Alfred Lang

University of Bern, Switzerland

Edited Book Chapter 1988

Das Ökosystem Wohnen -- Familie und Wohnung

mit einem Thesenblatt / list of essential statements in English

1988.02

    @EcoPersp @DwellTheo

46 / 63KB  Last revised 98.11.01

In: Lüscher K.; F. Schultheis & M. Wehrspaun (Eds., 1988) Die 'postmoderne' Familie: familiale Strategien und Familienpolitik in einer Übergangszeit. Konstanz, Universitätsverlag.Pp. 252-265.

© 1998 by Alfred Lang

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Inhalt

    Nachtrag 2000: Begriffe Oekosystem und Oekotop


 

Dieser Beitrag eines Psychologen, dessen primäres Interesse der Mensch-Umwelt-Beziehung gilt (also der ökologischen Psychologie) befasst sich mit dem Wohnen, insbesondere von Familien. Dabei seien als Familien hier zunächst jene Kleingruppen von wechselseitig miteinander vertrauten Individuen verstanden, welche in weitgehender Rollendifferenzierung an einem bestimmten Ort eine verhältnismässig überdauernde, im jeweiligen Alltag aktualisierte und vom übergeordneten Sozialverband relativ separierte, wenngleich auf ihn bezogene soziale Gruppe bilden .[1] Diese Gruppe wird gewöhnlich unter soziologischen, psychologischen, ökonomischen, rechtlichen u.ä., gelegentlich auch unter biologischen oder spirituellen Aspekten in ihren strukturellen und funktionellen Eigenschaften und Prozessen untersucht. Das Ziel der hier vorgebrachten Überlegungen ist es, in aller Knappheit zu zeigen, dass diese Auffassung einer Erweiterung bedarf.

Mein Interesse gilt den "ökologischen Einheiten", also jenen Gebilden, die wie die Mensch-Umwelt-Einheit aus zwei Teilsystemen bestehen, welche beide nicht ohne das andere existieren oder funktionieren könnten, so dass keines von beiden ohne Bezug auf das andere verstanden werden kann. Ich möchte also hier unter zwei Gesichtspunkten die Bedeutung des Wohnens für die Familie herausarbeiten. Der erste Ansatz, gewissermassen von aussen her, skizziert anhand einer heuristischen Analogie zu anderen differenzierten Gruppierungen von unselbständigen Komponenten den Sinn der Objektwelt, insbesondere der Wohnung für die Familie. Es wird geltend gemacht, dass Familie und Wohneinheit nicht beliebige Gebilde sind, insbesondere dass man Familie nicht ohne Bezugauf ein physisches Substrat, das sind die Wohnung und die Dinge darin und darumherum, verstehen kann. Die Argumentation hat den Chrakter einer heuristischen Analogie. Der zweite Ansatz zielt auf Prozesse ausserhalb der ökologischen Einheit, hier also zwischen den Familienmitgliedern einerseits und den objektalen Gegebenheiten der Wohnumwelt anderseits. Wohnen wird als eine Tätigkeit verstanden, bei welcher Menschen und Teile der Objektwelt inwechselseitige Interaktion treten. Die Grundideen einer in Ausformungbefindlichen psychologischen Theorie des Wohnens sollen skizziert und und anhand von empririschen Befunden und anekdotischer Evidenz exemplifiziert werden.

Inhalt

Grundsatz

1.1) Die Ausdrücke "Familie" und "Wohnung" sind sprachlich so eng verwandt ("familiär" = "gewohnt"), dass eine kulturhistorische Wechselwirkung zwischen diesen sozialen und räumlichen Struktur(ierungs)phänomenen vermutet und eine Verbesserung des Verständnisses des einen aus dem Verständnis des andern in beiden Richtungen erwartet werden kann. Familie und Wohnung sollten grundsätzlich parallel und als Teile einer übergeordneten Einheit untersuchtwerden.

 

Bio-psycho-soziologische Parallelen...

1.2) Für eine gültige Wissenschaft vom Menschen (anthropologisch, biologisch,psychologisch, soziologisch, kulturhistorisch usw.) gibt es ausser Denkgewohnheiten keine guten Gründe dafür, den Organismus als biologische Einheit bzw. die Person als psychologische Einheit gegenüber über- oder untergeordneten Einheitsebenen auszuzeichnen. Der Organismus, wie er im Genom angelegt und in einer konkreten Umwelt manifest wird, kann ebensogut als Zellverband; die Person kann als eine Organisation von Informationen ("psychische Organisation", getragen durch das Hirn als spezialisiertes Organ) und die Gesellschaft als ein Personenverband begriffen werden. Dabei fällt auf, dass auf der biologischen Ebene geläufige Begriffe für die Einheit des Lebendigen ebenso fehlen ("Seele" bzw. "anima" hat diesen Sinn verloren), wie auf der soziologischen umfassende Begriffe für den materiellen Träger de Gesellschaftseinheit (vielleicht am ehesten "Kultur", gelegentlich auch "Staat", was aber beides nur je partielle Inhalte trifft). Um nicht neue Termini einführen zu müssen, werde ich den Ausdruck "Kultur" zur Bezeichnung eines Trägers der Gesellschaft und den Ausdruck "Ökosystem" für das Insgesamt von Kultur und Gesellschaft verwenden.

 

Tabelle 1. Wissenschaftsebenen zu Betrachtung von Komponenten-Verbänden als Träger und als Inhalte der betrachteten Einheiten.

Einheitenebene:

Träger (stofflich):

Inhalt (ideell):

biogisch:

Zelle

? (Einheit des Lebens)

psychologisch:

Organismus

Person

soziologisch:

? (Kultur, Staat, etc.)

Gesellschaft

 

Die drei Ebenen (vgl. Tabelle 1) können je für sich und in ihren Beziehungen zueinander betrachtet werden, obwohl die soziologische die psychologische, und diese wiederum die biologische voraussetzt im Sinne einer notwendigen aber nicht hinreichenden Bedingung. Aber es ist angezeigt, weder die biologistische (Organismen und Kulturen stünden im Dienste der Erhaltung des Genoms der Zellen), noch eine psychologistische (Zellen und Kulturen stünden im Dienste der Selbstverwirklichung des Individuums), noch die soziologistische Perspektive (Zellen und Organismen dienten der Perfektionierung der Gesellschaft) zu bevorzugen oder gar zu verabsolutieren. Bereits die Nebeneinanderstellung solcher historisch vorfindbaren Denkweisen zeigt ihre jeweilige Partikularität auf.

