Alfred Lang | ||
Journal Article 1990 | ||
Vom Bildungspotential der Mensch-Computer-BeziehungEin Versuch zur Aufarbeitung einer verpassten Revolution | 1990.01 | |
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Informatik und Unterricht , Nummer 12, Februar 1990 7-17 | © 1998 by Alfred Lang | |
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Das Forum Informatik der Erziehungsdirektorenkonferenz hat seine Tagung 1989 unter den Titel "Lehrer brauchen NIT -- NIT brauchen Lehrer" gestellt. Ich fasse die beiden Sätze als Losungen des Zeitgeistes, vielleicht auch von Interessengruppen, auf und möchte sie deshalb in ihrer Frageform erläutern.
1.1 Brauchen Lehrer die neuen Informationstechniken?
In den frühen 80er Jahren hätte ich als Mikrocomputerfreak der ersten Stunde und aus einer etwas radikalen Skepsis betreffend Schule heraus diese Frage mit "nein" beantwortet. Dies in der Hoffnung, dass der Computer eine einmalige Chance böte, die Schule ein bisschen auf den Kopf zu stellen, dem Lehrer sein nicht ganz zweihundertjahrejunges Übergewicht in der Bildung zu nehmen, das Schüler-Lehrer-Verhältnis um dieses gekräftigte Dritte herum, die Information, neu zu definieren. Die Vorstellung war utopisch, aber nicht ganz irreal, weil die junge Generation mit diesen Geräten so viel geschickter umgeht als die ältere.
Inzwischen haben die Lehrer Tritt gefasst. Eine neue Lehrerspezialisierung ist gefunden worden. Informatik-Curricula wurden und werden konzipiert, Lehrerausbildung dazu wird auf Trab gebracht. Bald ist Informatik -- wie irgendein anderes Fach -- etabliert, mit Stoffplänen und Prüfungsverfahren kanonisiert, mit nicht unbeträchtlichen materiellen Investitionen auf Dauerexistenz abgesichert. Ihre fächerübergreifende Bedeutung macht Informatik besonders attraktiv, ja unentbehrlich. Anders als mit der "neuen Mathematik" klappt die Innovation; denn Informatik verdrängt oder verändert nichts, sie stockt vielmehr auf. Schliesslich ist Informatik eine Technik, nicht bloss eine neue Sicht. Techniken waren immer schon die kräftigeren Herrschaftsmittel als Ideen. Eine Lehrerin oder ein Lehrer ohne Informatik, das würde von den Schülern nicht mehr ernst genommen. Die erste Losung kann also nicht mehr in Frage gestellt werden. Doch bleibt die Frage: was für eine Informatik brauchen Lehrer?
1.2 Brauchen die neuen Informationstechniken Lehrer?
Aus einer Verbindung von differenzierter Sachkenntnis mit ungezügelter Phantasie heraus bin ich auch zu einem "nein" auf diese Frage geneigt gewesen. Ich hatte mir ausgemalt, wie Information mithilfe dieser Maschinen und stark verbesserten Schnittstellen, "Gesichtern" und "Händen" der Computer zum Menschen hin, im Zusammenleben und besonders in der Bildung eine neue Rolle übernehmen könnte. Denn mit dem Computer bekommt Information einige Eigenschaften, die bisher nur in lebenden Systemen beobachtet worden sind. Im besonderen besteht die Möglichkeit, Zeichensysteme höherer Ordnung auszubilden, mit Repräsentationen von Repräsentationen (von Repräsentationen...) und Operationen über Operationen (über Operationen...) rational umzugehen. Die Formel von der künstlichen Intelligenz, obwohl ich sie für irreführend halte, versucht das auszudrücken.
Wenn die Computer (so meine Fortführung des Arguments zur ersten Losung) wirklich ein Potential hätten, die Schule aus ihren Verfestigungen herauszureissen, dann könnte, ja, müsste dies geschehen, ohne dass Lehrer die Verantwortung dafür übernähmen. (Die Formel von der Verantwortung ist ja zweideutig: die Macht über das Lernen übernimmt man wohl; die daraus erwachsenden Konsequenzen müssen, ob sie wollen oder nicht, später die Schüler tragen, seien sie angenehm oder problematisch. Die unpersönliche Formulierung -- man -- sollte deutlich machen, dass ich nicht Schuld zuweisen will; die Lehrer sind hier, wie die Schüler, weitgehend Gefangene ihrer Rollen.)
Weitgehend, sage ich. Denn die Lehrer hätten diesen Vorgang, die computerunterstützte Revolution des Bildungswesens, eigentlich auch als ihreeigene Chance wahrnehmen können, nämlich indem sie sich auf eine Rollenbereinigung eingelassen hätten. Von den mehreren, untereinander im Konflikt stehenden Aufgaben ihres Berufs hätten sie mit Gewinn einige an den Computer abgeben können, um sich auf wesentliche Bereiche zu konzentrieren:
Zum Beispiel Informationsvermittlung: das kann der Computer, einmal ausreichend entwickelt und vernetzt, graphisch und akustisch gereift, einfach besser. Die besten Didaktiker hätten sich auf die Entwicklung von modellhaften, interaktiven Lernumwelten konzentrieren können, die pädagogischen Psychologen auf das Verstehen der zwischen den Lernenden und den computerunterstützten Lernumwelten entstehenden Austauschprozesse und ihrer Folgen.
Zum Beispiel Leistungsbewertung: die Welt selber, auch eine Computermodellwelt, ist der optimale Bewerter. Statt Noten auszuteilen, verweist sie über die Konsequenzen des Handelns auf dessen Folgen und Sinn und steuert so jedes Lernen ungleich gründlicher als der abstrakte Vergleich von gesetztem Lernziel und Lernzielerfüllung oder der eklige, obwohl unumgängliche Vergleich mit den Kameraden.
