls haben wir uns die Konstruktion der allgemeinen psychologischen Organisation gerade so gemacht; alles andere, auch wenn es möglicherweise wirklichkeitsgerechter wäre, würde unsere wissenschaftliche Zielsetzung in Frage stellen. [In Klammer möchte ich anfügen, dass ich seit kurzem in der semiotischen Begrifflichkeit eine Möglichkeit vermute, auch schon die Grundfunktionen der allg. Psychologie etwas weniger biologistisch als bisher zu behandeln und vielleicht mehr "Freiheitsgrade" schon dort einzuführen ohne an Begründbarkeit aufzugeben. Wohin das führt, ist derzeit nicht abzusehehen, so dass ich hier zunächst die näher an der psychologischen Literatur angesiedelte Grundfunktion-Überbau-Konstruktion weiterführe.]
Die Frage bleibt also, wie das System die beobachtete systematische Freiheit gewinnt. Meine formelhafte Antwort im Rahmen unserer Konstruktion: indem die kognitive Struktur (G oder Gedächtnis im erarbeiteten Sinn) in Teilen dupliziert und mit dem Original in Relation gesetzt wird. Sie ist im folgenden zunächst allgemein zu erläutern und soll anschliessend in 4 Unterkapiteln näher in ihrem Erklärungspotential aufgezeigt werden.
Allen oben stellvertretend für ein weites Feld beschriebenen Sachverhalten von Freiheit un dihrer Systematik scheint mir diese Idee gemeinsam: sie setzen G (einschliesslich K, M, L, etc.) voraus und sie sprengen G. Wollen wir nicht aufgeben, G als einen determinierten Komplex zu verstehen, in welchem alle Teile zu einem bestimmten Zeitpunkt so sind wie sie sind, weil sie von anderen Teilen des Komplexes her eindeutig bestimmt sind und ihre Veränderung in der Zeit nur durch Beeinflussung der Teile des Komaplexes untereinandere untereinander (K, M) sowie durch neuen Input von den wahrnehmenden Teilsystemen her (W, A, L) bedingt sein kann, so hat Freiheit nur den sehr beschränkten Platz in der Konstruktion, der auf dem Weg über Input von aussen erzielt werden kann. Ja, unter diesen Umständen wäre sogar fraglich, ob nicht über die Selektivität der A-Funktion alle Neuheit von Input ausgeblendet werden könnte. Wir dürfen ja nicht vergessen, dass die M-Funktion in ihrer aktivierenden Wirkung Postulat-Charakter hat, obwohl biologisch gut erläutert, psychologisch nur wenig präzis begründbar ist.
Die Einschränkung entfällt, wenn sich Teile der kognitiven Struktur relativ selbständig von andern Teilen absetzen können, ohne ihre Beeinflussbarkeit von diesen andern Teilen und ihre Beeinflussung anderer Teile ganz aufzugeben. Die Situation ist strukturgleich mit unseren Überlegungen zur relativen Autonomie des Individuums von der umgebenden Welt insbesondere im Zusammenhang mit W und G. Der Grundgedanke war dort: wenn das Individuum mittels W Information (der Organismus Stoffe und Energie) aus der Welt speichern (G) kann und so auch mit räumlich oder zeitlich nicht aktuell wirkenden Umweltteilen, gewissermassen in absentia und ohne ständigen Realitätsdruck, "umgehen" kann (K, M), dann gewinnt es Selbständigkeit in (von) seiner Umwelt und kann sie wahren, wenn es zugleich ausreichend realtitätsgerechte Bezüge (W, L) zur umgebenden Welt aufrechterhält und auf Halten und Sichern sowohl der Eigenständigkeit wie der Bezogenheit orientiert bleibt (M, A, P).
G ist also, so verstanden, mit Ausnahme des (in jedem Augenblick nur kleinen, in der Akkumulation aber nicht unbeträchtlichen) Inputflusses die Bestimmende des ganzen psychischen Geschehens. Das im Bezug zur Umgebung erfolgreiche Rezept des Autonomiegewinns innerhalb der psychischen Organisation wiederholen heisst: baue eine Substruktur auf und grenze sie vom Rest des System einigermassen (relativ) ab und repräsentiere mit dieser Substruktur ausgewählte Aspekte der Gesamtstruktur. Lasse allen Input zunächst in das Primärsystem G etc. und übernehme dann, sei es aus aktuellem Input, sei es aus dem älteren Primärsystem, Einiges in diese neue Sekundärstruktur. Es kann sein, dass du für gewisse Bereiche die Primärstruktur entlasten bzw. ihre Funktionalität verbessern kannst, wenn du gewisse Inhalte und Formen ausschliesslich im Sekundärsystem behältst und unter gewissen Umständen das Primärsystem als ein dem sekundären untergeordnetes Basis- und Exekutivstruktur führst. (Wenn du das Primärsystem vom sekundären her allerdings zu seinem Nachteil überlisten willst, musst du es recht trickreich anstellen.) Du musst für das Sekundärsystem Formen der Speicherung und Inbeziehungssetzung oder Komplexbildung von Inhalten aus dem Primärsystem herausentwickeln, welche denjenigen im Primärsystem zwar affin sind aber vielleicht in der Spezialiserung weitergehen. Welche Inhalte zu übernehmen sind, weisst du anfänglich nicht; aber ähnlich wie beim Erringen der Primärstruktur, wird sich aus seiner Bewährung auf die Dauer schon ergeben, was du brauchen kannst und was nicht. Lasse im Prinzip im Sekundärsystem die gleichen Funktionsprinzipien spielen, die im Primärsystem erfolgreich waren, dh benutze ein gleiches Neuronal-/Humoralsystem als Informationsträger und stelle dich auch im neuen Teilsystem auf eine eigene Mischung von Festigkeit und Wandel ein. Das sichert die wichtige Relation zwischen Primär- und Sekundärsystem, auch wenn du vielleicht neue Strukturen (Grosshirn) analog den bisherigen (Stamm-, Mittelhirn) aufbauen musst.