1.3) Gebaute Strukturen und gestaltete Objekte (also z.B. Wohnanlagen und die Dinge darin und darum herum) sowie alle andern nichtflüchtigen Zeichensysteme (insbes. Schrift und Bild) sind externalisierte, und damit kollektive Erkenntnis- und Handlungsstrukturen. Denn sie speichern und repräsentieren (ähnlich wie die Stammeserfahrung im Genom und die individuelle Erfahrung im persönlichen Gedächtnis) den Niederschlag der Tätigkeit einer Gruppe, derart dass die weiteren Tätigkeiten dieser Gruppe bzw. ihrer Nachfolgegruppen daraus mitbestimmt werden. Solche Repräsentationen enthalten immer Information sowohl über die Umwelt (d.h. die das Subjekt umgebende Welt) wie über die Möglichkeiten des Umgangs mit ihr; sie sind also durchaus mehr als Abbilder, nämlich immer auch Anleitungen; sie sind generativ. Eine bio-psycho-soziologische Evolutionsgeschichte und -theorie der generativen Speicherungwäre aber noch zu formulieren (vgl. die Andeutungen in Punkt 1.4). Die Bedeutung gespeicherter Repräsentationen (Genom, Individualgedächtnis, Gebautes und Geschriebenes) kann nicht hoch genug eingeschätzt werden, weil sie die Autonomie der sie hervorbringenden "Subjekte" und ihrer Verbände begründen. Im Zusammenhang von Familie und Wohnen interessiert hier das Bauen als die älteste "Schriftform".

Gebautes ist also für eine Gruppe funktional dasselbe wie das Gedächtnis für die Person und das Genom für den Organismus: eine unabdingliche, aber nicht vollständige Bedingung ihrer Existenz. Individuelles Gedächtnis ist die organisierte Gesamtheit der ontogenetischen Erfahrungsspuren als eine aktive Ressource, welche ihren Träger autonom macht. Ähnlich ist das Genom in derZelle die organisierte Gesamtheit der phylogenetischen Erfahrungsgeschichte; es wird beim Aufbau der Zellen und vor allem bei ihrer Vergesellschaftung zum Organismus und bei allen Tätigkeiten des Organismus aktiviert und garantiert überaus erfolgreich das Fortleben der Art und der Individuen im Rahmen jenes Typus von Umwelt, für den es sich herausgebildet hat. Kollektives Gedächtnisist demgemäss ein durch die Angehörigen jedes Kollektivs von Personen geschaffener und durch sie selbst und deren Nachfahren jederzeit aktivierbarer Niederschlag der Kulturgeschichte.

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...und Unterschiede

1.4) Bezüglich der zeitlichen und räumlichen "Verteilung" dieser überdauernden Repräsentationen in Subjekt-Trägern (Zellen, Organismen, Kulturen) fallen Unterschiede auf: Zellen haben für das Genom eine starke örtliche Konzentration sowie einen ausserordentlich zuverlässigen Reproduktionsmechanismus erreicht, der bei langsamem Wandel eine hohe zeitliche Stabilität (Permanenz) und eine enorme räumliche Verbreitung sichert, allerdings auf Kosten von Flexibilität.Organismen haben zur Erhöhung der Flexibilität (Ablösung der Instinkte durch Intelligenz, d.h. der im Genom mitgegebenen perzeptiven und exekutiven Koordinationen für den Umgebungsbezug durch die Möglichkeit erfolgreichen Umgangs mit neuen Situationen) flüchtige Gedächtnisse evoluiert, welche nicht nur verhältnismässig unzuverlässig sind, sondern auch als ganze nicht reproduktionsfähig. Sie sind zwar auch örtlich konzentriert, aber zeitlich und räumlich einmalig, d.h. sie können nur dann und dort wirken, wo das Subjektaktuell tätig ist. In Kulturen ist die örtliche Konzentration der Speicherung aufgegeben und dafür die Reproduktionsfähigkeit wiedergewonnen worden,allerdings nur in Teilen (viele gleiche Häuser oder Bücher oder andere Zeichen;aber keines, das die Kultur als Ganze repräsentiert, während das Genom und in gewisser Hinsicht auch das Individualgedächtnis den ganzen Organismus bzw. die ganze Person enthalten). Das sichert auch eine relativ grössere räumliche Verbreitung und zeitliche Permanenz. Allerdings ist diese Repräsentation auch recht unsicher, insofern sie zu ihrem Wirksamwerden einer Aktualisierung (Bedeutungsverleihung) durch Personen bedarf und auf Komplemente in deren Gedächtnis (Enkulturation) angewiesen ist. Ähnlich wie bei den Personen kommt es daher bei den Personenverbänden zu einer Individualisierung der und Konkurrenz zwischen den Subjekten (Gesellschaften); aber die verschiedenen Kulturen bzw. Ökosysteme haben gegeneinander unscharfe Grenzen und sind intern vielfach geschichtet.

1.5) Die beiden ersten Formen von "Verdichtung" der Welt (Leben, Psychische Organisation) haben Kapazitätsgrenzen in dem Sinne, dass eine weitere Steigerung ihrer Grösse ihr Funktionieren gefährden würde: die Reproduktionssicherheit nimmt mit zunehmender Anzahl der Gene ab; der energetische Haushalt des Hirns lässt nach Ansicht von Stoffwechselphysiologen eine höhere räumliche Verdichtung, als beim Menschenerreicht ist, nicht zu. Die Vermehrbarkeit von Kulturobjekten scheint hingegen unbegrenzt, ebenso die Intensivierung des Informationsaustausches zwischen den vergesellschafteten Individuen. Die beliebige Vervielfältigung standardisierter Objekte (Bauten, Mobiliar, Bilder, Texte) ist das eigentliche Kennzeichen der Moderne. Dementsprechend wurde und wird in der modernen industrialisierten Massenproduktion von Gütern ein unerhörtes Niveau erreicht und eine derart hohe Dichte ihrer Verbreitung ist noch nie dagewesen.Allerdings erfüllen diese Güter nur noch zu einem kleinen Teil und oft nur nebenbei eine Subsistenzfunktion; in erster Linie sind sie vielmehr Bedeutungsträger und Kommunikationsmittel im zwischenmenschlichen Austausch geworden.

1.6) Betrachtet man die Trägerstrukturen und -prozesse (traditionell die Objektwelt der Naturwissenschaften) oder die Inhalte (traditionell die Subjekte, mit deren Dasein und Wirkungen sich die Geistes- und Sozialwissenschaften befassen) je für sich, so besteht in der Tat kein Grund, die Grenzenlosigkeit dieser Gebilde in Frage zu stellen: der beliebigen Vermehrung der Menschen wie der Güter sind nur praktische, nicht prinzipielle Restriktionen gesetzt. Das ändert sich jedoch radikal, wenn man Ökosysteme, d.h. Menschengruppen in konkreten Welten betrachtet, also Passungsforderungen zwischen Subjekten und Objektwelten berücksichtigt. Es wird dann evident, dass die Endlichkeit der existentiellen Ressourcen (Nahrung, Materialien) und die mit ihrer Umsetzung verbundenen Folgen (Energie, Nebenwirkungen) ebenso limitierende Faktoren darstellen wie die Enge der informationsverarbeitenden Kanäle in den Personen und die Kleinheit der interaktionsfähigen Oberflächen. M.a.W. wir haben mit Kapazitätsgrenzen zu rechnen.