Entwicklungsbegleitung -- nein, das kann nur ein Mensch! Der Lehrer oder die Lehrerin, von der Stoffvermittlung und von der Lernfortschrittsbewertung befreit, hätte sich dem Kind zuwenden können, und das Kind hätte sich der Lehrerin oder dem Lehrer zuwenden können. Beide gemeinsam hätten aus der Stärke ihres gegenseitigen Vertrauens heraus zum gesamten Stoff ein neues Verhältnis gewinnen können: einen selbstverständlichen Abstand vom Stoff, ein gemeinsam verabredetes Eingehen auf den Stoff. Befreit vom Zwang zur Koalition des Lehrers mit dem Stoff, die sich nur allzu oft gegen das Kind richtet, hätte das Lernen wieder ein Träger von persönlicher und gemeinschaftlicher Entwicklung werden können, anstatt ein zweifelhaftes Instrument der Lebenschancenzuteilung, das nur zu oft falsche Hoffnungen vorgaukelt und zugleich eigentlichen Lebenschancen im Wege steht. Wie wunderbar leicht lernen doch kleine Kinder, lustvoll auf Neues gierig, wenn sie voll Vertrauen von der Mutter oder Andern begleitet ihre Entdeckungsreise in die Welt antreten! Und wie bereichernd ist es für Kinder, immer wieder vorübergehend in die Lehrerrolle zu schlüpfen -- lehrend lernt man am leichtesten -- für andere, die etwas noch nicht ganz begreifen und bewältigen, bei erträglichem Wissensvorsprung aus der Sicht der Belehrten!
Mein Traum vom Computer als Kartellbrecher der geläufigen Schulorganisation war natürlich rasch ausgeträumt. Ich wollte ihn nicht unterdrücken, weil er auch nach der verpassten Revolution noch auf einen Spielraum hinweist, den der einzelne Lehrer hat und nutzen könnte. Mit Hilfe der Informatik könnte nämlich die Lehrer-Schüler-Beziehung zu einer neuen Partnerschaft werden, in welcher der Stoff und die Bewertung nicht mehr so unbedingt dazwischenstehen. Das setzt ein differenzierteres Verständnis des Dritten in der Gruppe, des Computers, voraus.
1.3 Was für Lehrer braucht die Informatik? Was für eine Informatik brauchen die Lehrer?
Wenden wir uns also der Realsituation zu. Die Schule hat Computer eingekauft -- oder sollte ich sagen, sie wurde und wird vom Computer aufgekauft? Die kurze Epoche der Polarisierung der Gesellschaft durch den Computer geht ihrem Ende zu. Sich gegen den Computer Sträuben, ist genau so sinnlos, wie sich ihm Ergeben. Wie können wir nun das beste aus der Situation machen?
So wie es gelaufen ist, brauchen die neuen Techniken natürlich Lehrer. Sie brauchen im Interesse der Menschen solche Lehrer, welche sich nicht von den neuen Informations-Techniken vereinnahmen lassen. Menschen, welche in der Art und Weise, wie sie mit Informatik umgehen, erkennen lassen, dass sie sich mit Kenntnis und Überblick über die Sache nicht begnügen, sondern Durchblick haben.
Da verdient schon die Sprache, in der die NIT daherkommen, Beachtung. Die beiden Tagungstitelsätzchen repräsentieren nämlich Grundstrukturen unseres abendländischen Weltbildes; sie kommen mir wie ein Schlaglicht auf unsere Zivilisation vor, dies je für sich und in ihrer Verbindung.
(1) Die sprachliche Struktur jedes Sätzchens ist: Subjekt und Objekt -- so ist die Welt eingeteilt, unsere Sprache kann eigentlich gar nicht anders: Lehrer gegenüber Technik; Benutzer gegenüber Computer; Lehrer gegenüber Schüler; Schüler gegenüber Lehrer; wir, ich gegenüber allem anderen.(2) Das Prädikat des Satzes, die gewählte Verbindung von Subjekt und Objekt, ist bei Losungen eine Relation des Sollens, der Forderung: "Brauchen" meint: so soll, so muss es sein, ungeachtet dessen was ist, oder dessen was auch sein oder werden könnte.
(3) Das zweite Sätzchen kehrt das erste um; das vorige Objekt wird zum Subjekt, das vorige Subjekt dann notwendig zum Objekt. Was in der Welt nicht geht, nämlich dass Dinge, Werkzeuge, Techniken handeln, schafft die Sprache spielend; und wir glauben es der Sprache, und lassen uns behandeln und ge- und verbrauchen von den Dingen, Werkzeugen, Techniken, während wir sie gleichzeitig für unsere "Objekte" halten. (Am Mensch-Umwelt-Bezug allgemein interessierte Leser seien auf Lang 1988 hingewiesen.)
Die Kommission, die den Titel formuliert hat, möge meine Analyse verzeihen. Doch bin ich dankbar für ihre erhellende Sprache, die mich herausgefordert hat wie ein Programm, das noch nicht elegant genug ist. Und es ist ja wirklich was dran, an dieser Umkehrung von Subjekt und Objekt, ob erwünscht oder nicht. Als Tatsachenfeststellung mit der banaleren Bedeutung von "brauchen" = verwenden stimmen beide Sätzchen. Meint man sie als Sollensforderungen, muss man jedoch doppelt fragen:
Was für Lehrer braucht die Informatik? Und was für eine Informatik brauchen die Lehrer? Was ist, kann, möchte, bewirkt, soll, darf... die Informatik? Und welche Rolle können, sollen, dürfen, müssen, wollen (!)... Lehrer dabei spielen? Stellen wir das "Brauchen" als Sollen zunächst zurück, um etwas unbehinderter verstehen zu können.
