Alfred Lang

University of Bern, Switzerland

Magazine Article 1990

Wissenschaft interdisziplinär: Ohne Disziplin keine Interdisziplinarität

1990.05

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Unipress (Univ. Bern) Nr. 67 vom Dezember 1990, S. 20-24

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Der nachstehende Text gibt den leicht ergänzten Inhalt von Diskussionsbeiträgen des Verfassers an der Münchenwiler-Tagung des Collegium Generale der Universität Bern vom 6./7. Juli 1990 wieder.


 

Interdisziplinarität ist notwendig

Interdisziplinär zu forschen, zu lehren und zu lernen ist ein Wunsch vieler, freilich nicht aller Mitglieder der Universität auf allen Stufen. Es ist aber auch eine Forderung, die immer kräftiger von aussen an die Universität herangetragen wird. Dass die Probleme unserer Lebenswelt sich nicht um die Disziplinengrenzen kümmern, ist eine Binsenwahrheit. Forschung und Lehre von den allerdringlichsten Problembereichen in Umwelt und Gesellschaft her zu organisieren, hiesse freilich, die Teufel des wissenschaftlich-industriellen Zeitalters mit Belzebuben zu ersetzen. Die gegenwärtige Tendenz vieler Kreise (einschliesslich einiger universitärer Kräfte), aus der Universität immer mehr eine Ansammlung von Fachhochschulen, spezialisierten Forschungsinstituten und Dienstleistungssstellen zu machen, ist ebenso verhängnisvoll wie die wahnsinnige Entwicklung der letzten Jahrzehnte, die zu einer Vervielfachung der wissenschaftlichen Disziplinen, ihrer hohen Spezialisierung und ihrer oft weitgehenden Abschottung gegeneinander geführt hat.

Vielleicht kann die gezielte Pflege von Interdisziplinarität eine Milderung des Übels, allerdings kaum seine Heilung, herbeiführen. Für die Öffentlichkeit muss das Konzert der Verlautbarungen aus den Wissenschaften wie Kakophonie wirken. Durch mediengemässe Filterung und Entstellung, durch die übliche gewordene Verwechslung von Wissenschaft und Technik, durch übersteigerte und nicht eingehaltene Versprechungen u.v.a.m. ist ein Klima entstanden, in dem nicht nur die vielen angenehmen Errungenschaften des modernen Lebens den Wissenschaften und ihren Folgeunternehmungen verdankt, sondern auch die neuartigen Gefahren und viele der alten Ängste den Wissenschaften angelastet werden. Die Bereitschaft steigt, dies den Wissenschaftern wo möglich heimzuzahlen, obwohl man sehr wohl weiss, wie unverzichtbar geworden sie sind. Das Bild einer riesigen Tinguély-Maschine drängt sich auf. Allerdings kann sich der Laie, steht er vor den Wissenschaften, nicht in entlastende Belustigungsgefühle retten, weil er weiss, dass er täglich von der Maschinerie getroffen werden kann. Steigern sich die Gefühle der Betroffenen von Hilflosigkeit in Ausweglosigkeit, so kann es zu panikartigen Zerstörungsanfällen kommen.

Besonders perfid sind die gegenwärtigen Bedingungen übersteigerter Disziplinarität für die Studierenden. Von den Wissenschaften fasziniert oder wenigstens an ihrem Nutzen - für die Allgemeinheit oder doch für eine Laufbahn - interessiert, werden sie durch die Spezialiserungsmuster der Wissenschaften und die auf deren Durchsetzung angelegten Studienpläne in einen Zwang versetzt, der den zeitgemässen Versprechungen von Mündigkeit und Freiheit für ein eigenes Leben ins Gesicht schlägt. Erfolg hängt zu sehr vom Grad der Spezialisierung ab. Die Disziplinen aber - dazu herausgebildet, der Vielfalt der Gegenstände gerecht zu werden, oder jedenfall damit gerechtfertigt - verfehlen offensichtlich die Verhältnisse und wirken wie Disziplinierungen, die von einem ganzheitlichen Leben fernhalten.