Bevor etwa die materielle Güterproduktion an die Grenzen der Ressourcen stösst,werden durch Nebenwirkungen das Leben und bereits auch die Funktionsfähigkeit der Psyche gefährdet. Auch die in Zeichen eigener Art niedergelegten Bedeutungen, also sprachliche und bildliche Information, haben nämlich mit technischer Unterstützung eine Dichte erreicht, die ihren Sinn selbst in Fragestellt. Für die kulturelle Verdichtung gibt es also ebenfalls Grenzen, bei deren Überschreitung Dysfunktionen zu erwarten sind. Oder konstruktiver formuliert, in der Evolution der Ökosysteme wirken auch auf der Ebene der Personenverbände Stabilisierungsfaktoren, derart dass die räumliche und zeitliche Diffusion der Träger zugunsten von Qualitäten des Getragenen Beschränkungen eingeht.

Für mich stellt die sich verbreitende Einsicht in die Kapazitätsgrenzen des Umgangs mit Materialien und Informationen sowie die korrespondierende Betonung der Passungsforderung zwischen den beteiligten Subsystemen das hauptsächliche Anzeichen der Überwindung der sogenannten Moderne dar. Was die Beachtung der Passsungsforderung aber konkret und inhaltlich hervorbringen wird, lässt sich derzeit erst exemplarisch vermuten, so dass mir scheint, die "Postmoderne" sei,wie ja auch die sprachliche Konstruktion markiert, ein bloss negativ oder antithetisch definierter und also inhaltsleerer Begriff. Exemplarisches in diesem Sinn zum Ökosystem «Wohnen» folgt im zweiten Teil.

1.7) Es wären auf diesem Hintergrund nun ausgedehnte soziologische, sozial- und kulturhistorische, kulturanthropologische, sozialpsychologische u.a.m. Übersichten angebracht, um die verschiedenartigsten Erfahrungen mit solchen Stabilisierungen in Ökosystemen darzustellen. Denn das Ende einer Epoche wie der Moderne bzw. das phasenweise Zurücknehmen oder der Abbau von positiven Rückkoppelungen in sozialen Systemen sind ja schliesslich nichts Neues. Man kann sich einige dieser Stabilisierungen als Unstetigkeiten in Funktionen von psychischen oder sozialen Deskriptoren in Abhängigkeit einer Quantitätsvariablen vorstellen (beispielsweise der Gruppengrösse oder des Energie- oder Informationsumsatzes etc.). Mit der Zu- oder Abnahme einer Quantität wird es nämlich oftmals zu Qualitätssprüngen kommen. Dabei ist nicht anzunehmen, dass verschiedene Deskriptoren völlig parallele Funktionen zeichnen, obwohl sie vielleicht «Familien» bilden. Gängige Stufen der Vergesellschaftung wie Kleingruppen, Nachbarschaften, Gemeinden, Talschaften, Nationen, Schichten, Arbeitsgruppen, Abteilungen usf. sind ein trivialer Ausdruck dieser Abhängigkeit der Qualität von der Quantität. Interessanter wäre, die für solche Segmentierungen konstitutiven Variablen und die Bedingungen ihrer plötzlichen Änderung ausfindig zu machen. Ich kann jedoch hier diese Linie nicht weiter verfolgen, sondern wähle willkürlich die Familie zum Fokus, weil mir auffällt, dass weltweit in fast allen Kulturen solchen Kleingruppenausbildungen entsprechende Segmentierungen der gebauten Umwelt und recht häufig auch Segmentierungen im Besitz oder Eigentum an Boden oder materiellen Gütern parallel gehen.

Mit diesen Erwägungen sei nicht der Anspruch erhoben, die Familie zu begründen. Sie soll allenfalls heuristisch nahegelegt werden, und zwar, wie eingangs in der Arbeitsdefinition angedeutet, in einer etwas umfassenderen Umschreibung als üblich; jedenfalls verdient sie auf dem Hintergrund der skizzierten Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den verschiedenen Betrachtungsebenen hohe Aufmerksamkeit. Von meinem Fach her konzentriere ich mich nun aber auf Prozesse innerhalb der familialen Ökosysteme, nämlich auf die Wechselwirkungen zwischen den Familiengliedern und ihrer familialen Umwelt, insbesondere der familialen Umwelt per excellence, nämlich der Wohnumwelt. Sollte sich hier der Eindruck noch verstärken, die Familie sei aus dem Fokus entschwunden, so möge man bedenken, dass sich psychologische Methodik stets auf Individuen und ihre Umwelt richten muss und dass Familie sich als eine Resultante ebengerade solcher Interaktionsprozesse konstituiert.

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Wohnen als ökologischer Prozess

2.1) Auch hier möchte ich von einer Arbeitsdefinition ausgehen: Wohnen betrifft jene mensch- und objektbezogenen Tätigkeiten von Menschen in kleinen und stabilen Gruppen, die örtlich konzentriert und zeitlich repetiert sich von öffentlichen Tätigkeiten abgrenzen. In praktisch allen Kulturen tritt Wohnen im Zusammenhang mit Bauen auf, d.h. einer relativ überdauernden Umweltveränderung, welche Raum strukturiert. Objekte und Menschen bekommen dadurch Orte zugeordnet (nicht fixiert, doch bevorzugt). Damit werden Menschen und Objekte und ihre Relationen zu Ordnungen, vor allem räumliche, teils auch raum-zeitliche; die Tätigkeiten der Menschen, bezogen auf diese Strukturen, erscheinen regelhaft,sie sind teils (aufgaben-)ortsorientiert (wie kochen, aufräumen, bauen usw.), teils nicht offensichtlich gebunden (wie spielen, reden, ruhen usw.). Fragenvom Typus: wer tut wann wo was mit wem und womit? sind (von einem Beobachter) systematisch beantwortbar, und infolge der Regelhaftigkeit sind Wahrscheinlichkeitsvorhersagen möglich.