Ich habe mein Nachdenken über Mensch und Computer unter das unscheinbare Wort "Beziehung" gestellt. Gerne spreche ich auch von "Partnerschaft", was ja ein besonderer Fall von Beziehung ist. Partnerschaften zeichnen sich aus durch eine gewisse Symmetrie der Beziehung; das schliesst Verschiedenheit der Partner nicht aus. Partnerschaften missversteht man jedoch, wenn man nur vom einen Beziehungspartner her schaut; jeder Partner für sich genommen ist unvollständig. Man muss eine dritte Position einzunehmen versuchen, jeden der beiden engeren Blickpunkte relativieren, die Perspektive wechseln können
Genau das will ich nun weiter tun: die Mensch-Computer-Beziehung als ganze zu verstehen suchen. War bisher von wirklichen und möglichen Partnerschaften zwischen Lehrern und Schülern die Rede, so möchte ich nun den Blick auf die Beziehung zwischen dem typischen Computer und seinem typischen Benutzer richten. Im Vordergrund meiner Überlegungen steht der sog. persönliche Universalcomputer, der in der Schule dominiert, auf der einen Seite, und ein Mensch wie Du und ich auf der andern. Eine an sich nötige tiefergehende Betrachtung der Eigenheiten und Funktionsweisen der beiden "Partner" kann hier nicht geleistet werden. Von besonderem Interesse dürfte aber die sog. Schnittstelle zwischen Mensch und Computer (M-C-"Schnittstelle") sein. Denn dort verwirklicht sich die Beziehung konkret, dort sollte ihre Bedeutung am deutlichsten ablesbar sein. Schnittstelle oder Interface (wörtlich "Zwischengesicht") heisst der Träger der Informationsaustauschprozesse zwischen den Partnern.
Auch diese sprachliche Bezeichnung ist irreführend; denn M-C-"Schnittstellen" haben stets Tiefe. Erstens wird die über die M-C-Schnittstelle fliessende Information vorher und nachher in Stufen mehrfach im Trägercode gewandelt, wodurch sie auch im Inhalt nicht unverändert bleibt; zweitens stellt die über die M-C-Schnittstelle in beiden Richtungen kommunizierte Information stets nur einen Auszug aus der Gesamtinformation des jeweiligen Senders dar und muss im jeweiligen Empfänger in seiner eigenen Form in die dort schon bestehende Struktur integriert werden. Man sollte sich bei dieser Betrachtung nicht dadurch täuschen lassen, dass zwischen je einer der Transformationsstufen auf beiden Seiten durchaus eine gute Korrespondenz bestehen kann, zB zwischen Bytes und gelesenen Buchstaben, dass aber auf einer einzelnen Stufe weder die raumzeitliche Organisation solcher Elemente noch ihre Bedeutungen und ihr Kontext schon mitenthalten sind. Es ist also die Analogie oder der Übertragungsversuch von der technischen zur M-C-"Schnittstelle" bedenklich falsch, wenn man davon ausgeht, dass eine technische Schnittstelle ein Informationswandler ist, welcher zur Immunisierung gegen Störung und zur Rekonstruktion im Empfänger der vom Sender abgegebenen Information optimalisiert ist. Oder will wirklich jemand in einem Computer die in seinem Benutzer aktualisierte Information so gut wie nur möglich approximieren und den Computer-Output als solchen in seinen Benutzer hinein"spielen"?
Ich denke deshalb, dass es sich lohnen müsste, die M-C-"Schnittstelle" genauer und interdisziplinär zu untersuchen. In einer umfassenden Übersicht lässt sich die "Schnittstelle" oder Beziehung auf drei Ebenen sehen, welche je unterschiedlich tief in die beiden Partner hinein- und darüber hinausreichen. Im Folgenden kann ich bloss Schlaglichter auf verschiedene ihrer Aspekte werfen; für Vertiefung muss ich auf die einschlägige Literatur verweisen (vgl. die Liste im Anhang, nähere Angaben bei Lang & Fuhrer i.V.). Faktenfeststellungen sowie Deutungen von und Kritik an herkömmlichen Praktiken und erhellende Hinweise auf Alternativen, also wertende Sätze, sollen nicht streng voneinander geschieden werden, weil es mir in erster Linie um ein Aufbrechen gewohnter Sichten und Denkweisen geht. Sicher kann und muss man die drei Ebenen forschungsmethodisch und didaktisch auseinanderhalten; in der Wirklichkeit kommt jedoch keine von ihnen je allein vor. Deshalb ist es wohl angezeigt, bei jedem Umgang mit Computer-Situationen die drei Beziehungsebenen in ihrer gegenseitigen Durchdringung stets mitzudenken.
2.1 Mikroebene: die ergonomische Schnittstelle oder das Hin und Her von Information
Hier geht es um Eigenschaften an den "Oberflächen" der beiden Partner, konkret um Bildschirm und Tastatur auf der einen, Auge und Hand auf der andern Seite. Der Hardware-Ergonomie der Gestaltung, Aufstellung, Funktionalisierung dieser Gebilde geht die sogenannte Software-Ergonomie, Software-Psychologie oder die "Human Factors in Computing" zur Seite. Thematisiert werden hier beispielsweise Formen und Anordnungen von Material auf dem Bildschirm präsentierter Information und die vom Benutzer verlangten Verhaltensweisen. Es ist zweifellos in diesen beiden Bereichen in den vergangenen Jahren sehr viel Geschicktes zur Optimalisierung der Schnittstelle geschehen. Der gängige (und wiederum sprachlich fragwürdige) Ausdruck der Benützerfreundlichkeit sollte aber nicht vergessen machen, dass eigentliche Bewertungskriterien für diese so genannte bessere Anpassung des Computers an den Menschen nach wie vor fehlen, von ein paar Selbstverständlichkeiten bezüglich Variablen wie Flimmerfrequenz, Schriftbildlesbarkeit u.dgl. einmal abgesehen. Sicher darf die oft angezielte Maximierung der Bearbeitungsgeschwindigkeit nicht ein umfassendes Kriterium sein. Bei andern Aspekten wie zB der Blendfreiheit sind zwar die Probleme erkannt, ihre Umsetzung in die Praxis am Aufstellungsort der Geräte ist aber immer noch weitgehend im Argen (vgl. dazu Abbildung 1). Und überdies lässt der um die Anpassung des Computers an den Menschen entstandene Rummel heute wieder wie früher und zum Schaden des Benutzers allzu leicht übersehen, dass nach wie vor der Löwenanteil der Anpassung nicht vom Konstrukteur des Computers sondern von seinem Benutzer verlangt und von diesem wohl oder übel geleistet wird.