Man verzeihe mir den stilistischen Trick mit dem Aufbau-Rezept und den physiologischen Konkretisierungen, der mir die Formulierung etwas erleichtert hat. Sie sollte auch deutlich machen, das die Sekundärstruktur nicht etwas Neues, von der primären Separates sein kann; sie baut darauf auf und ist von der gleichartiger, wenngleich ergänzter Natur. Die Unterteilung in Primär- und Sekundärstruktur ist Ergebnis unseres trennenden Denkens. Natürlich muss man sich einen langdauernden bioevolutiven Prozess in der Stammesgeschichte der menschlichen Art vorstellen, der mit der Herausbildung des Grosshirns und damit sowohl morphologisch wie funktionell-inhaltlich mit den Lebenstätigkeiten Nahrungserwerb, Artgenossenkommunikation etc.) zusammenhängt: nämlich Befreiung des Mundes von Manipulationsverhalten durch dessen Verlagerung auf die Vorderextremitäten und die damit verbesserte "Bearbeitung" der Umgebung durch Herstellen von Werkzeugen, räumlichen Strukturen, Kultzeugen etc. sowie die Herausbildung des Sprechens und parallel dazu die Spezialisierung der Füsse für aufrechten Gang und der damit mögliche Aus"bau" des Hirnschädels mit der Ausweitung der Möglichkeiten von G vor allem in kognitiver Hinsicht. (Faszinierende Lektüre dazu: Leroi-Gourhan 1964/65).
Nebenbei: im ökologischen Bezug werden wir bei der Kulturpsychologie die relative Verdoppelungsidee ein drittes Mal einsetzen, bzw. ein viertes Mal, wenn wir annehmen, dass bereits die Genomstrukturen aller Organismen nichts anderes sind als eine "Verdoppelung" der Umwelt der betreffenden Art, nämlich in der indirekten Form von "Rezepten", wie Strukturen (Organismen und ihr Verhalten) aufzubauen seien, welche ein Chance haben, die Genomstruktur zu reproduzieren. (Vgl. dazu etwa Dawkins 1976; Klopf 1982). Solche relative Verdoppelungen finden sich in Strukturen wie (1) Genom und (2) Gedächtnis (von artgemäss und erfahrungsgemäss relevanten ausgewählten Aspekten der umgebenen Welt), (3) Reflexive Sekundärstruktur von ausgewählten Aspekten von G, und schliesslich (4) in der menschlichen Kultur als einer externen raum- und zeitübergreifenden Konkretisierung von ausgewählten Aspekten von G und R.
Bezeichnen wir das dritte, hier interessierende individuumsinterne partielle Duplikat von G als sekundäres Repräsentationssystem mit dem Kürzel R oder Reflexivität. Die Benennung gilt im mehrfachen Wortsinn: R reflektiert, dh widerspiegelt oder bündelt vermutlich manche Eigenschaften von G; R entspricht aber auch dem Wortsinn des "Reflektierens" als Nachdenken über, Abzielen auf etc.; und schliesslich birgt die Bezeichung möglicherweise manches von dem, was die Grammatiker als Reflexivität oder Selbst-Rück-Bezug bei Verben und Pronomen gefasst haben.
1.8. Freiheit und Reflexivität
Hier (oder eher am Schluss?) sollte eingehender gezeigt werden, wie das Partialverdoppelungsprinzip das Freiheitsproblem allgemein löst. Rolle von Zeit und Raum! Derzeit kann die folgende beispielhafte Überlegung die vorgeschlagene Relativierung (nicht seine Aufhebung!) des Determinismusprinzips vielleich nachvollziehbarer machen.
Man muss das Notwendige (was den Gesetzen gehorcht und somit nicht anders ablaufen kann, als die Gesetze zulassen) und das Tatsächliche (was den Gesetzen entsprechend dann und dort abläuft) unterscheiden. Wenn ein Chemiker eine Reaktion in Gang bringt, gehorcht die Reaktion den Naturgesetzen; aber wann und wie, weshalb und mit welchen Folgen sie in Gang kommt, beruht auf dem Eingreifen des Chemikers. Entsprechend gehorchen alle im Hirn ablaufenden Prozesse physiko-chemischen Gesetzmässigkeiten; wann und wo im Hirn welche von den möglichen tatsächlich vorkommen, ist aber nicht mehr Sache dieser Gesetzmässigkeiten allein, sondern auch der dann gegebenen, historisch gewordenen, und wirkenden Bedingungen.
Die Tatsache der Geschichtlichkeit von allem, was wir antreffen können, ist in den Naturwissenschaften bis vor kurzem einfach übersehen worden. Derzeit ist ein starker Wandel im Gang. Die sog. Chaos-Theorie ist eine von mehreren Zugangsweisen, wie man der Geschichtlichkeit auch bezüglich des Kosmos und der nichtlebenden Natur gerecht zuwerden hofft. Im Bereich des Lebendigen ist Geschichtlichkeit mit der Evolutionstheorie natürlich präsent; aber die Prozesse in und zwischen den Zellen sind nur ausnahmeweise so betrachtet worden. Natürlich ist Geschichtlichkeit noch nicht gleichbedeutend mit Freiheit; aber es besteht ein Zusammenhang. Das Verhältnis der verschiedenen Wissenschaftsbereiche untereinander wird vermutlich in den nächsten Jahren ganz wesentlich von einem neuen, viel stärker geschichtlichen Naturverstäendnis bestimmt sein. Durch eine solche Entwicklung wird das bisher eher schroffe Verhältnis zwischen Natur- und Geisteswissenschaften möglicherweise von seiten der Naturwissenschaften her eine gewissen Entkrampfung erfahren können.
Im Rahmen einer physiologischen Betrachtungsweise genügt es zu zeigen, dass im Hirn Teilbereiche bestehen, die sich von den andern insoweit isolieren können, dass die Endzustände von Prozessen in einem Teilbereich für die Auslösung von Prozessen in einem andern Teilbereich von grösserem, kleineren oder ohne Einfluss werden können, ohne dass die ersten von den zweiten abhängig sind. Damit ist Geschichte konstituiert und unmöglich gemacht, dass für den gesamten Hirnprozess eine durchgängige Determiniertheit besteht, obwohl jeder einzelne Prozessteil durchaus den biochemisch-physiologischen Gesetzen folgt.
Das gleiche gilt natürlich für ein lebendes System in seinem Verhältnis zur umgebenden Welt: es kann durchaus von ihr abhangen ohne vollständig von ihr determiniert zu sein, wenn es ihm gelingt, sich wenigstens partiell vom umgebenden System zu isolieren.