Etymologisch sind nicht nur "Wohnung" und "Familie", sondern auch "bauen" und "wohnen" miteinander verwandt und haben zu tun mit "erzeugen", "anstreben","lieben"; dazu gehören Bedeutungen wie Wunsch, ge-winnen, Wonne, Wahn, ge-wöhnen. So könnte man sagen, dass Bauen der Versuch der Menschen ist, sich andere Menschen ge-wohnt zu machen, das heisst dazu zu bringen, dass sie vertraut, familiär, vorhersagbar, verlässlich werden.

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Ausweitung auf Bauen überhaupt

2.2) Schon bei Tieren, die bauen, sehen wir, dass Bauten meistens zu einer Art Lebenszentrum werden, von denen das Tier ausgeht und zurückkehrt. Der Bau und sein Umkreis sind zwar nicht für Feinde tabu, wohl aber für Artgenossen mit Hemmungen belegt bzw. mit spezifischen Verhaltensweisen verbunden (Territorium). Anstelle von Bauten erfüllen Markierungen teilweise ähnliche Funktionen. Das Tier ist in seinem Bau und in seinem Territorium ein anderes als ausserhalb; Entsprechendes gilt für den konkurrenzierenden Artgenossen. Die Behausung erfüllt also nicht nur simple Bedürfnisfunktionen des Wetterschutzes oder der Nahrungsspeicherung, sondern hat darüber hinaus Bedeutungen für dieBewohner selbst wie für die Anderen, generell für die Sozialstruktur. BeiTieren mag man das alles, wenn man will, im Zusammenhang mit der Fortpflanzungsfunktion sehen. Die Menschen, die Häuser in Höhlen gebaut haben,hatten jedoch offensichtlich mehr im Sinn, weil ja die Höhle die Grundbedürfnisse schon erfüllt hätte.

2.3) Das führt zu einer Rahmenthese, wonach Bauen und Gestalten beim Menschen eine kulturelle Verstärkung und Ausweitung der innerartlichen Bezüge darstelle, die über das Instinktverhalten und das Bauen der Tiere hinausgehe. Gebautes undGestaltetes wäre demnach kollektive Erkenntnis- und Handlungsstruktur.

Im ersten Teil wurde ausgeführt, es sei nicht zu rechtfertigen, eine derverschiedenen Einheitenebenen bzw. Vergesellungsstufen gegenüber den andern zu verabsolutieren. Demzufolge lässt sich auch nicht vertreten, eine der Einheiten, z.B. die Zelle oder den Organismus, aus ihrem Kontext zu isolieren und allein für sich zu betrachten, wenn ein umfassendes Verständnis der Phänomene angestrebt wird. So formuliert, mag das trivial klingen; es widerspricht aber durchaus noch der gängigen Forschungspraxis. Wenn man nun aber etwa die Person grundsätzlich im Zusammenhang des übergeordneten Sozialverbands sehen muss, wie dies die Sozialpsychologie allgemein fordert, so ist auch die Konsequenz zu ziehen, dass man die zugehörigen Trägerprozesse mitin die Bedingungs- und Folgeanalyse aufnehmen muss. Zwischen den bio-psychologischen und den umweltlichen Träger-Strukturen von Mensch-Umwelt-Interaktionen lässt sich streng genommen keine strikte Grenze ziehen(vgl. LANG 1985). Demnach ist die gebaute und gestaltete Objektwelt prinzipiell in gleichen Termini und mit gleichem Recht in die Analyse einzubeziehen wie die internen Handlungsbedingungen.

Beispielsweise ist das meiste Gebaute dauerhafter und zuverlässiger als das interne Gedächtnis, aus dem unsere Handeln zusammen mit der Wahrnehmung der aktuellen Situation gesteuert wird. Und insofern das Gebaute unmittelbar allen Anwesenden zugänglich ist, sich sogar aufdrängt, ist es eine sicherere und effektivere Steuerungsquelle für einen selbst und vor allem für die Andern. Das Gebaute informiert, kommuniziert, beeinflusst, steuert Menschen und Artfremde (Beispiele in LANG 1982 a und b). Die Unentbehrlichkeit von Gebautemund Gestaltetem für die psychische Entwicklung ist noch nicht klar herausgearbeitet worden (vgl. LANG 1981).

So gesehen ist das Gebaute ein überindividuelles Gedächtnis, das für einen selbst und für die Andern einen überdauernden Rahmen für das Handeln setzt. Das Gebaute ist nicht nur viel dauerhafter als des flüchtige Erinnern, das wir im Kopf haben; es ist auch mehreren Menschen gemeinsam, ist also ein kollektives, oder soziales Gedächtnis. Das Gebaute ist demnach ein Vorläufer dergeschriebenen Sprache, der Schrift; nicht ein Archivgedächtnis, sondern ein generatives oder Aktivgedächtnis, eines von dem Wirkungen ausgehen. Bauen scheint die älteste menschliche "Schrift-Sprache" zu sein, und ein Enkulturationsmittel par excellence. Das Bauen betont ganz besonders jene Aspekte der Sprache, welche den Andern beeinflussen wollen; es hat mit dem "Verschreiben", dem Anweisen zu tun hat (appellative oder Signalfunktion; Perlokution in der Sprechakttheorie): wir bauen Häuser -- was machen die Häuser mit uns? Bedeutsam ist aber sicher auch die expressive oder Symptomfunktion des Gebauten: das einem Menschen oder einer Gruppe zugeordnete Gebaute kann ihn oder sie repräsentieren, macht in einer bestimmten Weise auf ihn aufmerksam (Illokution); es ist damit natürlich auch verwandt mit den Kleidern: seht her, das bin ich, das sind wir, oder das möchten wir wenigstens sein!

Wie alle Sprachen folgt auch das Bauen gewissen Regeln. Wir können durch Analyse des Bauens und des Umgangs mit dem Gebauten, darunter des Wohnens, diese Regeln explizit machen, was dabei herauskommt ist eine Art Wohnbau-Grammatik. Derzeit sind wir weit davon entfernt, Vokabular und Syntax dieser Sprache ausformulieren zu können, wir haben bloss einige Fragmente und Vermutungen.

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Exkurs: warum externale Strukturen?

2.4) Nach dem Gesagten sollte weitere Begründungen eigentlich nicht nötig sein;dennoch mag es hilfreich sein, ein paar Spekulationen anzustellen, um plausibel zu machen, dass es für eine komplexe Trägerorganisation funktionell sein kann, einige ihrer wesentlichen Existenzbedingungen zu externalisieren. Für die Selbststeuerung genügten eigentlich ein internales Gedächtnis und Information von aussen; für das koordinierte Handeln mehrerer Individuen aufeinander abgepasste Instinktausstattungen; für die aktuelle Beeinflussung des Andern genügte darüber hinaus direktes auf den Andern bezogenes Handeln; für die Sozialisation, d.h. das Erzeugen von überdauernden Handlungsstrukturen im Andern vielleicht ebenfalls, zusammen mit dessen Speicherung eigener internaler Strukturen. Aber letztere wären bei reduzierter Instinktausstattung infolge der Unverlässlichkeit des Gedächtnisses nicht sicher genug. Möglicherweise ist sogar das eigene Handeln allein aus interner Steuerung unnötig belastend, also durch verlässliche externe Strukturen entlastet (z.B. Hunger zur Essenszeit).Aber entscheidend ist wohl der Gewinn in der zwischenmenschlichen Interaktion,also der kollektive Charakter des Gebauten.