Abbildung 1: Ergonomie der Mensch-Computer-Anordnung
Die schematisch dargestellten Anordnungen sind als Denk- und Probieranregungen intendiert. (A) wird im Text ausgiebig analysiert. (B) lässt sich verhältnismässig leicht improvisieren. Leider liegen noch keine ergonomischen Untersuchungen darüber vor. (C) würde gründliche Forschungs- und Entwicklungsarbeiten für ein kombiniertes Einhand-Tastatur- und Zeige-Gerät voraussetzen. Bisher gibt es dazu nur konzeptuelle Vorarbeiten.
2.2 Mesoebene: die mentale Schnittstelle oder die beidseitigen Hintergründe der Partner
Die Ergonomie droht auch abzulenken von den Tiefenstrukturen der Schnittstelle auf beiden Seiten. Ich werde in meinen weiteren Ausführungen klar zu machen versuchen, dass Information im Teilsystem Mensch und im Teilsystem Computer auf unterschiedliche Träger oder Codes angewiesen ist und daher in diesen beiden Systemen auch unterschiedliche Formen und Inhalte aufweist. Mit dem aus seiner üblichen Bedeutung ausgeweiteten Begriff der Mentalität möchte ich auf dieser Ebene auf Kontraste und auch auf die daraus resultierende Dialektik an der Schnittstelle aufmerksam machen. Der Satz: Das eigentliche Bild ist nicht auf dem Bildschirm, sondern im Kopf des Benutzers, ist eine Einsicht, an die sich vermehrt Analysen der impliziten Annahmen anschliessen sollten, welche der Computerbenutzer über das Geschehen im Computer und welche der Computerkonstrukteur und insbesondere der Programmierer über das Geschehen im Kopf des Benutzers unvermeidlicherweise machen. Die Intelligenz des Computers ist eben nicht die Intelligenz des Menschen.
2.3 Makroebene: die kulturelle Schnittstelle oder die Intensivierung des sozialen Verbands
Die kulturelle Schnittstelle schliesslich bezieht sich auf etwas, was seit einiger Zeit als die "gesellschaftliche Dimension" der Informatik durchaus intensiv und kontrovers diskutiert wird. Es geht konkret um die Folgen, welche die Einführung der Computerei für das menschliche Zusammenleben auf kurze und weitere Sicht zeitigen wird. Wieder wäre mir lieber, wenn die sinnleeren Schwarz-Weiss-Polarisierungen (zB Frisst oder schafft die Informatik Arbeitsplätze?) von differenzierteren und kulturgeschichtlich fundierten Analysen abgelöst oder wenigstens komplementiert würden (zB was für Arbeitsvorgänge verändern oder schaffen diese neuen Maschinen?). Betrachtungen über gesellschaftliche Funktionen der Informatik kann ich aber hier aus Zeitgründen nur andeuten.
Wenn diese Beschreibung des wechselseitigen Inbezugtretens von Mensch und Computer auch nur annährend zutrifft, so muss daraus eine These abgeleitet werden, welche ich im dritten Teil dieser Betrachtungen formulieren und erläutern möchte.
Bei den neuen Informationstechniken darf man nicht die Technik für sich sehen. Ein Computer für sich genommen ist ein wertloser Klumpen Plastic, Kupfer und Silikon, in dem Elektronen hektische Bahnen laufen; als Bestandteil eines Systems Mensch-Computer ist er jedoch ein aussergewöhnliches Produkt und Instrument der kulturellen Evolution des Menschen auf der Basis seiner biologischen Evolution.
3.1 Objektcharakter vs. Systemcharakter von Computer und Benutzer
Den Computer kann man als ein Objekt sehen, vom Menschen gemacht und daher im Belieben des Menschen. Mit diesem engen Blick wird man ihn missverstehen. Auch das Rad ist so ein Objekt. In Verbindung mit menschlichen Aktivitäten ist es weit mehr: aus dem Karren zum Gütertransport sind umfassende gesellschaftliche Vernetzungssysteme geworden: die Räder an den Fahrzeugen haben dann Strassen, Städte, Nationen hervorgebracht, die Räder in den Uhren und den Maschinen haben die arbeitsteilige Industriegesellschaft ermöglicht, haben Fabriken erzeugt, die Städte zerstückelt und das Land zersiedelt. Von der Töpferscheibe bis zur Werkzeugmaschine haben Räder zusammen mit Menschen eine unglaubliche Dynamik entfaltet. Alle diese Räder und was an ihnen hängt, sind längst nicht mehr im Belieben des Menschen, der sie brauchen oder nicht brauchen, oder der sie lieber auf eine andere als die von ihnen erzwungene Weise gebrauchen möchte.
Ich versuche derartige Erfahrungen auf das Feld der neuen Informationstechniken zu übertragen, indem ich einige der zentralen Begriffe des Mensch-Computer-Systems analysiere.