 

Drei Arten von Interdisziplinarität

Nun ist jedoch seit langem Interdisziplinarität an der Universität durchaus auch eine Wirklichkeit. Zwar gibt es keine brauchbare Erhebung darüber. In der Forschung, besonders im Bereich der Naturwissenschaften und der Medizin, übersteigen eine grosse Zahl von Projekten die Disziplinengrenzen, und im Bereich vieler Geisteswissenschaften wird seit alters her eine Tradition von Gemeinschaftsseminaren gepflegt. Beides geschieht teils aufgrund freundschaftlichen Zusammenfindens von Forschenden und Lehrenden und Lernenden, teils findet es institutionelle Unterstützung in Form von formellen Projekten oder dazu eingesetzten Kommissionen. Seltener ist allerdings, trotz den Anstrengungen des Collegium Generale und der Akademischen Kommission, die fakultätsübergreifende Kooperation. Eine differenzierte Erhebung des interdisziplinären Geschehens und insbesondere eine geeignete Kasuistik, die Einblicke in die Voraussetzungen, Prozesse, Schwierigkeiten und Erfolge von Interdisziplinarität aufzeigen könnte, ist ein Desiderat. In Ermangelung solcher Daten über die Berner Verhältnisse sind wir auf auswärtige Befunde, allgemeine Erwägungen und persönliche Erfahrungen angewiesen.

Die meisten interdisziplinären Unternehmen haben ihren Ursprung in disziplinären Fragestellungen, deren Lösungen oder Lösungsversuche innerhalb der Disziplin nicht gelingen wollen oder nicht befriedigen können. Eine wichtige Unterscheidung ergibt sich, wenn man nach dem Verhältnis zwischen den kooperierenden Disziplinen fragt. Es scheint mir, dass die drei nachstehend skizzierten Weisen von Interdisziplinarität bestimmte Affinitäten aufweisen: die erste mit den Naturwissenschaften, die zweite mit den Geisteswissenschaften, während die dritte sich um diese traditionelle Separierung der Disziplinen gerade nicht kümmern darf.

 

Instrumentelle Interdisziplinarität

In vielen Projekten haben die einbezogenen Disziplinen für die ursprüngliche Fragestellung eine instrumentelle Funktion. Sie müssen, sei es technische, sei es wissensmässige, Voraussetzungen schaffen, damit eine Fragestellung überhaupt weitergetrieben werden kann. Die Bewertung der instrumentelle Funktion muss der Bewertung der Ausgangsfragestellung nicht nachstehen; denn nicht nur kann sie ein wesentliches Glied in einer Kette darstellen, sie kann auch zu einer Änderung der Ausgangsfrage zwingen. Instrumentelle Interdisziplinarität ist häufig und wichtig, aber sie reicht nicht aus.

 

Multidisziplinarität als "Wert in sich selbst"

Sobald man anfängt, sich mit einer Frage intensiv zu beschäftigen, gibt es, grob gesprochen, zwei Entwicklungsmöglichkeiten, die wohl eher mit dem Temperament des Wissenschaftlers als mit dem Forschungsgegenstand in Verbindung zu bringen sind: der eine Forscher kann sich mit seinem Gegenstand zusammen "einschliessen" und immer mehr über immer weniger -- schliesslich "alles über nichts" -- herausfinden; der andere kann seine eigene Rolle bei der Konstituierung seines Gegenstandes im Auge behalten und ein Bedürfnis dafür entwickeln, seinen Gegenstand auch in andere Perspektiven zu drehen. Fast alle Wissenschaftler sind heute bereit, ihre Disziplin als eine Folge oder einen verzweigenden Strom von Erkenntnissen zu verstehen, von denen in gewisser Hinsicht jeweils bessere die jeweils begrenzteren ablösen. Es ist merkwürdig, dass so wenig Wissenschaftler bereit sind, eine analoge Haltung ihrem Ausgangsgegenstand gegenüber einzunehmen. In multidisziplinären Auseinandersetzungen lernt man die Dogmen der eigenen Disziplin an den Vorurteilen der andern relativieren. Multidisziplinäre Arbeit ist praktische Wissenschaftstheorie.

 