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Wohnung als "Gefäss" der Familie

2.5.) Die These vom Bauen als externales, kollektives Gedächtnis ist zunächst allgemeiner als Wohnen. Man kann wohl sagen, die Wohnung und die Wohnumgebung seien Gebautes mit besonderer Bedeutung für den Kreis unmittelbarerBezugspersonen. Fast überall beobachten wir, dass Bauten, speziell Wohnbauten einen sozialen Integrierungs- und zugleich Segregierungseffekt ausüben bzw.die soziale Differenzierung stabilisieren, die Grossgruppen gliedern in verhältnismässig kleine, überschaubare Gruppen, z.B. Familien, Produktionsgemeinschaften, Bekenntnisgemeinschaften u. dgl. Dies wird im wesentlichen durch die Einführung von Grenzen erreicht. "Spiegeln" also Wohnbauten die soziale Organisation der Gruppen? Bilden und festigen sie die Trennung zwischen verschiedenen Gruppen und steuern sie die sozialen Interaktionen innerhalb von ihnen? Sind also Wohnungen "Gefässe" für die Familie, die über allem Wandel dieser sozialen Gebilde im Generationenzyklus eine gewisse überdauernde Stabilität (überindividuelles Gedächtnis!) bereithalten? Das Individuum, die Person, hat im Organismus ein solches Gefäss, die kleine Gruppe hat von der Biologie her keins; sie ist primär durch soziale Instinkte, sekundär durch soziale Normen zusammengehalten, oder eben durch Bauten. Ich halte die Bauten für stärker und vor allem nachhaltiger wirksam als die meisten Normen oder Gesetze. Damit wäre die Heuristik des ersten Teils in spezifischer Weise für die Familie als kleinen Sozialverband und die Wohnung als ihren stofflichen Träger exemplifiziert.

2.6) Diese Idee lässt sich weiter konkretisieren, hier ebenfalls nur exemeplarisch. Wie schon angedeutet, ist das Grundelement des Bauens die Grenze, die räumlich Teilung von eins in zwei usf. Wenn ich mich (und die Meinen) einem Ort zuordne und diesem Ort eine Grenze gebe, einen Wall, eine Mauer, eine Wand, so habe ich mich ausgesondert, habe mich Einflüssen ein Stück weit entzogen, habe meine Eigenständigkeit manifestiert, habe mich unabhängiger gemacht. Auch sicherer für die allfällige Begegnung mit dem Andern, äusseren; denn ich bin von ihm ein Stück weit gesondert und zugleich den Meinen etwas mehr verbunden. An der Grenze können wir einander mit geringerem Risiko begegnen. Das gilt für den Einzelnen wie für Gruppen.

Derjenige, der nun erstmals in die Wand eine Öffnung (Tür, Fenster) gemachthat, war m.E. mindestens so genial wie der Erfinder des Rades. Denn er hat dieAbsonderung noch expliziter zugleich aufrechterhalten und überwunden und der räumlichen Strukturierung eine zeitliche hinzugefügt. Er kann nun nach Belieben die Andern herein(sehen)lassen bzw. sich selbst den Weg zu den Andern öffnen und schliessen. Die gewonnene Unabhängigkeit ist mit der Eingliederungverbunden, durch zwei zueinander gehörende Bauformen ist zugleich Autonomie und Integration geleistet.

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Der Sinn des Gebauten

2.7) Damit sind wird bereit, ein Rahmentheorom zu formulieren, welches den Sinndes Bauens bzw. des Gebauten im allgemeinen und insbesondere im Wohnbereichüber die simple Funktionalität der Grundbedürfniserfüllung hinaus einzufangen versucht.

Gebaute Strukturen sind kulturelle Regulatoren der Autonomie und derIntegration des Individuums bzw. der Gruppe in die jeweils umgebende (soziale)Welt. Die einzelnen Termini dieses Theorems sollen im folgenden kurz erläutertwerden.

Gebaute Strukturen: Wände, Türen und Fenster, Räume, Häuser, Siedlungen,Strassen und Plätze, Städte, aber auch Objekte wie Möbel, bildliche Repräsentationen, Geräte etc.

Regulatoren: vermitteln, haben instrumentale Bedeutung, können gemacht und gewählt werden in dem Sinne, dass sie vermehren oder vermindern; sind also eine Art Trägerprozess, dem Bedeutung aufruht, aufmoduliert ist, welche sich nicht nur in ihm selbst, sondern anderswo und später auswirkt. Regulatoren sind zuunterscheiden von Repräsentanten (weil sie nicht nur darstellen, sondern bewirken) und Ursachen (weil nicht energetische, sondern informatorische Beziehungen zur Wirkung bestehen) und Auslösern (weil das Bewirkte seine Eigenschaften nicht ausschliesslich aus sich selbst bezieht, sondern zum Regulator schon ein inhaltlicher Bezug besteht).

Kulturelle Regulatoren: Gebaute Strukturen haben neben den räumlichen undmateriellen Eigenschaften auch symbolische, sind ja externale Erkenntnisstrukturen; und zwar abbildartige (Ikon: etwa gross - klein, zentral - perifer, rund/organisch - eckig/mechanisch etc. zB Dorfplatz, Villa, Fassadeetc.), hinweisartige (Index: halt: hier Barriere, gehe: hier Durchgang,Widerstand, Dominanz, Unterwerfung z.B. etwa mittels Schwelle, Geländer, Tür, Podium, Empore etc.) und auch konventionelle (Symbole, die man gelernt haben muss: etwa Ruheort, Betriebsort, Werkort, Sakralort z.B. Fabriken, Schulen,Kirchen, etc.) mit allen Übergängen. Kultur ist ja die Menge der Objekte und Ereignisse, die mehr sind als sie selbst, d.h. für eine bestimmte Personengruppe etwas relativ Bestimmtes bedeuten.

Autonomie-Integration: Dies sind Pole oder Prototypen einer dialektischen Dimension: logisch schliessen sie einander aus; aber psychologisch würde die Realisation des einen unter Ausschluss des andern das Ende des Trägers von Autonomie und Integration bedeuten.