Der Ausdruck Informationstechnologie steht ebenfalls noch nahe beim Objekt, bei einem instrumentell gedachten, verallgemeinerten Werkzeug, das in unserer Hand ist und nach unserem Belieben eingesetzt werden kann. Vielleicht drückt sich im Wort "Technologie" unser schlechtes Gefühl oder Gewissen aus: Gemeint ist ja einfach eine allgemeine Technik, ein praktischer Vollzug von Ideen zu Zwecken. "Technologie" müsste wörtlich auf eine Lehre über, auf unser Verständnis von Technik verweisen. Ich denke nicht, dass wir ein solches haben; der Ausdruck verwechselt Wunsch mit Wirklichkeit. Wir sollten im Auge behalten, dass wir vom Computer im günstigen Fall etwa so viel oder wenig verstehen, wie vielleicht die Römer vom Rad: eine nützliche Transporttechnik, noch kaum eine Ahnung von ihrer Langzeitwirkung als einer evolutiven gesellschaftlichen Kraft.
Der Ausdruck Informatik ist von allen üblichen derjenige, der am meisten auf die Mensch-Maschine-Einheit bezugnimmt. Wenn er nicht so abstrakt und damit so handlich wäre, könnte er darauf verweisen, dass es um ein System mit zwei Teilsystemen geht, zwischen denen ein Informationsfluss besteht und das über Informationsflüsse mit weiteren Systemen, Menschen und Maschinen, koordiniert ist. Die beiden Teilsysteme sind zunächst der Computer und der Mensch; beide sind ihrerseits in Subsysteme differenzierbar. Beide Teilsysteme können wir als materiell-energetische Gebilde betrachten, deren Zustand sich raum-zeitlich von Zeitpunkt zu Zeitpunkt verändert, und deren hauptsächlichen Zweck oder Sinn wir darin erblicken, dass sie auf Informationsverarbeitung angelegt sind.
Unter Information verstehe ich mögliche Zustände bzw. die systematische Zustandsvariation eines Gebildes, sofern diese für ein anderes Gebilde etwas bedeutet. Der Informationsfluss vom einen zum anderen Gebilde bewirkt im empfangenden Gebilde eine Veränderung derart, dass der bisherige Zustand des empfangenden Gebildes kombiniert mit der vom sendenden hereinkommenden Information einen neuen Zustand hervorruft, der weder aus dem bisherigen Zustand des empfangenden Gebildes selber noch allein aus dem Zustand des informationsabgebenden Gebildes erklärt werden kann. (Es wird häufig zwischen kommunikativer Information (zwischen Systemen) und signifikativer Information (eines Systems für sich) unterschieden; das ist nur sinnvoll, wenn man nicht übersieht, dass auch Signifikation nur für einen informierbaren Betrachter zustandekommt. Die Bits und Bytes im Computer-Memory allein sind nicht für sich schon Information, sondern bloss ein Informationspotential für andere Gebilde, welche den Code kennen.)
Die Psychologie beschäftigt sich allgemein mit dem Informationsaustausch von lebenden Gebilden wie Menschen und Tieren mit ihrer Umgebung (so meine etwas ungewöhnliche Definiton dieses Faches). Das ist analog dem Interesse der Biologie für den Stoffwechsel und Energieaustausch von lebenden Gebilden mit ihrer Umgebung. Die beiden Austauschvorgänge sind nicht ganz voneinander zu trennen, weil ja die Information, wenn sie im Zustand eines Gebildes "schlummert" und wenn sie von Gebilde zu Gebilde fliesst, stets einen materiell-energetischen Träger braucht.
So gesehen ist also auch der Mensch ein informationsverarbeitendes System, welches Information aus der umgebenden Welt wahrnehmend aufnimmt und handelnd in sie abgibt, insofern Spuren von seinem Handeln in der Umwelt und bei anderen Menschen zurückbleiben. Offensichtlich besteht eine Analogie zwischen Menschen und den "intelligenten" Maschinen. Wollen wir die "Schnittstelle" oder Beziehung zwischen diesen beiden "intelligenten" Systemen unter dem Aspekt ihres Informationsaustausches verstehen, so müssten wir nun über Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Menschen und Computern nachdenken.
Das ist hier nicht möglich (vgl. Ansätze dazu bei Lang i.V.). Er ist umso schwieriger geworden, als sich seit einiger Zeit in weiten Teilen der Psychologie eingebürgert hat, die informationsverarbeitenden Züge des Menschen auf der Basis von Computerstrukturen und -algorithmen zu modellieren. Dafür ist der Ausdruck "Computer-Metapher" geläufig geworden. Als deskriptive Unternehmung verzeichnet dieser Ansatz um den Preis einer Einengung der Sicht beträchtliche Erfolge (Überblick bei Mandl & Spada 1988). Problematischer sind seine explikativen Ziele, da es sich ja beim Computer um eine Hervorbringung gerade des zu erklärenden Menschen handelt, mithin logisch ein Zirkularitätsrisiko besteht. Eine Konsequenz dieser Vorgehensweise ist, dass man den dem Computer zugeschriebenen Objektcharakter auch auf den Menschen überträgt. Anstelle eines systematischen Zugangs zum Problem versuche ich hier bloss, mit einigen Schlaglichtern kulturgeschichtliche Einsichten zu evozieren.
3.2 Die konkrete Gegenüberstellung von Mensch und Computer
Bisher war von der Gegenüberstellung von Mensch und Computer als Subjekt und Objekt und von ihrem gelegentlich vollzogenen Rollentausch in allgemein-abstrakten Weise die Rede. Wenn wir von Information und ihrem Fluss sprechen, so bewegen wir uns primär auf der mentalen oder Mesoebene, die stets auf der Mikroebene konkretisiert werden muss. Es kommt daher nicht von ungefähr, dass dieser Gegensatz ergonomisch so plump seinen Ausdruck findet. Wir stellen den Computer zumeist als einen groben Kasten direkt vor uns hin, so dass er unser Gesichtsfeld und unseren Arbeitsplatz fast ganz ausfüllt. Sein "Gesicht", der Bildschirm, von dem wir den Informationsfluss ablesen, muss ja schon gegenüber stehen, das leuchtet funktionell ein; aber er könnte ohne funktionellen Schaden auch so konstruiert werden, dass man ihn neben anderen Informationsflüssen freier wählen könnte.