Interdisziplinäre Leitideen

Aus multidisziplinären Konfrontierungen können sich Fragestellungen ergeben, die auf die gegenseitige Durchdringung zweier oder mehrerer gedanklicher Gebilde aus verschiedenen Disziplinen hin angelegt sind. So kann man beispielsweise "Wahrnehmung" oder "Umwelt" nicht verstehen, wenn man nicht bereit ist, die Grenzen zwischen Disziplinen wie Physik, Chemie, Biologie, Psychologie, Soziologie und Philosophie zugleich schärfer zu artikulieren wie aufzulösen. Man kann von Interdisziplinarität der Leitideen der Forschung oder des Verstehens sprechen. Sie beruht auf der in der Nachfolge von Kant in der Wissenschaftstheorie des 20. Jahrhunderts zunehmend deutlicher herausgearbeiteten Einsicht (Peirce, Einstein, Lewin, Polanyi, Kuhn, Foucault, Feyerabend u.a.), dass Gegenstände von Wissenschaften nicht einfach vorgefunden werden, sondern im wesentlichen durch Begrifflichkeiten, Methoden und Theorien konstituiert sind. Disziplinäre Gegenstandsbestimmungen sind demnach immer provisorisch, revisionsbedürftig und partiell. Versteht man sie als Stadien fortschreitender Verständnisverbesserung, so sind Disziplinengrenzen so nützlich und so dumm wie Grundstücks- oder Landesgrenzen.

 

Disziplinen sind die Voraussetzung von Interdisziplinarität

Ich möchte also keineswegs die Auflösung der Disziplinen anstreben. Aber sie sind Instrumente, nicht Ziele. Sie allein können die begrifflichen und methodischen Mittel bereitstellen, welche Gegenstände konstituieren und behandelbar machen. Weil sie das tun, enthalten sie aber auch zwingend in sich die Aufforderung, sie selbst zu übersteigen. Es ist diese Konsequenz der Disziplinen-Aufgliederung, die die Wissenschaft des 20. Jahrhunderts nicht ernsthaft gezogen hat und die wir zu korrigieren haben.

Ohne den Gründen nachgehen zu können, glaube ich, dass die Vereinzelung der Disziplinen sehr viel damit zu tun hat, dass das Werden der Wissenschaften in einem viel höheren Grade von gesellschaftlicher Dynamik als von rein fachlichen Entwicklungen geprägt ist. Disziplinen sind in erster Linie Personen und Personengruppen. Man vergegenwärtige sich, in welchem Masse ein junger Wissenschaftler darauf angewiesen ist, sich an den aktuellen Strömungen seines Faches zu orientieren. Wenn wir aber die Disziplinen so fest institutionalisiert haben, wie das bei der gegenwärtigen Universität mit ihren hunderten von "Einheiten" der Fall ist, so sollten wir wohl auch eine kluge Institutionalisierung der Interdisziplinarität vornehmen.

Es fehlt in der Schweiz schmerzlich so etwas wie ein Zentrum für interdisziplinär-wissenschaftliches Arbeiten (ZIWA). Die "Freisemester" zerstreuen uns alle sieben Jahre "disziplinär" in alle Welt oder in einsame Gelehrtenklausur. Ebenso notwendig wäre, uns interdisziplinär im Umkreis des Landes zusammenzubringen. Sollte ein schweizerisches ZIWA wirklich unsere finanziellen Möglichkeiten und nicht nur den politischen Willen dazu übersteigen, so böte vielleicht die europäische Entwicklung Chancen für ein Gemeinschaftsunternehmen der kleineren Länder. Eine Verdichtung des Freisemester-Zyklus und das Angebot entsprechender Arbeitsmöglichkeiten, die wohl über die Präsenzzeiten im ZIWA hinauswirken würden, könnten die Qualität schweizerischer Wissenschaft im Verhältnis zum Finanzbedarf stark verbessern.

 

Pragmatik der Interdisziplinarität: Das Ein-Sechstel-Modell

Da aber die Schaffung eines solchen Zentrum ein eher mittel- bis langfristiges Unternehmen sein dürfte und weil Interdisziplinarität auf allen Stufen vom Gymnasium über die universitäre Lehre bis in die Forschung jetzt gepflegt werden sollte, möchte ich einen sehr einfachen Vorschlag zur Diskussion stellen.

Es soll allen vollamtlich Unterrichtenden und allen Studierenden an der Universität das Recht und die Verpflichtung auferlegt werden, einen Sechstel ihres Pensums interdisziplinär zu lehren und zu lernen.

Für die Professoren würde das heissen, dass sie im Schnitt jedes Semester eine Wochenstunde gemeinsam mit einem oder mehreren Kollegen aus andern Fächern unterrichten. Gemeinschafts-Lehrveranstaltungen finden in manchen Bereichen regelmässig statt; es handelt sich nicht um etwas unerprobt Neues. Die gewisse Ausweitung und die institutionelle Anerkennung dürfte aber eine deutliche Aufwertung und verstärkte Wirkung dieser Veranstaltungen mit sich bringen. Ich denke nicht, dass sehr viel Detailregelung nötig wäre. Denn besser als Vorschriften würden das Interesse der Studierenden und der Druck der Kollegen das Angebot von qualitativ hochstehenden gemeinsamen Lehrformen und -inhalten fördern. Vielleicht müsste man zu vermeiden versuchen, dass die Verpflichtung ausschliesslich in Form von Beiträgen an Ringvorlesungen abgegolten würde, obwohl das bereits ein Minimum an Interdisziplinarität enthält, wenn wenigstens deren Planung gemeinsam vorgenommen wird. Aber es würde ausreichen, Missbräuche wie das ausschliessliche Kooperieren im allerengsten Kreis durch Sichtbarmachen zu vermindern.