Individuum, Gruppe: Alle diese Überlegungen sind prinzipiell hierarchisch durchführbar, d.h. sie gelten auf allen Aggregatsstufen der Vergesellschaftung, etwa für den Bezug des Individuums zur Familie, für den Bezug der Kleingruppezur grösseren Gruppe im Haus, in der Siedlung usw., kurz, für die umgebendeWelt.

Umgebende Welt: Die umgebende Welt des Individuums ist zunächst die Kleingruppe (z.B. seine Familie), immer aber einschliesslich der ihr verfügbaren Ressourcen und Leistungen. Diese Umwelt muss immer als eine soziale und objektale Kultur verstanden werden.

2.8) Regulation von Autonomie-Integration ist ein Rahmenkonzept, welches wohlein nicht-beliebiges Menschenbild impliziert. Es müssten also nun eigentlich anthropologische Betrachtungen zu dessen Präzisierung angeschlossen werden.Hier ist aber nicht der Platz dafür.

Vielmehr soll das Rahmenkonzept nun psychologisch-inhaltlich differenziertwerden, um sich beim Verständnis des Wohnens nützlich zu erweisen. Damit stellt sich die Frage nach "Operator"-artigen Regulatoren. Im Anschluss an die Überlegungen zur bio-psycho-kulturellen Evolutionstheorie muss es sich um Bedingungen handeln, welche eine nach vorne offene Entwicklung bestimmen können. Gefragt sind Prozesse in Systemen, die mindestens ein Stück weit nicht Automatismen sind, also nicht homöostatisch, Störungen ausgleichend, sondern auf irgendeine Weise teleonom: Prozesse, durch welche etwas noch nicht Dagewesenes erreicht wird, nämlich verschiedene Grade von Autonomie-Integration. Dies nicht notwendig bewusst und zielstrebig, wie es die Handlungstheorie haben möchte, sondern sehr viel impliziter, aus vielerlei Bedingungen resultierend. Mit Bauen und Wohnen erreicht man (das Individuum, die Gruppe) gewisse und wechselnde Grade von Autonomie und Integration.

Nebenbei ergibt sich eine triviale Einsicht: Wohnen ist wie die Sprache längstweiss, eineTätigkeit, also ein Inbegriff des Handelns in und mit einem Teil der Welt. Und wie unsere Überlegungen ergeben, wohl weniger eine Vollzugstätigkeit als eine instrumentale; nicht konsumptiv, sondern vermittelnd. Spätestens hier wird zwingend offensichtlich, dass wir mit Konzepten wie "Wohnbedürfnis(se)" nicht auskommen werden, weil diese allemal selbstregulierend, homöostatisch gedacht werden müssen. Sie würden sich gegenden Bedürfnisträger selbst richten, ihn entwicklungsunfähig oder zur Marionette seiner Umwelt machen, wie es die Wohnmaschine von Le CORBUSIER vorsah (vgl.LANG 1981): ausruhen, schlafen zur Wiederherstellung der Arbeitskraft; vorbereiten und essen zur Erneuerung günstiger Körperzustände; entsorgen zum Platz machen für Neues; schwatzen, spielen etc zur Ergänzung der geistigen Ressourcen...

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Differenzierung des Rahmenkonzepts

2.9) Kann man über die Operatoren dieser Regulation von Autonomie-Integrationspzeifischere Aussagen machen? Ich glaube, mit drei Konzepten oder Regulatorsystemen auskommen zu können, die sich etwa in folgende Ordnung bringen lassen: ein Regulator hat mit der jeweils aktuellen Handlungsbereitschaft des Individuums zu tun: Aktivationskonzept. Ein zweites mit der künftigen Handlungskompetenz: Entwicklungskonzept, und zwar gerichtet auf das Individuum oder die regulierende Gruppe selbst, wie auch auf die Umwelt. Ein drittes mit dem Bezug zur weiteren Umwelt: Interaktionskonzept. Von den Begriffen her wird evident, dass versucht wird, eine Anbindung an traditionelle psychologische Erkenntnis herzustellen, ich bin weniger ein Bilderstürmer als ein Umdeuter. Hier können nur Skizzen der Konzepte geboten werden.

2.9.1) Das Aktivationskonzept hat damit zu tun, dass jede Wohntätigkeit den je aktuellen Aktivationszustand (als psychologisches Konstrukt, mit physiologischen Parallelen) potentiell ändern kann. Ein differenziert strukturierter Wohn-Raum stellt Orte mit aktivationerhöhender oder erregenderbzw. aktivationssenkender oder dämpfender Wirkung zur Auswahl zur Verfügung, ich muss jeweils nur aufsuchen oder benutzen: die ruhige Ecke, das geschlossene Zimmer, die leise eintönige Musik, die Dunkelheit, die harmonisch und unauffällig möblierte Stube, das vertraute Inventar von Objekten, Symbolen, die mich in meine Welt einbinden, der Verlass auf was geschieht, die Respektierung meines Arbeitsplatzes durch die Andern usf. sind alles prinzipiell aktivationssenkende Umstände. Und sie haben je ihr erregendes Pendant im offenen, Andern zugewandten, ungeordneten, unvertrauten, unvorhersagbaren,überraschenden usf. Ambiente. Beides kommt in tausendfachen Varianten vor und ist im Wohnbereich dauernd verfügbar und weitgehend beherrschbar, während ich draussen in der Welt (wo diese Regulation ja natürlich andauernd auch spielen muss) dessen nicht so sicher bin. In der Umweltpsychologie hat v.a. MEHRABIAN (MEHRABIAN & RUSSEL 1974) einen solchen Regulator im alltäglichen Umweltbezug konzipiert und in methodisch allerdings etwas problematischer Weise illustriert. In der experimentellen Ästhetik gibt es viele Einzeluntersuchungen zum vorgestellten Prozess; WOHLWILL hat im Anschluss an BERLYNE einiges davon in die Umweltsychologie importiert. Lärm ist ein exemplarischer Fall. In derWohnpsychologie taucht dergleichen häufig in Dimensionsanalysen von Umweltbeurteilungen (environmental perception, cognition) auf.