Ich kenne eine Sekretärin, die hat den Schirm ihrer Textmaschine seitlich auf ein ziemlich hohes Gestell plaziert. Sie schaut nur ausnahmesweise hin; weil sie so gut blind schreiben könne, sagt sie. Ich denke, sie versucht gegen beträchtlichen Widerstand des normierten Industrieprodukts und gegen den Konformismusdruck arbeitsbezogener Rituale ihr Verhältnis zum Computer auf eigene Weise zu finden, für sich selbst zu definieren -- vermutlich nicht nur zu ihrem Vorteil.
Noch stärker gilt diese Vereinnahmung des Menschen durch sein selbstgeschaffenes Objekt für die Tastatur, diesen technischen Saurier, den man mit Beifügungen wie Maus und Tablett nur noch monströser gemacht hat. Die Tastatur stiehlt uns den zentralen Teil unseres Pultes, macht ihn für andere Tätigkeiten unbrauchbar, stellt sich platzfüllend vor uns hin, merkwürdige Verhaltensweisen von uns fordernd. Natürlich passt sich, wie immer, der Mensch an; das zum Subjekt gewordene Objekt Computer ist stärker.
Ich will das alles nicht weiter ausführen, möchte aber die Entwicklung von Übungen empfehlen, in denen man mittels Spiel mit unterschiedlichen räumlichen Anordnungen von Mensch und Computer beim Benutzer ein Sensorium für die Mehrschichtigkeit entwickeln, den Sinn für verschiedene Rollenzuteilungen in der Partnerschaft fördern könnte. Eine kecke Idee und einfache Sache ist zB ein Lesepültchen zwischen Tastatur und Bildschirm (vgl. Abb. 1). Vom Ergonomischen gehen nicht unbeträchtliche Auswirkungen auf das Mentale aus (das war schon immer so); und (ich will nicht übertreiben) ganz ohne Relevanz für das Sozio-Kulturelle ist es auch nicht, wie wir mit diesen Gebilden unsere Welt möblieren. Nichts gegen die technische Optimalisierung der Mensch-Computer-Schnittstelle (zB Streitz 1988, Balzert 1988 u.a.); sie greift mir nur etwas kurz, braucht technikübergreifende Perspektiven.
Soweit meine rudimentären Hinweise gewissermassen auf aktuelle und künftige Geschichten des Computers in unserer Materialkultur. Mich reizt auch eine rückwärtige Betrachtung, und die beginnt wieder auf der mentalen Ebene und weitet sich dann ins Grosse und Kleine aus.
3.3 Das Ende des Dualismus oder Descartes' zweifelhafter Triumph
Wenn ich den Ausdruck "Gebilde" als den neutralsten bezüglich der Natur von beobachtbaren Gegebenheiten gewählt habe, so deswegen, weil wir in dieser Hinsicht leicht Vorurteilen verfallen, indem wir oft etwas bezeichnen, bevor wir verstehen, was es ist. Der Mensch ist lebend, der Computer nicht -- das will ich akzeptieren; der Mensch agiert, der Computer reagiert (wie er programmiert ist) -- da habe ich schon Mühe, so klar geschieden ist das nicht; der Mensch ist ein geistiges Wesen, der Computer ein materielles -- da weiss ich nicht, was das bedeuten soll. Mit "Vorurteil" verweise ich hier auf das abendländische Erbe des ontologischen Dualismus. Mit der Behauptung, alles sei materiell und das Idelle Schein, ist der Dualismus natürlich genau so wenig aus der Welt geschafft wie mit der gegenteiligen Behauptung, das Materielle sei einfach eine Konkretisierung von Ideen.
Um diese Geschichte zugänglicher zu machen, möchte ich sie personalisieren in der fiktiven These, der Computer sei Descartes' wahrer Triumph. Betrachtet man aber Mensch-Computer-Systeme, so gilt die Antithese, es sei gerade durch den Computer, der dessen Methode in so hohem Masse erfülle und vollziehe, Descartes gründlich widerlegt; und mithin sei jetzt gewissermassen das Ende der Neuzeit nahe.
Descartes, der französische Universalgelehrte der ersten Hälfte des 17. Jh. gilt als einer der wichtigsten Begründer des wissenschaftlichen Zeitalters. Er ist nicht nur der Erfinder der analytischen Geometrie, sondern hat mit der Loslösung der Methode (cogito: was denkt, was gedacht wird) von ihrem Gegenstand (sum: was ist) dem Dualismus der Neuzeit wohl den stärksten Impuls gegeben. Was "klar und deutlich" im Geiste (res cogitans) repräsentiert ist, das ist die wahre Erkenntnis von der gefühlten, diffusen, täuschenden Wirklichkeit des Leibes und der materiellen Körper (res extensa). In der analytischen Geometrie schaffte er es, den unzulänglichen, weil bloss anschaulichen Umgang mit der räumlichen Welt in scharfe, rationale Formeln der Algebra umzusetzen: ein Triumph des Geistes über das Materielle, die totale Beherrschung des Materiellen durch das Geistige, eine der Geburtsstunden modernen Machertums. Mit dieser Trennungslogik ist die Entwicklung unseres Wissenschaftensystems und der daran anschliessenden Techniken bzw. Technologien angelegt. Was im Binärsystem abgebildet werden kann, kann auch der binären Logik (dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten) unterzogen werden, und wird, wenn die Logik aufgeht, "klar und deutlich" erfasst und handhabbar. Für Descartes müsste der Computer die Erfüllung seiner kühnsten Träume sein. Der Computer, eine Emanation der res cogitans, verkörpert den Gipfel des rationalen Zeitalters.
