Alfred Lang

University of Bern, Switzerland

Conference Presentation 1987

Zum Bildungswert der Informatik

1987.03

@HumComp @Educ @CuPsy

15 / 221KB  Last revised 98.11.01

Vortrag beim Bernischen Gymnasiallehrerverband , Burgdorf, 11.11.1987

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Zum Bildungswert der Informatik möchte ich in zwei Teilen sprechen:

A) betreffend Bildungswert:: notgedrungen skizzenhaft, ja oberflächlich, salopp, persönlich.

B) betreffend Informatik:: seriöser, grundsätzlicher: ein Versuch, den Ort der Informatik in unserer Kultur zu bestimmen. Das läuft auf eine Anstiftung hinaus, trotz allerlei Wehmutstropfen eine gewisse Zuversicht.

 

I. Begriffe Informatik,Kultur, Bildungswert

Hat Informatik Bildungswert - wenn ja , welchen?

Informatik = maschinengestützte Schaffung, Lagerung, Weitergabe, Nutzung von Information.

Information = ausgewählte, geordnete und in einem Kontext aktualisierte Zeichen(sub)systeme. (Die Aktualisierung einer Teilmenge aus der Menge einer Zeichenklasse kann übermittelt werden und informiert oder ist informativ.)

Zeichen = die Dreifach-Relation zwischen einem Bezeichnenden, einem Bezeichner und einem Bezeichneten, oder "etwas, das für jemanden in gewisser Hinsicht für etwas steht" oder bedeutet. In seiner Semiotik spricht PEIRCE auch vom Zeichenprozess als der "Kooperation" von Zeichen, Interpretant und Objekt).

- Da können Sie an die Ziffer denken, die jeweils für jemanden eine bestimmte Menge von etwas bedeutet, zB Geld oder Aepfel.

- Oder an die Serie von Bits, die in einer Datenbank einer Behörde, zB für Namen und Adresse eines bestimmten Menschen stehen.

- Oder an die Kollektion von Artefakten, die in einem Völkerkundemueseum in gewisser Hinsicht die keltische Kultur repäsentieren.

- Oder an die gesamte Menge von wahrnehmbaren Zuständen und Ereignissen, welche etwa in bernischen Landen das gesamte Leben der Menschen ausmachen, an dem wir alle teilnehmen.

Kultur, im weitesten Sinne verstanden, stellt also ein System von Zeichen dar; sie ist, wie ECO sagt, ein "semiotisches Phänomen". Dies sowohl statisch als ein (äusserst komplexes) System von Zeichen, wie dynamisch als die Erzeugung, die Weitergabe, die Nutzung dieser Zeichen.

Damit hab ich einen Bogen geschlagen zwischen Informatik und Kultur. Zwar noch sehr abstrakt. Aber wenn Bildung mit der Einstimmung von Menschen auf eine Kultur und der Auseinandersetzung vom Menschem mit einer Kultur (vielleicht einere besonderen Kultur) zu tun hat, dann dürfte es sich lohnen, die Rolle der Informatik als einer besonderen Teil-Kultur in der Bildung zu untersuchen oder umgekehrt den Bildungswert der Informatik als eines besonderen Zeichensystems.

Ich komme auf die Kultur zurück; vorerst etwas zum Bildungswert.

"Bildungswert" === ??? (tiefer Seufzer!)

Natürlich erinnert mich das an Latein und Griechisch. Als Gymnasiast pflegte ich zu behaupten, man könnte das, was im Lehrplan des Gymnasiums mit den alten Sprachen angestrebt werde, ebensogut wenn nicht besser mit einem geeigneten Turnunterricht erreichen (ich war in Latein und Turnen gleich schlecht!), oder mit Musikunterricht, oder mit Kalligraphie, oder (wie früher) mit Bibelunterricht, oder mit... Also die intensive Auseinandersetzung mit irgendeinem verhältnismässig geschlossenen Kulturgut als Formalgebilde müsste Wirkungen hervorbringen wie zB Denk- und Arbeitsdidziplin und viel anderes mehr, zusammen mit den erwarteten Ausstrahlungen auf das gesamte geistige Leben. Später habe ich dann noch die inhaltlichen Aspekte der Auseinandersetzung mit der Welt der Antike als einer Modellwelt schätzen gelernt, allerdings gepaart mit dem Bedauern, dass damit so viele andere wichtige modellhafte Welten, zB die keltische, die indianische oder die chinesische ausgeblendet werden.

Und es wuchs auch meine Einsicht in den Umstand, wie gut sich die ferne Antike als Projektionsfläche für unser Weltverständnis eignet. Damit will ich nicht leugnen, dass unsere Zivilisation in der alten Mittelmeerwelt wichtige Wurzeln hat, sondern nur vorwegnehmen, dass wir ebenfalls übersteigerte Hoffnungen wie Befürchtungen auf die Informatik wie auf die Antike zu projizieren pflegen.