2.9.2) Das Intraktionskonzept betrifft den Grad des Involviertseins mit der Umwelt, insbesondere mit den Andern. Seine Pole sind "Sicherheit", d.h. hoheAutonomie oder Freiraum: Möglichkeit, dem Einfluss der Andern zu entgehen, und natürlich auch Verzicht auf Einfluss, bzw."Interaktion", d.h. hohe Integration oder Involviertsein: Einflussnahme in beiden Richtungen. Einzelkonzepte, die sich als Spezialfälle dieses Interaktionskonzeptes umdeuten lassen, nehmen in der Umweltpsychologie beträchtlichen Raum ein und sind eingehend, wenn auch nicht unkontrovers und durchaus mit Rest, durchdacht und erforscht worden:Territorialität (MALMBERG 1980) ist wohl das umfassendste Konzept dieser Art; dazu kommen Privacy, Proxemics, Socio-fugal and -petal Space, Personal Space,Public vs. Semipublic Space, Defensible Space, u.a.m. Während aus dem Zwischenwohnungs-Bereich hierzu verhältnismässig viel Beobachtungsmaterial vorliegt, ist es aus der Wohnung selbst recht mager, gerade aus Gründen des Schutzes einer persönlichen Sphäre. Und es ist leider nur selten der Fall, dass die hier relevanten Fragen in der nötigen begrifflichen Schärfe gestellt werden; sie sind ja nicht auf Mensch-Umwelt-Einheiten orientiert, sondern folgen zumeist einem mehr oder weniger gelockerten Determinationsmodell: die Umwelt so und so geartet, hat den Effekt auf die Menschen (etwa STROTZKAet al., 1974: enge Wohnungen bewirken unter Voraussetzungen geringer Bildungshöhe Symptome sozialer Pathologie wie überstrenge Erziehung oder psychosomatische Erscheinungen). Nur selten werden die Eigenschaften der gebauten Welt so allgemein herausgearbeitet und hinreichend speziell operationalisiert, dass wirklich über die Zusammenhänge Aussagen gemacht werden können: beispielhaft finde ich die Untersuchungen von BAUM & VALINS (z.B. 1977) über Studenten in Korridor- und Appartment-Lebenssituationen (d.h. in überoptimal grossen bzw. optimal kleinen Gruppen), während die Defensible Space-Vorstellungen von NEWMAN (1972), wo die Abhängigkeit der Kriminalität von Raumstrukturen demonstriert wird, auf der Umweltseite eher diffus wirken.Leider nur selten werden transaktionale Einflussketten untersucht, die auch beachten, wie das Individuum im Zusammenhang der Interaktionsregulation seine Wohnsituation gestaltet und umgestaltet.

2.9.3) Das Entwicklungskonzept schliesslich ist nicht bipolar wie die beiden erstgenannten, sondern betrachtet die Mensch-Umwelt-Beziehung in der zeitlichen Spannung oder Veränderung. Ausgehend von den umweltbezogenen Tätigkeiten des Individuums (oder der interessierenden Gruppe) wird einmal derInformationsfluss vom Individuum auf die Umwelt und damit die potentielle Stellung des Individuums in seiner Umwelt thematisiert: die Rede ist dann vonSelbstdarstellung. Zweitens wird nach den Rückwirkungen seiner umweltbezogenenTätigkeiten auf das Individuum selbst gefragt und damit gewissermassen der selbsterzeugte Einfluss der Umwelt auf das Individuum fokussiert: Selbstpflegeoder Kultivation (vgl. CSIKSZENTMIHALYI & ROCHBERG-HALTON 1981). Es gibt offensichtlich Umwelten, die in dieser Hinsicht extreme Beschränkungen auferlegen. So kann etwa der Bewohner einer technisch und ästhetisch durchgeplanten Wohnanlage seinem Nachbarn nichts anderes mehr kundtun als dasser im selben Boot sitzt. Seine nach aussen manifest werdende Identität reduziert sich auf das Namensschild, und selbst dieses hat sich an die Norm zuhalten. Seine diesbezügliche Ohnmacht kann er vielleicht noch dadurch ausdrücken, dass er die auferlegten Balkonblumen mehr schlecht als recht gedeihen lässt. Kein Wunder, dass das Vorurteil anstelle der differenzierten Beziehung mit dem Nachbarn tritt und die Entpersönlichung des Bewohners früher oder später sich in Symptomen wie Vereinsamung, Aggression oder Krankheit niederschlägt. Und damit ist auch schon ein Beispiel für die Rückwirkung aufgezeigt, allerdings nicht eine, die aktives Handelns impliziert. Die Idee der Selbstpflege findet einen sehr schönen Ausdruck in der von Ph. BOUDIN (1971) mit soziologischen und sozialpsychologischen Verfahren untersuchten Entwicklung der Siedlung Pessac bei Bordeaux, in der Le CORBUSIER Mitte der 20er Jahre eigentlich entgegen seinen Wohnbautheorien so gebaut hatte, dass die Bewohner im Lauf der Jahre erst weiterbauen mussten, so dass im Laufe einigerJahrzehnte ein Quartier von beachtlich hoher Wohnqualität entstanden ist. Die radikale Verleugnung des Entwicklungskonzeptes habe ich gelegentlich in das Schlagwort gefasst, dass fertige Häuser die Menschen "fertigmachen".

* *

Die empirische Präzisierung und theoretische Verfeinerung dieser Regulations-Konzepte über Menschen im Wohnbereich ist ein laufender Prozess (vgl.Diplomarbeiten am Psychologischen Institut der Universität Bern). Wenn die hier vorgelegte Skizze unserer Überlegungen plausibel gemacht hat, dass familiale Prozesse zumindest für den Psychologen nur in einem umweltlichen Umfeld sinnvoll untersucht werden können, dann haben sie ihren Zweck bereits erreicht. Der geneigte Leser dürfte die implizit gebliebene Kritik an einem Verständnis und einem Umgang mit Familie, welche zu den Wohnbauweisen der sogenannten Moderne geführt haben, selber vollziehen können und auch das Potential spüren, welches eine Wohnpsychologie dem postmodernen Wohnen von Familien eröffnen kann, wie immer das im Einzelnen aussehen wird.

 Nachtrag 2000: Begriffe Oekosystem und Oekotop

Im vorliegenden Test verwende ich den Ausdruck Oekosystem in einer Weise, für die ich in späteren Jahren den Term Oekotop vorgezogen habe: Oekosystem für einen konkreten Organismus mit seiner  Umwelt , Oekotop für ein loseres Gemenge von mehreren oder vielen Lebewesen in ihrer gemeiinsamen Umgebung.

Fussnote:

[1] Da diese Arbeitsdefinition auch aufgaben- oder lustbetonte Arbeits- und Freizeitgruppen umfasst, ist zur Abgrenzung der Familie ein weiteres Bestimmungsstück notwendig, welches mit der Dichotomie "privat" vs. "öffentlich" zu tun hat; es kann im vorliegenden Zusammenhang augeklammert bleiben bzw. soll im zweiten Teil nur kurz gestreift werden.