Bis man den Menschen in die Betrachtung mit einbezieht. Dann zerfällt unmittelbar der Dualismus; denn er führt zu absurden Konsequenzen. Offensichtlich ist der Computer eine Maschine, ein Automat, wie Descartes sagen müsste, da er Tiere als Automaten beschrieb, also das rein Körperliche, nämlich Maschinen ohne den rationalen Geist. Wenn jetzt aber das "Klare und Deutliche" ausgerechnet in und durch eine Maschine zustandekommt, dann kann etwas nicht stimmen mit der Unterscheidung; dann ist entweder der Mensch nichts so besonderes mehr, weil auf einer Stufe mit dem Materiellen, oder das Materielle, Täuschende macht sich auf seine Weise und völlig überraschend geltend.
Es ist in diesem (metaphysischen) Zusammenhang äusserst spannend zu beobachten, wie Computer immer wieder heftige Gefühle, Faszination und existentielle Bedrohung auslösen bei Menschen, die sich ungesichert durch Routine auf sie einlassen (vgl. etwa die Beispiele bei Volpert 1985, Rosemann 1986 oder Faulstich & Faulstich-Wieland 1988). Die amerikanische Ethnologin Sherry Turkle (1984) hat besonders aufschlussreiche Beobachtungen und Befragungen von Kindern aller Altersstufen dazu vorgelegt. Offenbar fordert der Computer als ein "evokatorisches" (Turkle 1984) oder magisches Objekt (vgl. Boesch 1983) im unbefangenen Benutzer massive metaphysische Auseinandersetzungen heraus, die genau mit dem traditionellen Dualismus bzw. dem daraus hervorgegangenen seichten Materialismus unseres gängigen Weltbildes konfrontiert sind und damit zu Rande kommen müssen
Turkle hat bei Kindern und Erwachsenen typische Entwicklungsstufen dieser Auseinandersetzung unterschieden. Zunächst werden der Maschine menschliche Eigenschaften zugeschrieben; dann beginnt aber der Mensch rasch, über sich selbst nachzudenken, und zwar bevorzugt in Termini der Maschine ("Computer-Metapher" als psychologische Theorie). Nach dieser Anthropomorphisierung der Maschine und dieser Mechanomorphisierung des Menschen (Caporael 1987), die beide genau dem dualistischen Denkschema verhaftet sind, folgt im günstigen Fall die Relativierung von beidem. Der Mensch befreit sich von der subjektzentrierten wie von der objektzentrierten Sicht der Welt. Er sieht dann ein, dass beide Sichten nicht Welteigenschaften sind, sondern bloss Ergebnisse von Wechselwirkung im System Mensch und Maschine (vgl. auch Lang 1988).
Dass man Kinder und Erwachsene bei diesem Stufengang behutsam unterstützen sollte, scheint mir eine wichtige Aufgabe des Informatiklehrers. Das braucht nicht so abstrakt-philosphisch vor sich zu gehen, wie ich es hier beschreibe. Die metaphysischen Abenteuer von Vor- und Grundschulkindern, wie sie Turkle berichtet, sie sind oft spannender als ein Kriminalroman; und sie sind nicht nur stellvertretend existentiell.
Es ist auch nicht nur ein individueller Einsichtsprozess, der hier sichtbar wird, sondern ein allgemeiner Vorgang der Erkenntnisgewinnung über die Erkenntnismittel, bei der die Informatik Geburtshelfer spielt. Ich kann noch einmal an Descartes anknüpfen. In der Tat ist der Computer einsame Spitze im Rationalmachen von sonst nicht bewältigbaren Zuständen und Vorgängen. Wenn das Programm stehen bleibt, dann stimmt etwas nicht mit der Theorie bzw. dem die Theorie verkörpernden Algorithmus. Descartes müsste begeistert gewesen sein über so viel "Klarheit und Deutlichkeit", falls er den Schock über die Materialisierung der res cogitans rasch überwunden hätte.
Das stimmt aber wieder nur, wenn man den Computer allein betrachtet. Nimmt man den Menschen dazu, so ist heute schon offensichtlich, dass der Computer zunehmend wichtiger wird als ein ideales Verfahren zu Anschaulichmachung von überaus komplexen und dynamischen Zusammenhängen. Er erlaubt gewissermassen, die analytische Geometrie auf den Kopf zu stellen: Was äusserst komplex, aber durch gute Theorie klar und deutlich geworden ist, kann nun mit geschickter Modellierung wieder in eine solche Form gebracht werden, dass es menschlichem Denken und Fühlen, nämlich der Intuition, überhaupt zugänglich wird, so zugänglich wird wie der Umgang mit den alltäglichen Dingen. Man denke an dynamische Computermodelle von Naturgesetzen wie Ballistik oder von menschgemachten Komplexen wie Industrieanlagen. Und sie können erst noch interaktiv sein, im ausprobierend spielerischen Umgang mit den Modellwelten ist für jedermann und jedefrau zu spüren, nachzuerleben, mit lebensnaher Aufregung durchzumachen, was das abstrakte Gleichungssystem wirklich enthält. Bisher leisteten das nur die begabtesten Mathematiker; und sie konnten es nicht weitergeben.
3.4 Programme zum Abschnurrenlassen oder "offene Informatik"
Die Überwindung dieser Dualismen von Materie und Geist, von Denken und Fühlen, von Subjekt und Objekt hin zu einer konstruktiven Dialektik zwischen beiden möchte ich noch anhand eines ebenfalls der Didaktik näherkommenden Vorgangs verdeutlichen. Ich meine den Unterschied zwischen dem Ablaufenlassen eines Programms und dem kreativenDialog mit einer Programmstruktur.