1.9. Formen der relativen Strukturverdoppelung oder der Reflexivität
Soweit verfügen wir nun über ein sehr allgemeines Prinzip, unter dem sich möglicherweise die systematisierte Freiheit rekonstruieren lässt. Das Prinzip scheint, so weit ich sehe, in der humanpsychologischen Perspektive drei oder vier manifeste Formen gefunden zu haben. Es sind dies das bewusste Erleben, das Selbst oder Ich, die Sprachlichkeit und möglicherweise die Imagination von raumzeitlichen Gestalten. Über die ersten drei davon gibt es, ohne dass die Bezüge untereinander mehr als nebenbei verfolgt worden wären und deshalb verhältnismässig isoliert voneinander, drei reiche Literaturtraditionen. Über die vierte Form lässt sich nur indirekt etwas aus der psychologischen Literatur übernehmen.
Inwieweit die vier Formen als eigene Konstruktionen entwickelt oder ob sie gemeinsam als Reflexivität behandelt werden können oder sollen, ist für mich eine pragmatische Frage, ähnlich wie diejenige nach der didaktisch-forschungsstrategischen Separierbarkeit der Kompenenten der Binnenstruktur (K, M, L, A). Mein Konstruktionsversuch der psychologischen Organisaiton ist in diesem Bereich noch programmatischer als in anderen; man wird einige Vorläufigkeiten und besonders viele Irrtümer in Kauf nehmen müssen. Ich behandle die Grundzüge der vier Konsttruktionen nacheinander, obwohl viele Querbezüge bestehen.
2. Vier Sekundärsysteme in der internen psychischen Organisation
2.1. Bewusstes Erleben oder wie können wir mit dieser privaten Gegebenheit öffentlich-wissenschaftlich umgehen?
Es kann hier nicht darum gehen, eine Psychologie des Bewusstseins zu überblicken oder aufzurollen. Ich beschränke mich auf eine kritische Betonung der methodischen Schwierigkeiten mit dem Bewussten für eine Psychologie von aussen. Für den Psychologen von aussen muss Erleben zuerst umgesetzt werden, bevor er damit umgehen kann. Man beachte, dass ich diesen Einwand ausserhalb der Wissenschaft für verhältnismässig folgenlos halte, soweit mein und jedermanns persönliches Erleben betroffen ist.
Das wissenschaftliche Verstehen des Sprechens eines anderen über sein Erleben bezieht sich aber genaugenommen nie auf sein Erleben, sondern auf sein Sprechen; es mag möglich sein, aufgrund der Analxse des Sprechens und weiterer Sachverhalten eine Rekonst. Die nachstehenden Gedanken müssen daher notwendig persönliche sein, freilich in öffentlichem Sprechen ausgedrückt. Meine sprachliche Beschreibung der Lage eines Erlebenden, ist, soweit ich sehe, eine direkte oder naive Umsetzung meiner Erfahrung in Sprache; sie setzt keinen besonderen theoretischen Standpunkt voraus als den in der verwendeten Sprachform impliziten. Ich benutze "bewusst" und "erlebt" als völlig gleichwertige Synonima. Das Substantiv "Bewusstsein" meide ich, weil es eine Instanz nahelegt und überdies theoretisch belastet ist.
Unter bewusstem Erleben verstehe ich eine private Erfahrung, die jedem Menschen eigen zu sein scheint, allerdings ohne dass jemand in der Lage wäre, das Erleben irgend eines andern Menschen oder Tieres in Inhalt und Form eindeutig und sicher zu erfahren. Die Zuschreibung von Erleben an Pflanzen (Fechner) mag unplausibel sein und kraus wirken; sie ist, da Erleben nicht operational definiert werden kann (geschieht zB im Koma wirklich nichts "Psychisches"?, wird nichts erlebt oder nur später nichts erinnert?) nicht widerlegbar.
Die Überzeugung, dass wir alle ähnlich erleben ist allerdings jeder und jedem von uns eigen; sie lässt sich ebensowenig beweisen oder widerlegen. Es scheint sinnvoll, das Erleben als Vorgänge in einem internen Zeichenprozess in einem recht flüchtigen und eher engen Sekundärsystem aufzufassen, da mir im Erleben kein Erlebnisinhalt isoliert erscheint, obwohl eigentlich nur einer aufs Mal "scharf" gezeichnet auftritt, und keiner länger als Sekunden(bruchteile) innerlich fixiert werden kann. Stets führen mich in meiner Erfahrung Erlebnisinhalte zu andern Erlebnisinhalten oder zu Referenzobjekten ausserhalb des Erlebens, was einen systemischen Charakter nahelegt. Die Zeichenliste des Systems ist allerdings nicht aufzeigbar, der Code oder Informationsträger ist unbekannt.
Wenn immer wir unser Erleben oder Erlebtes anderen Menschen mitteilen wollen, müssen wir also zunächst eine Übersetzung in ein anderes Zeichensystem vornehmen und der Empfänger unserer Botschaft muss ebenso eine Rückübersetzung vornehmen, wenn er die empfangene Botschaft vollziehen, dh gemäss unserer eigenen Erfahrung, selber erleben soll oder will. Das soll nicht heissen, dass an einen Empfänger gerichtete Botschaften in diesem nur dann wirksam werden können, wenn sie in seinem Erleben manifest werden. Wir haben vielmehr Belege dafür, dass das Gegenteil möglich ist (zB das Aufwecken von jemandem durch leisen Namensruf, die sog. unterschwellige Wahrnehmung etc.). Für komplexere Botschaften mag es freilich schon wahrscheinlich sein.
Bei solchen Übertragungen entsteht nun nicht nur die Unsicherheit einer mindestens zweimaligen Transformation (vom Sendererleben in den übermittelnden Sprach- oder anderen Code und vom Code zurück ins Empfängererleben), sondern wie bei allen kommunikativen Systemen nimmt die Botschaft gezwungenermassen gewisse Eigenschaften des botschaftstragenden Codes an, die der Empfänger nur bei einem völlig ein-eindeutigen und redundanten Code oder bei Vorauskenntnis der Botschaft herausfiltern kann.