Inhalt

Literatur (mit ergänzenden Angaben)

ALTMAN I. & WERNER C.M. (Eds. 1985): Home environments. New York, Plenum. Band 8 der Reihe: Human behavior and environment. Band 9 wird der Wohnumwelt (Neighborhood and community environment) gewidmet sein, Band 3 (1978) enthielt Beiträge über die (Wohn-)Umwelt von Kindern.

BAUM A. & VALINS S. (1977): Architecture and social behavior: psychological studies of social density. Hillsdale N.J., Erlbaum.

BOUDIN Ph. (1971): Die Siedlung Pessac - 40 Jahre Wohnen -- Le Corbusier: sozio-architektonische Studie. Gütersloh, Bertelsmann.

BROADBENT G., BUNT R. & LLORENS T.(Eds. 1980): Meaning and behaviour in the built environment. Chichester, Wiley.

CSIKSZENTMIHALYI M. & ROCHBERG-HALTON E. (1981): The meaning of things -- domestic symbols of the self. Cambridge Univ. Press, 1981. Dt. Übersetzung in Vorb. bei Psychologie Verlagsunion, Weinheim und München.

LANG A. (1981): Vom Nachteil und Nutzen der Gestaltpsychologie für eine Theorie der psychischen Entwicklung. In: FOPPA K. & GRONER R. (Eds.): Kognitive Strukturen und ihre Entwicklung. Bern, Huber.

LANG A. (1982 a): Die psychosoziale Bedeutung des Wohnens. S. 62-72 in: Familienpolitik in der Schweiz. Bern, EDMZ.

LANG A. (1982 b): Besser wohnen - anders bauen. Schweiz.Z.f. Gemeinnützigkeit121(4) 85-97

LANG A. (1985): Remarks and questions concerning ecological boundaries in mentality and language. S. 107-114 in: SEILER H. & BRETTSCHNEIDER G. (Eds.):Languange invariants and mental operations. Tübingen, Narr.

MALMBERG T. (1980): Human territoriality. Den Haag, Mouton.

MEHRABIAN A. & RUSSEL J.A. (1974): An approach to environmental psychology.Cambridge Mass., MIT-Press.

MÜHLICH E., ZINN H., KRÖNING W. & MÜHLICH-KLINGER I. (1978): Zusammenhang vongebauter Umwelt und sozialem Verhalten im Wohn- und Wohnumweltbereich.Schriftenreihe "Städtebauliche Forschung" des Bundesministers für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau, Bonn, Nr. 03.062.

NEWMAN O. (1972): Defensible Space. New York, MacMillan.

STROTZKA H. et al. (1974): Zusammenhänge zwischen den Wohnbedingungen undpsychischen Störungen. Wien, Forschungsgesellschaft für Wohnen, Bauen undPlanen.

Inhalt

Diplomarbeiten zum Thema Wohnpsychologie am Psychologischen Institut derUniversität Bern:

SCHALLER & BLASER-KRÄHENBÜHL 1980: Beurteilung von Hausfassaden.

SCHÜPBACH & SIEGENTHALER 1981: Wohnbedürfnisse, artikuliert anlässlich Umzug.

VOGT & LODER 1982: Jugendliche in Entwicklung in der Reihe: Zimmer-Wohnung-Haus-Quartier.

HARNISCH & MAURER 1983: Bedeutung von Wohnzimmereinrichtungen.

BALTISBERGER 1984: Befinden und Verhalten von Betagten im Quartier.

BOS 1984: Familienwandel - Hausumbau.

STUBER 1985: Erarbeiten eines eigenen Grundrisses für ein Haus.

KLEINE 1985: Territorialität in der Wohnung, Bewohner und Besucher.

Inhalt

Ökosystem Wohnen, Thesenblatt (Konstanz) Juli 1986

Familiale Lebensformen und Familienpolitik im Übergang zur Post-Moderne

Alfred Lang, Psychologisches Institut der Universität Bern


1) A heuristic analogy between levels of living systems (cell, person, group or society) helps in asking questions about segmentation and stabilizing factors in ecosystems, i.e. systems consisting of both a material substrate and that what exists on that substrate.

1.1) The family as a social and the dwelling as a spatial structure should be studied in parallel and as a superordinate unit (ecosystem).

1.2) Sociological terminology as to the substrate part of eco-systems seems wanting.

1.3) The built and the designed are externalized knowledge and generative action structures, functionally similar to the genom for the living cell and the ontogenetic memory for the individual person; these storage system constitute autonomy of subjects.

1.4) Cells, persons and groups differ as to the spatial, temporal, reproductive, and generative characteristics of their storage systems.

1.5) In modern times cultural storage systems (collectve memory) proceed with a limitless mass production of built and designed carriers of meaning.

1.6) However, as in phylo- and ontogenetic storage, there are capacity limits in proceeding materials and information, if the fit between societies and their environment is taken into account. Postmodern understanding of ecosystems is aware of these limits wheras modernity denies them.

1.7) Of all the resulting segmentations of societies and the built structures the familiy and the dwelling are a most fascinating ecosystem.

2) Processes within the family-dwelling-ecosystem are considered in the form of a sketch of a psychological theory of dwelling.

2.1) "Dwelling" as a process refers to men- and object-related activities of men in small and stable groups which separate from public activities by spatial concentration (built structures) and temporal spread (everyday repetition and longterm existence); these activities constitute a social and a spatial organisation.

2.2) Building and designing in men can be considered as a cultural amplification and expansion beyond the instinctive territorial and building behavior in animals.

2.3) It is insufficient to consider the immediate function of purpose the built structures such as protection, storage etc. Building is the oldest form of a written language, it has a heavy and mostly subconscious impact on social life. An elaborated semiotics of the built and the designed is wanting.

2.4 and 2.5) (cf. part 1) The dwelling is the "vessel" of the family. It is to the family what the organism is to the person.

2.6) Examples of prototypes of building: The first price of modernity goes to the inventor of the wheel, that of post-modernity to the inventor of the door.

2.7) Built structures in and around the dwelling are cultural regulators of autonomy and integration of persons and groups.

2.8) In the activity of dwelling the person operates on the environment and the environment operates on the person. "We shape our buildings, and the buildings shape us."

2.9) As an operative specification of the autonomy vs. integration principle the psychological constructs of Activation (exciting vs. smoothing), Interaction (security vs. involvement), and Development (self-representation and self-cultivation) are suggested for the description and explanation of the processes of dwelling .

(Postscript: My working definition of the family obviously includes work or task groups of some temporal stability. Although this has not been explicitly discussed in the paper, my intention is to open the view beyond the current public-private segregation of industrialized societies, which in the form of the family vs. workplace separation is, as everyone knows, a historical rather than an absolute given, although the public-private dichotomy probably has a more general meaning in principle which is quite important in my theory of dwelling.)

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