Die Regelung hat natürlich nur eine Chance, wenn in die Studienpläne aller Fächer die entsprechenden "Freiräume" eingebaut werden. Auch hier gibt es schon einige Fächer, deren Programme ausdrücklich das "Fremdgehen" vorsehen oder verlangen. Aber, so weit ich die Verhältnisse überschaue, müssten wohl innert einer gewissen Frist Anpassungen der Studienpläne verlangt werden, und dies natürlich ohne Vermehrung des Gesamtpensums.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass es ein Fach gibt, welches ernsthaft darauf bestehen möchte, sein Studienprogramm sei so randvoll mit absolut unentbehrlichen Inhalten, dass eine Verfremdung eines Sechstels -- genau genommen handelt es sich ja im Durchschnitt nur um einen Zwölftel des jeweiligen Faches, weil die eigenen Fachvertreter an den Veranstaltungen auch mit beteiligt sein können -- nicht in Frage komme. Worin sollte sich denn sonst die Universität von irgendeiner Fach(hoch)schule unterscheiden? Auch müssten die Fachvertreter bedenken, dass auf diese einfache Weise ihre Absolventen auf dem Arbeitsmarkt für sehr viele Tätigkeiten interessanter, attraktiver werden; und dass müsste doch eigentlich den Studierenden zu wünschen sein.

Das Ein-Sechstel-Modell hat viele Vorteile und kaum Nachteile. Es sei denn, man betrachte es als Nachteil, wenn etwas Besseres nicht mehr kostet als das Bisherige. Entscheidend ist, dass Lernende und Lehrende für interdisziplinäre Arbeit nicht "bestraft", sondern auf selbstverständliche Weise belohnt werden: doppelt belohnt werden, weil sie in der Erfüllung ihrer ganz normalen Pflicht abenteuerliche Entdeckungen machen dürfen, ihren Horizont erweitern und ihre Vorurteile einem Risiko aussetzen und zur Disposition stellen können. Als Vorteile würde ich auch bewerten, dass keine neuen institutionellen Strukturen geschaffen werden müssen -- wir haben eh' schon zu viel davon. Anstatt in Kommissionen unter endlosem und frustrierendem Zeiteinsatz um Ziele und Programme zu kämpfen, könnten wir das Bessere von morgen an tun. Wo die Studienpläne es erlauben, tun wir es ja schon heute. Dass eine didaktische Unterstützungs- und Beratungssstelle für interdisziplinäres Arbeiten und eine kleine Projektbörse (im Haus der Universität!) zum Erfolg des Unternehmens beitragen könnten, will ich nicht bestreiten; aber besser ist vielleicht, was jeder Dozent auf Gegenseitigkeit von seinen wechselnden Partnern im Lauf der Zeit persönlich aufnimmt und weitergibt.

 

Die "Schwimmringe" zu "Flossen" aufbauen!

Es scheint, dass viele Wissenschaftler nicht wissen oder leicht und gerne vergessen, dass sie mit ihren Disziplinen nicht auf Kontinenten oder grossen Inseln leben, sondern vielleicht wie in Rettungsringen auf hoher See. Denn was wir erkennen können, ist im Verhältnis zum Ganzen der Welt äusserst punktuell, vorläufig und gefährdet. Interdisziplinär arbeiten heisst jedoch weder über, noch im Leeren zwischen den Disziplinen, sondern stets ausgehend von Disziplinen und zusammen mit anderen Disziplinen, kurz mit und zwischen den Disziplinen forschen, lehren und handeln; heisst vielleicht, tragfähige Verbindungswerke zwischen den Rettungsringen bauen nach dem Modell eines Organismus, in dem Zellen und Organe nur leben und funktionieren können, wenn sie mit ihresgleichen in Verbindung und Austausch existieren. Das ergibt zwar noch keine Inseln, aber vielleicht wenigstens eine Art Flosse.

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