Leider hat sich eingebürgert, als praktisch einzigen Code für die Übermittlung von Erlebenszuständen oder -inhalten die Sprache einzusetzen; dies besonder sin wissenschaftlich-psychologischen Zusammenhängen. Nichtsprachliche Zeichensysteme wie Mimik, Gestik, Tanz, Musik, Bild sind möglicherweise für die Übermittlung gewisser Aspekte der Erlebnisinhalte besser geeignet; aber auch in Kombination mit oder ohne Sprache sind sie alle meinem eigenen Erleben in meinem Urteil immer noch völlig inkommensurabel. Wie jedefrau erfahren kann, die ihr Erleben jemandem erzählt und es sich zurückerzählen lässt, ist die doppelte Übersetzung katastrophal, sofern nicht extrem künstliche Erlebnisinhalte eigens dafür hergestellt und übermittelt werden; und selbst in solchen Fällen wird die Aktualisierung dieser besonderen Erlebnisinhalte von zusätzlichen Erlebnissen begleitet sein, die nicht in die Botschaft eingehen und in der Rückübertragung fehlen.
Es ist selbstverständlich, dass eine Argumentation wie die vorstehende, auf bewusstes Erleben abstellen muss, wenn sie ihrem Gegenstand gerecht werden will. Dh sie kann gar keine Argumentation für andere darstellen, sondern bloss einen Appell, die geschilderte Erlebnis- und Kommunikationssituation nachzuspielen. Das Ergebnis solchen Nachspielens und dessen Beurteilung muss wiederum dem Empfänger des Appells überlassen bleiben.
Appellieren wir also zur Durchführung eines analogen Erlebens-und-Sprach-Spiels mit unserer Vorstellung eines partialen Sekundärsystems innerhalb der internen psychologischen Organisation. Ich hoffe damit Einsicht zu bewirken, dass das bewusste Erleben, verstanden als Vorgänge in einem Zeichensystem mit unbekannter Charakteristik, auf die Beschreibung eines dynamischen partialen Sekundärsystems innerhalb von G passt. Was ein Erlebnissystem leisten könnte, wäre genau jenes Wirksammachen von Inhalten von G, W, K, M in einer sekundären Repräsentation und damit die Möglichkeit der "freieren" Inbeziehungesetzung von Inhalten untereinaner, von aktuellen Inhalten mit aktualisierten Gedächtnisinhalten und mit versuchsweise entworfenen Inhalten im Hinblick auf künftige Zustände.
Aber diese knappe Skizze ist eine Fiktion; ich sehe keine Möglichkeit eines empirschen Zugangs. Man kommt eben aus dem Bewussten weder "hinaus" noch in ein Bewusstsein ausser dem eigenen "herein". Und das meiste, was wir darum herum tun (können), ist sprachlich. Demnach widmen wir unser Bemühen besser der Sprache als einem weiteren Sekundärsystem.
2.2. Sprachlichkeit oder was erreichen wir mit (konventionalen) Repräsentationen von Repräsentationen?
2.2.1. Sprachlichkeit: Wie können wir uns in der Welt mit den Anderen koordinieren?
Wenn wir das Sozialverhalten von Tieren beobachten (bei Arten, wo die Individuen einander kennen) so fällt immer wieder auf, in welch hohem Aussmass diffizile Koordinationsprobleme auf der Basis von sozialen Instinkten ungewöhnlich effizient gelöst werden. Im Vergleich dazu bringt uns Menschen die Sprachlichkeit zwar zweifellos wesentlich erweiterte, wohl auch qualitativ andere Möglichkeiten der sozialen Koordination; das kostet aber zumindest einen Preis in Sachen Effizienz. Dass sprachliche Kommunikation dem Empfänger das vermittelt, was ein Sender intendiert, ist eine Frage, die ungewöähnlich schwierig zu beantworten ist. Vermutlich ist die Leitidee der technisch inspirierten Kommunikationstheoretiker, was im Sender als Quelle vorliege, werden in den Empfänger unbeschädigt transportiert, ein Wunschtraum eher als eine Wirklichkeit. Versucht man über die Übergänge von den affenartigen Primaten zu den Menschen bezüglich Kommunikation zu spekulieren, so liegt eine Vermutung nahe, die ein unbekannter Weiser in die Formel gekleidet hat, die Menschen hätten dann die Sprache erfunden (erfinden müssen), als sie einander nicht mehr verstanden hätten. Ob sie sich mit der Sprache besser verstehen als ohne, wäre dann eine weitere, so generell unbeantwortbare Anschlussfrage.
2.2.2. Was meinen wir mit Sprache in der Psychologie?
Die Sprachlichkeit des Menschen ist eine evolutionär einmalige Erscheinung. Obwohl auch Tiere miteinander kommunizieren, verfügt keine Art über die zur menschlichen Artikulation ausgebildeten Kehlkopfeigenschaften und, wichtiger, über die entsprechenden Hirnstrukturen zur Produktion und zur Perzeption von gesprochener Sprache. Diese biologischen Voraussetzungen von Sprachlichkeit sind eine notwendige Bedingung; realisiert wird Sprachlichkeit aber stets innerhalb von menschlichen Gesellschaften, die eine je ganze bestimmte von unendliche vielen möglichen Ausformungen von Sprache herausgebildet haben und pflegen.
Die Tatsache macht dies deutlich, dass kleine Kinder in den ersten Lebenswochen und Monaten wesentliche Basismerkmale von gesprochener Sprache, nämlich die Phoneme, angeborenerweise unterscheiden können, die für eine bestimmte Sprache typische Auswahl und Reihung von Phonemen zu bedeutungstragenden Einheiten aber erst im Laufe des zweiten bis vierten Lebensjahres von ihrem Sprachmilieu her erwerben müssen. Ähnliches gilt für die Sprachproduktion, wo man vermuten kann, dass Kinder zunächst viel mehr (gegen 100) Phoneme artikulieren können, bevor sie sich auf die beschränktere Anzahl ihres Sprachmilieus (typisch zwischen 20 und 40) einengen und sie in geeigneter Weise zu Sinnträgern reihen. Weitere Merkmale der Sprache wie grammatikalische Formen und Kategorien, Syntax, Tonfall, Dialogformen, Schriftsprache u.a. werden angesichts der Komplexität des Ganzen in erstaunlich kurzer Entwicklung aufgebaut; die genau Rolle und das Zusammenspiel von vorgegebenen allgemeinen Bedingungen und Erfahrung im Hören und Sprechen ist im einzelen erst teilweise aufgeklärt.