Informatik ist eine Chance, auf normative Setzungen verzichten oder sie jedenfalls abschwächen zu können, weil die Informationsstruktur einer im Computer modellierten Sache ähnlich wie eine zugängliche Wirklichkeit selber erklärt, ob sie funktioniert oder nicht. Man vergleiche dies mit Unterricht in Grammatik von Sprachen beispielsweise: hier muss per Konvention eine Norm festgelegt und ihr Erwerb und ihre Einhaltung durch den Schüler vom Lehrer überprüft werden; auch dann, wenn der Lehrende diese Norm längst in Frage stellt. Auswendiglernen(lassen) der Norm ist der für beide Beteiligten naheliegende "Ausweg", über dessen Absurdität die meisten Beteiligten sich einig sind.
Man kann natürlich auch im Informatikunterricht Programmziele normieren und Algorithmen zum Abschnurrenlassen herstellen lassen. Aber ähnlich wie beim kreativen Umgang mit Sprache (ob Texte oder grammatische Sichten darauf) ist gute Software wie ein Gebirge, in dem jedes geglückte Wegstück mehr ist als ein erreichtes Ziel, nämlich auch die Eröffnung neuer Sichten und neuer Wege, neuer Möglichkeiten und Herausforderungen; und man kommt um das Herausgefordertsein, Abwägen und Wählen gar nicht herum. Beim Programmieren ist das wohl am ausgeprägtesten der Fall. Es ist bedauerlich, dass der Ausdruck "Hacker" seinen ursprünglichen Pioniersinn so rasch einem Widersinn hat lassen müssen.
Aber es gibt auch spezielle und universellere Standard-Applikationen in bestimmten Sachbereichen, die durchaus mit dem Programmieren verglichen werden können und die manchmal widerständige, manchmal anregende Partner sind für Dialoge im beschriebenen Sinn. Ich möchte solche Strukturen als offene Informatik bezeichnen. Dabei denke ich an manche Grafikprogramme, an Modellsimulationen, sogar an kreativ betriebene Tabellenkalkulation oder Textbearbeitung; gerade im Umgang mit dem Wort scheint sich Einiges anzubahnen, was wir noch schlecht absehen können. Leider erfüllt Spiel-Software solche Kriterien heute noch selten. Mir scheint, dass Informatikunterricht darauf hin angelegt werden kann und soll, den Benutzer für die kreativen Angebote des Computerpartners zu sensibilisieren.
Mit der vorgebrachten Kritik an der Objektivierung des Computers will ich nicht die technischen Aspekte der Computerei schlecht machen. Ich bekenne gerne, dass ich sie geniesse und kaum mehr ohne sie auskommen könnte. Aber der Gewinn, den mir diese materielle Manifestation menschlicher Kulturtätigkeit in ideeller Hinsicht gebracht hat, nämlich insbesondere das Verständnis der verschiedenen Formen, die Information annehmen kann, und wie sie dabei ihren Charakter ändern kann, usw.: das alles ist mir doch recht viel wichtiger geworden. Die Torheit der vielen Psychologen, die sich der Computer-Metapher als Theorie des Menschen verschrieben haben, ärgert mich; doch bin ich ihnen auch dankbar, dass sie mit ihrem Holzweg alternative Sichten herausfordern.
Auf die Frage, wie man Einsichten über die "M-C-Partnerschaft" in Unterrichtsprogramme umsetzen könnte, muss ich sagen: das geht wohl nicht direkt. Es ist eher Hintergrundsverständnis, das jeder und jede, die mit Informatik umgehen, und ganz besonders jede und jeder, die unterrichtend mit Informatik umgehen, einmal und immer wieder zur Kenntnis nehmen sollten. Es müsste eher einfliessen in die Schaffung eines Informatik-Milieus oder -Klimas; in Curricula oder Kursprogrammen eher in Form des berühmten roten Fadens als in Form von abzuhakenden Lehrzielen.
Es geht dabei um die Entwicklung eines ständig wachen Sensoriums dafür, ob man diese rationalen Maschinen einsetzt, um dem sie bedienenden Menschen ein noch einmal zunehmendes Mass an Zwang, die totale Rädchenhaftigkeit in der grossen Maschinerie aufzuerlegen, oder ob diese externen Denkmittel eine Perspektive grösserer Freiheit eröffnen, ob sie unsere Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten, den sog. Handlungsspielraum, eher erweitern als verengen? (Hinter dieser heute sehr aktuellen Frage verbirgt sich allerdings die bange Frage von morgen, ob wir uns eine nicht-rädchenhafte Zivilisation überhaupt noch leisten können werden? Ob wir nicht möglicherweise mit der Preisgabe der Würde der Person dafür bezahlen werden müssen, dass wir wenigstens überleben?) So gesehen hat Informatik das Potential eines Bildungsfaches. Und genau das gehört in die Schule; die Ausbildung in Informatik kann man weitgehend dem Selbststudium und der Arbeitswelt überlassen.
Mich fasziniert, dass eine Übersteigerung eines Aspekts -- ich habe im Anschluss an Descartes von der totalen Rationalität des Binärdenkens gesprochen -- sein Gegenstück herausfordert: dass die Überrationalität im Computer die Freiheit im menschlichen Partner aufzeigt, zu ihrer Nutzung auffordert und den Umgang mit ihr fördert. Eine computerunterstützte Schulrevolution der 80er Jahre mag verpasst sein; noch ist aber nichts verloren, wenn ausreichend viele Informatiklehrer ausreichenden Abstand nehmen von ihrem Objekt, von ihrer Technik, während sie sich für sie einsetzen. Und ihr dann in freierer Beziehung begegnen können, und diese Haltung als offene Informatik möglichst vielen Schülern und Schülerinnen weitergeben. Je mehr von dem Intellektuellen, Rationalen, Eindeutigen wir an diese Maschinen delegieren können, ohne uns ihnen zu verkaufen, desto offener werden wir im günstigen Fall für die andere Seite unserer Existenz, für unsere Gefühle, für unsere Beziehungen, für Menschlichkeit.
Ausgewählte neuere Literatur
Der Verfasser dankt seinem Mitarbeiter PD Dr. Urs Fuhrer für wertvolle Beiträge und Hinweise.
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