So verstanden ist Sprache in erster Linie ein Instrument der Kommunikation zwischen den Artgenossen bei homo sapiens. Sie müsste daher in erster Linie in den Rahmen der Sozialpsychologie gestellt und dort überindividuell als ein Vorgang zwischen Sender und Empfänger behandelt werden. Doch ist durch die knappe Darstellung deutlich geworden, dass Sprache nicht verstanden werden kann ohne ihre Wurzeln in der Wahrnehmungspsychologie (Hören, Lesen) und der Handlungspsychologie (Sprechen, Schreiben) und der Kulturpsychologie (wie sind denn die externen, vom Menschen loslösbaren sprachlichen Strukturen in Schall und Schrift beschaffen). Wenn es so ist, dass wesentlicheTeile des Handelns von Menschen in sprachlicher Form erfolgen, so dürfte auch der Bereich des Kognitiven nicht ohne Rücksicht auf Sprachlichkeit verstanden werden können.
Aber ist denn alles in K sprachlich? Eine solche Annahme wäre sicher falsch, und so stellt sich die Aufgabe, das Verhältnis zwischen Sprachlichkeit und anderen Kognitionsformen und vielleicht weiteren Teilen der Binnenstruktur der psychologischen Organisation zu klären.
Bei allen Ausführungen sollte man sich bei allen Gemeinsamkeiten immer auch wesentliche Unterschiede zwischen Sprechsprache und Schreibsprache beachten.
2.2.3. Sprache als Zeichensystem
Was Sprache wirklich ist, kann also wohl nicht eine einzige Antwort bekommen. Im vorstehenden Abschnitt war in psychologischer Sicht von der Sprache als einem vollziehbaren Prozess und den diesen Prozess ermöglichenden Voraussetzungen beim individuellen Menschen im Dialog mit anderen die Rede; Saussure bezeichnete das als la parole. Das ist was die Sprachpsychologie interessiert, während den Sprachwissenschaftler traditionell eher die vom Menschen losgelöste allgemeine Struktur der Sprache, also la langue, interessiert, die er in Wörterbüchern und Grammatiken erfassen kann, sei es als eine Beschreibung des faktischen Gebrauchs von Sprache durch eine Sprachgemeinschaft, sei es in Form einer Norm, die richtiges, gutes Sprechen auszeichnen möchte. Die Sprachwissenschaftler haben im Lauf einiger Jahrhunderte des Forschens über Sprache vorwiegend induktiv solche allgemeine Strukturen zu finden gesucht, indem sie Sprachen aufnahmen, in ihrem Wandel verfolgten und untereinander verglichen, um das Gemeinsame und das je Spezifische einer bestimmten Sprache herauszufiltern. Sie benutzen also, um Saussures Unterscheidung weiterzuführen, parole als Weg zu langue, während sich die Psychologen direkt für parole interessieren und dabei langue als überpersönliche Referenz einsetzen.
Ein Reihe von Wissenschaftlern versuchten jedoch diese induktiven Vorgehensweisen zu ergänzen durch eine Art Vorausentwürfe, allgemeine Rahmentheorien, an denen sich dann die Forschung im einzelnen orientieren könne. Saussure und Peirce (sprich: Pörss) gelten als die modernen Begründer der Semiotik oder der allg. Lehre von den Zeichen. Saussure war Sprachwissenschaftler, Peirce Universalwissenschaftler mit dem Interesse an einer allg. Logik oder Theorie der Formen "von allem". Am Beispiel der Sprache ist die Semiotik am ausgiebigsten durchgeführt worden, sie ist aber viel allgemeiner und scheint mir insbesondere ein Potential für die Beschreibung von psychologischen Sachverhalten zu enthalten, das noch kaum erschlossen ist (vgl. den Abschnitt über Semiotik im Kapitel1.1, Funktionskreis, S. 23-26).
2.2.4. Die logische Struktur eines Zeichens als dreistellige Relation
2.2.4.1. Semantik
Die Systematik der Bezüge zwischen Referenz und Repräsentanz, wie sie sich für eine spezifizierte Interpretanz in einer Semiose-Klasse darstellen.
2.2.4.2. Pragmatik
Bühlers Organon; Jakobson; Sprechakttheorie.
2.2.4.3. Syntaktik
Worin könnte eine ökopsychologische Syntaktik bestehen?
Psychologie des Einheitenbildens: Kategorialität, Prototypen etc.
Lewins Topologische Psychol. des Ein- und Ausschliessens
Phänomenale Kausalität
etc.
2.2.5. Sprache als Reflexivität
In unserem Zusammenhang müsste nun die Rolle von Sprache als innerpsychisches Medium ausgeführt werden. Meine These ist, dass Sprachlichkeit als ein besonders wichtiger Fall von Reflexivität den Überbau der menschlichen psychologischen Binnenorganisation charakterisiert.
Ausführung aus Zeitgründen nicht mehr möglich.
2.3. Imagination oder interne Raum-Zeit-Gestalten oder welche Rolle spielen nichtsprachliche (ikonische) Repräsentationen?
Ich mache hier einen (ungewöhnlichen) Vorschlag, im personalen Überbau neben dem Selbst und der Sprachlichkeit ein weiteres internes Zeichensystem mit den evozierten Sekundäreigenschaften anzunehmen und langfristig der empirischeneine Forschung ähnlich zugänglich zu machen, wie wir es mit der Sprachlichkeit tun. "Vorstellung" ist an sich ein altes Thema der Psychologie, das Bildliche bis hin zur sog. Eidetik reicht. Eidetisch wird eine bei Kindern und in seltenen Fällen bei Erwachsenen festgestellte Fähigkeit genannt, eine Situation, oft nach einem kurzen Blick, "bildlich" so intensiv und detailliert im Gedächtnis zu behalten und benutzen zu können, wie wenn man eine Abbildung direkt vor Augen hätte. Die Fähigkeit ist selten vorzufinden, in geringeren Graden charakterisiert sie manchen Künstler oder Karikaturisten, der eine Art Projektion eines geplanten Bildes auf seine Leinwand "werfen" kann und dann an Details in einer Ecke zeichnet und dennoch die Proportionen des Ganzen einhält, ohne zuerst eine umfassende Skizze auf das Blatt zeichnen zu müssen. Man sollte sich aber von der statistischen Seltenheit solcher Leistungen nicht ablenken lassen und die Frage verfolgen, ob Bildliches ähnlich wie Sprache nicht nur eine äussere, sondern auch eine innere Form, ein Medium darstellt, in der Psychisches sich manifestieren kann.
Raum-Zeit-Gestalten können wir intern vollziehen in der körperbezogenen haltungsmässig-mimisch-gestisch-tänzerischen, in der aussenweltbezogenen räumlichen, bildlichen, dinglichen oder in der geschehnisbezogenen musikalischen, "filmischen", "motorischen" u.ä. Vorstellung. In Anlehnung an das Feld der bildlichen Vorstellungsforschung (imagery) spreche ich vereinfachend von Imagination oder Imaginativität. Die meisten dieser Vorstellungen haben irgendwie flüchtigen Charakter, sind aber angenähert repetierbar, und sie sind wie sprachliche Inhalte ein Stück weit, doch kaum je umfassend, erlebbar. Anders als beim Erleben im allgemeinen verfügen wir jedoch für Imaginatives im hier verstandenen Sinn über perzeptive und exekutive Umsetzungsmöglichkeiten, dh wir können Imaginationen und sprechbare Erlebensinhalte durch Handlungen in realen Räumen und Zeiten konkretisieren (vgl. Umw, Kult) Direkter als auf dem Umweg über sprachliche Beschreibung sind Imaginationen in Raum und Zeit angenähert fixierbar und in der Folge oder vielerorts uns selbst und anderen wieder zugänglich. Und diese andern sind, besonders nach geeigneter Vorbildung und Übung, ähnlich wie bei der mündlichen oder schriftlich-sprachlichen Kommunikation - aber besser als beim Erleben im allgemeinen, etwa bei Gefühlen - in der Lage, Wesentliches aus unseren Konkretisierungen zu entnehmen und in ihrer eigenen Imagination neu zu vollziehen.
In dieser ganzen Gruppe von, wie man vielleicht sagen kann, kunstaffinen Vorstellungen realisieren viele wenn nicht alle Menschen auf ihre Weise psychische Inhalte, denen sie, so glaube ich, eine grosse Bedeutung für das individuelle wie für das soziale Leben zumessen. In unserer Gesellschaft, besonders in den gebildeten Schichten, ist die Pflege dieser psychischen Daseinsformen seit einigen Jahrhunderten in hohem Masse von sprachlichen Formen bedrängt worden, indem sie entweder auf pure Instrumentalität der Illustration reduziert oder durch prestigegeladene Hochstilisierung einer speziellen "Kultur" reserviert werden. Während solche Vorstellungen zusammen mit ihren externen Konkretisierungen das Leben zB des europäischen Mittelalters in hohem Masse geprägt haben, sind sie etwa im schulischen Alltag des 19. und 20. Jahrhunderts stark vernachlässig worden. In jüngerer Zeit macht sich mit Erscheinungen wie der Popularisierung von Musik und bildender Kunst und besonders den elektronischen Medien eine deutliche Intensivierung der Pflege dieser Seiten psychischer Existenz wieder bemerkbar. Viele suchen sie auch in der Auseinandersetzung mit ihrer noch besser erhaltenen Pflege in fremden Kulturen (Trachten, Bauweisen, Rituale, Feste, Musiken u.a.m.) oder unter Stichworten wie "feminines Erleben und Gestalten" zu erneuern und zu verbreiten.
Üblicher ist vielleicht, die Imagination von Raum- und Zeitstrukturen mit dem Erleben überhaupt zusammenfallen zu lassen. Sprachliches und Imaginatives sind jedoch, jedenfalls in meiner Erfahrung, sozusagen kommunizierbarer als das Erleben selber. Ich meine, dass zwischen dem Erleben und der Imagination eher eine ähnliche Beziehung angenommen werden sollte wie zwischen dem Erleben und der Sprache: Übersetzung und Rückübersetzung scheint bei Sprachlichem und Imaginativem leichter gangbar als beim Erleben tout pur.
Sprachlichkeit und Imaginativität sollten deshalb als einander gleichwertige psychische Erscheinungen behandelt werden, Erleben vielleicht eher als übergeordnete, aber weniger artikulierte Vorform bzw. vorläufige Betrachtungsweise von Innerpsychischem. Denn sie sind beide nur in gewisser Hinsicht Erlebnisformen, in gewisser Hinsicht auch mehr.
Sollte das Ergebnis näherer Untersuchung wahrscheinlich machen, dass mit dem Selbst, der Sprachlichkeit und der Imagination die Zeichenformen des innerpsychischen Überbaus erschöpfend aufgezählt und damit eine eigene Konstruktion für das Erleben als überflüssig erwiesen sei, so wäre für die Klarheit der Konstruktion der personalen Binnenstruktur mehr gewonnen als verloren. Mein Versuch nährt sich aus der Hoffnung, mit dem Konstrukt der Imagination aus gewissen methodischen Schwierigkeiten des Erlebnisbegriffes herauszukommen und zugleich wichtige Aspekte des Psychischen, nämlich das motivationsaffinere Raum-Zeitliche, aus der methodischen Umklammerung durch das kognitionsaffinere Sprachliche zu befreien.
2.4. Selbst oder Ich oder was gibt dem Individuum über Einheitlichkeit und Ganzheitlichkeit der Person hinaus seine einmalige Identität: Ich ?
2.4.1. Was meinen wir mit Selbst oder Ich?
Es handelt sich um einen ausserordentlich schwierigen Begriff mit einer langen Denkgeschichte (etwa mit Sokrates' "Erkenne Dich Selbst!" anfangend), wenig überzeugender empirischer Forschung und verwirrlicher Nähe zur Umgangssprache. Bis in die Jahrhundertmitte gibt es praktisch keine empirischen Untersuchungen; was seither gemacht wurde, neigt zum Verfliessen mit Persönlichkeits- und/oder Differentialpsychologie. Von der Tatsache der Entwicklung ist das Selbst ebenfalls nicht abzutrennen, wie der schöne Buchtitel zum Thema von G.W. Allport "Becoming" zeigt. Allport zieht übrigens in seinen Schriften die Bezeichnung "Proprium" vor, die gewiss mit "Selbst" verwandet, aber weniger explizit als "Ich" den Erlebnisaspekt betont.
(A) Das Selbst gilt allgemein als jene psychologische Konstruktion, welche die Gesamtheit der psychologischen Funktionen eines Individuums auf einmalige Weise in eine einheitliche Gestalt organisiert. In dieser Rolle kann man das Selbst als den Urspung des individuellen Handelns bezeichnen und mehr oder weniger synomym mit Ausdrücken wie Subjekt, Person, Agent, u.ä. verwenden, mit denen man auf eine zentrale Instanz des Individuums verweist. Die Schwierigkeit mit dem Begriff liegt offensichtlich darin, dass, wenn das Selbst das Handeln der ganzen Person bestimmt, die Frage offen bleibt, wer oder was denn das Selbst bestimmte; ein unauflösbarer Kreis- oder Kettenschluss ist vorprogrammiert.
Es stellt sich zudem die Frage, in welchem Verhältnis Selbst und Person zu sehen sind. Offensichtlich sind auch sozial lebende Tiere in ihrem Verhalten gegenüber den Gruppengliedern von einer weitgehenden Einheitlichkeit ihrer jeweiligen "Person" bestimmt; komplexere Tiere kennen voneinander (weite Teile) ihre(r) Lebensgeschichten und ziehen daraus Konsequenzen im Alltagshandeln (vgl. etwa Waal, Frans de (1989) Peacemaking among primates. Cambridge Mass., Harvard Univ. Press. (auch deutsch). Insofern sie also einheitlich handeln, "sind" sie "Personen"; "haben" sie deswegen auch schon ein Selbst oder Ich?
(B) Auch erlebnismässig bringt man das Selbst oder Ich mit dem Zentrum oder Ursprung, also mit dem eigentlichen Subjekt des Handelns in Verbindung: es ist "ich selbst", der oder die handelt. Als erlebtes Selbst wird es aber gleichzeitig zu (s)einem Objekt, indem das Subjekt aus sich selbst auch ein Gegenüber macht. William James (1890) hat das in die schöne englische Formel vom "I" als Subjekt gebracht, welches das "Me" als Objekt erkennt. Das Selbst ist dann jenes Subjekt, das sich selbst zum Objekt hat.
Die Bedeutungen (A) und (B) ziehen sich wie ein roter Faden durch die Literatur; sie lassen sich nicht immer klar unterscheiden, weil der Unterschied wieder einmal eher in der Betrachtungsweise als im Sachverhalt liegt. Ein gängiger Sprachgebrauch (der Praxis) beispielsweise, der beide Bedeutungen zu vermengen sucht, redet vom Selbst als dem Inbegriff aller Gedanken, Gefühle, Strebungen, Gewohnheiten, etc., welche ein Individuum als seine eigenen erfährt oder welche ihm von Dritten als seine eigenen zugeschrieben werden. Nur insoweit man die Bedeutung dieses "Eigenseins" empirisch differenzieren kann, dürfte dieser Begriffsgebrauch sinnvoll sein; sonst fällt er nämlich zusammen mit dem Begriff der gesamten psychischen Organisation, und es ist nichts gewonnen.
Bei beiden Begriffsaspektn handelt es sich so, wie die Begriffe in der Literatur gebraucht werden, um Attributionen mit einem gewissen Reifikationsanspruch: das Selbst, wenn es sich nicht um etwas Psychisches handelte, wäre ein Gegenstand, den man sehen oder greifen können müsste: das Subjekt im Subjekt als "Homunculus" und das Objekt im Subjekt in Analogie zu physischen handelnden und leidenden Substanzen. Der Attributionscharakter ist in der Bedeutung (B) direkt erkennbar, wenn ein Selbst dieser Art von einem Betrachter andern Personen zugeschrieben wird. Solange ein Betrachter ein Selbst nur erlebend für sich selbst beansprucht, handelt es sich um ein Erlebnis, dem diese Subjekt-Objekt-Separierung nicht unbedingt eigen sein muss. Sobald der Betrachter aber über sein eigenes Selbst sprachlich berichtet, fällt er in Form der Selbst-Attribution notwendig in eine Subjekt-Objekt-Sprachfigur, die er dann auf sich und andere anwendet.
Viele Autoren vermeiden die Reifizierungsfalle, indem sie vom Selbst grundsätzlich als dem Selbstkonzept sprechen, welches ein Individuum sich selbst oder anderen zuschreibt. Damit nähern wir uns der eigenen Betrachtungsweise (werden uns aber vor Konstruktivismusfallen hüten müssen).
2.4.2. Genese des Selbst
Versuch zu zeigen, dass erste Voraussetzung die Fähigkeit zur Identifikation von Artgenossen ist (auf Individualstufe oder auf Gruppenstufe wie etwa bei sozialen Insekten), morphologisch und verhaltensmässig. Welche Rolle spielen nun Externalisierungen, angefangen mit Raumanspruchen, dabei? Der andere bildet einen Hof von Bedeutungen, ich selber? Schliesst sich daran die Selbstreflexion oder geht sie im inneren Sekundärsystem voran, oder ist beides wechwelweise hilfreich? vgl. Boesch 1989/91, Kapitel 8.
2.4.3. Selbst als internes Sekundärsystem
Beide dargestellten Bedeutungen des subjekthaften und des objekthaften Selbst erfüllen durchaus die Verdoppelungsidee. Die Durchführung ist derzeit rein heuristisch. Es hat wenig Sinn, sie losgelöst vom Rest der Konstruktion zu beurteilen, da ihr allfälliger Gewinn vorwiegend darin liegt, mit einem einfachen und sehr allgemeinen Prinzip (relative Verdoppelung und Bezug) sehr verschiedenartige Erscheinungen zu beschreiben.
Im konstruierten Sekundärsystem des Selbst sind definitionsgemäss Inhalte aus G, allerdings als eine partielle Selektion, repräsentiert und wirksam. Sind in einem so verstandenen Selbst analoge Restrukturierungsvorgänge möglich, wie wir sie früher im Bereich der kognitiven Prozesse K angenommen haben, so gewinnt das Sekundärsystem als Selbst gegenüber K infolge seiner grösseren Selektivität zusätzliche "Freiheitsgrade" der Umstrukturierung, weil ein Teil der in G wirksamen Zusammenhänge oder Einschränkungen im Selbst unwirksam bleibt. Wenn die im Selbst aus der von G relativ abgetrennten Restrukturierung gewonnenen Zustände wieder nach K zurückwirken können, so haben wir genau das gewonnen, was für das Subjekt des Handelns postuliert wird, ohne dass wir eine besondere Instanz annehmen müssen, die ihrerseits eines "Steuermannes" bedarf. Obwohl das Selbst dann keine eigenständig entscheidende Instanz ist, kann seine Wirkung auf K oder G wie die einer solchen beschrieben werden.
Auch der zweite Aspekt des traditionellen Selbstkonzepts, die Reflexivität, bedarf keiner eigenen Begründung mehr; ein wechselseitiger Bezug zwischen den beiden Teilsystemen ist in ihrer Konstruktion vorgesehen. Ob oder wie die Sache erlebnismässig aussieht, ob die Subjekt-Objekt-Erscheinung genuin oder sprachlich bedingt ist, braucht uns in der psychologischen Konstruktion nicht zu kümmern. Es ist möglich, aber durchaus nicht notwendig, dass die Vorgänge im Selbst mit den privat erlebbaren Gefühlen, Feststellungen, Erwägungen, Schlussfolgerungen usf. einigermassen zusammenfallen.
Der Vorzug der Sekundärsystem-Vorstellung liegt in der grösseren Nähe zu den übrigen psychologischen Funktionen und in ihrer Affinität zum Prozessdenken.
2.4.4. Selbst in psychologischen Denksystemen
Nun haben freilich eine grosse Zahl von Autoren in ihren psychologischen Denksystemen dem Begriff eine je eigene Bedeutung verliehen. Sie können hier weder aufgezählt noch exemplarisch erläutert werden.
2.4.4.1. Psychoanalyse, Ich-Psychologie
Eine etwas eingegrenztere Bedeutung gewinnt das Selbst in psychoanalytischem Kontext. So wird etwa von Rogers das Selbst jenen psychischen Strukturen oder Schichten vorbehalten, welche dem bewussten Erleben akzeptabel sind. Die entsprechenden Personteile (Ich, bei Freud) sind werden dabei als Reaktionen oder Konfliktverarbeitungsergebnis zwischen den urtümlichen Triebzielen (Es) und den triebversagenden odler -regulierenden äusseren oder internalisierten Instanzen (Über-Ich) verstanden. In der Ich-Psychologie (Hartmann u.a.) wird dieser Instanz eine grössere Eigensetändigkeit zugestanden; doch bleibt die Ausgrenzung des Unbewussten als Verdrängtes. Die Einschränkung ruft dialektisch nach ihrer Auflösung, so dass in anderen tiefenpsychologischen Schulen, das Selbst auch seinen komplementären Gegensatz oder "Schatten" (Jung) mit umfasst.
2.4.4.2. "Humanistische" Psychologie: Selbst-Verwirklichung
Bei Rogers, Maslow und anderen wird das Selbst als ein Potential verstanden, welches in jeder Person angelegt ist und nach Aktualisierung oder Verwirklichung drängt. In der Bedürfnispyramide Maslows erscheinen nach Befriedigung der grundlegenden physiologischen Bedürfnisse, der Sicherheits- und der Zugehörigkeitsbedürfnisse die Selbstwert- und die Selbstvedrwirklichungsbedürfnisse; später wurde noch ein Bedürfnis nach Transzendenz beigefügt.
2.4.5. Selbst in der Forschung
2.4.5.1. Aspekt des "I" (Selbst als Subjekt)
Einschlägige empirische Forschung, die das postulierte Selbst als Instanz des Handeln operational von der gesamten psychischen Organisation abzutrennen vermöchte ist mir nicht bekannt, wenn man von den überwiegend phänomenologischen Studien einiger Gestalttheoretiker absieht (vgl. Koffka 1935).
Ein eher amüsanter Aspekt dieser Studien, der später von Gibson aufgenommen worden ist, betrifft die Lokalisation des wahrnehmenden Ichs im Körper, der sog. Stationspunkt. Die Aussagen der Vpn lokalisieren ihn über der Nasenwurzel vor dem Schnittpuntk der Sehstrahlen. Passend dazu ist der Umstand, dass in der chinesischen Sprache das Wort für "Nase" auch zur Bezeichnung dessen verwendet wird, was wir mit Selbst meinen.
2.4.5.2. Aspekt des "Me" (Selbst als reflexives Objekt)
Tausende von Studien mittels Fragebogen hat Wylie (1979) zusammengestellt. Die Studien beruhen auf wenigen methodisch standardisierten Fragebogen bzw. meistens auf ad hoc Verfahren. Sie fassen das Selbst mehrheitlich als eine kürzer- oder längerfristige bestehende Disposition analog zu Persönlichkeitsvariablen auf. Gültige Aussagen zur Psychologie des Selbst als allgemeinpsychologische Struktur oder Prozess lassen sich daraus nicht ableiten.
2.4.5.3. Verwandte Forschungsthemen
In einer grossen Zahl von älteren oder aktuellen Forschungsthemen sind Aspekte des Selbst involviert. Von den darin aktiven Forschern werden sie mehr oder weniger explizit auf Selbst-Begriffe bezogen. Auch hier sind prozessorientierte Untersuchungen selten. Einige seien hier nur aufgezählt, nicht weiter untersucht.
- Willensforschung, Volition (Vorsatz)- Anspruchsniveau (Lewin) --> Leistungsmotivation (Heckhausen)
- Intrinsische Motivation
- Kogn. Dissonanz, Konsistenz, Reaktanz (Festinger -->)
- Locus of Control (internal - external) (Rotter -->)
- Attributionstheorie (Heider -->)
- Geschlechtsrollen u.a. Gruppenidentitäten (vgl. Soz)
- Learned Helplessness (Seligman -->)
- Terminale und instrumentale Werthaltungen (Rokeach -->)
- Handlungspotential (Boesch)
- Self-Disclosure oder Privatsphäre (Geheimnis)
- Selbst in Ding- und Umweltpsychologe (vgl. Umw, Kult)
2.4.5.4. "Selbst" in Bindestrich-Kombinationen
In allen psychologsich differenzierten Alltagssprachen findet sich eine grosse Zahl von Wortgebräuchen in Bindestrich-Verbindung mit Selbst-, Eigen- oder Ich; English & English (1958) haben gegen 1000 solche Doppelwörter gezählt, von denen viele mit mehr oder meist weniger Erfolg zu psychologischen Fachtermini gemacht worden sind. Beispiele und Erläuterungen dazu finden sich in jedem Fachwörterbuch.