Aber es war, für mich jedenfalls, offensichtlich, dass die Schule, wie so vieles, das sie anfasst, auch diese klassische Glanzidee der Bildung an einem Modell, längst ins Gegenteil pervertiert hatte. Und die Vereinnahmung des Gymnasiums durch die Leistungsgesellschaft gab ihr noch den Rest. Von den Ausnahmen jener Lehrerpersönlichkeiten einmal abgesehen, die trotz der Ungunst der Umstände immer noch ihre Schüler durch die Antike hindurch in die heutige Lebenswelt heranzuführen vermögen. Und wie steht es mit der Bildungsidee in den andern Fächern? Ich weiss, dass die Meisten von Ihnen sich solchen Fragen intensiv stellen; und Ihnen als den direkt Betroffenen können Antworten nicht so leicht fallen wie mir in der Rolle des privilegierten Hofnarrs einer demokratischen Obrigkeit.

Bildet denn Schule überhaupt noch? Was entsteht beim Zusammentreffen von Schüler und "Stoff"? - Ich will hier jetzt äusserst salopp simplifizieren.

Es scheint mir, dass allzu oft das Ziel verfolgt wird, dass sich der Schüler einen Stoff aneignet, dass ein wissender Schüler entsteht, im günstigen Fall vielleicht ein Schüler mit Handlungskompetenz (wie man so hochtrabend sagt). Unter diesem Aspekt kommt es natürlich darauf an, mit welchem Stoff sich der Schüler auseinandersetzt. Er muss für das Bestehen in bestimmten Lebensbereichen vorbereitet werden. Der Streit um ein Plätzchen im Lehrplan des Gymnasiums ist damit unter allen Interessen-Gruppen und -Grüppchen der Gesellschaft ausgebrochen. Auch die einmal besetzten Felder verteidigen ihre Position so gut wie nur möglich, und die neuen Interessen haben es nicht leicht. Die Aufspaltung der Maturtypen ist eine pragmatische Folge davon; die Ablösung der Bildung durch Ausbildung eine andere; ebenso die "innere Emigration" einer grossen Zahl von Gymnasiasten, und nicht der schlechtesten, in allerlei private Bildungsbeschäftigungen, begreiflicherweise unter äusserem Mitfahren im Lift auf gesellschaftlich gehobene Stockwerke; schliesslich auch die manchmal tragische Zerreissprobe zwischen inneren, geistig-seelischen und äusseren, materiellen Werten.

Anderseits wäre es reizvoll, die alten Bildungsideale in semiotischer Sicht neu zu formulieren. Ich kann nur andeuten: Das Zusammentreffen zwischen Schüler und irgendeinem exemplarischen Material ist als Zeichenprozess, als Semiose zu verstehen. Dabei ist ein drittes beteiltigt, eben das Zeichen oder Zeichensystem, welches schon immer besteht, wo Menschen mit etwas zu tun haben, und welches anhaltend in der Semiose überformt wird. Nennen wir dieses Dritte, welches als kollektives Zeichensystem stets auch über den beteiltigen Interpretanten (hier den Schüler) und die beteiligten Objektwelten (hier der Stoff) hinausweist, unter dem Aspekt des Interpretanten "Bildung", unter dem Aspekt eines Dritten "Kultur".

Darf ich diesen Gegensatz mit ein paar Beispielen, auch ausserschulischen (die Schule ist nicht an allem schuld!), verdeutlichen? Ein Waldspaziergang, traditionell ein Bildungsereignis par execellence, ist heute ein Lehrgang, ein Indoktrinationsversuch. Der Physik- oder der Chemieunterricht, seinerzeit ein Versuch der Weltbild-Bildung, ist heute eine unentbehrliches Glied in der Kette der Berufsvorbereitungen. Die Reifeprüfung, ursprünglich ein Initiationsritual, ist heute ein Zulassungsschein. Der Fremdsprachenunterricht, einst die Relativierung der eigenen an fremden Welten, ist zum Erwerb einere Reise- und Handelstechnik degradiert.

Was ich mit diesen kritischen Gedanken wollte, lässt sich einfach zusammenfassen: dass Bildungswert nicht in einer Sache gegeben ist, sondern aus einer Begegnung unter geigneten Umständen erst entsteht. Grundsätzlich kann jeder Stoff Bildungswert entfalten. Ich setze Begegnung, Auseinandersetzung mit einer Materie um der damit erfüllbaren Zwecke willen, heute in der Regel das Primärziel von Schulung) gegen jenes Andere, Dritte, das aus der Begegnung erwächst, die Bildung, die Kultur (heute bestenfalls ein Sekundärziel); und ich plädiere gewissermassen für Vertauschung von primär und sekundär.

 

II. Der Ort der Informatik in unserer Kultur

Was ist die Informatik in diesem Zusammenhang, dh wenn wir sie unter dem Aspekt ihrer Unterrichtung betrachten?

Ich fürchte sehr, dass 99 von 100 Menschen, sie nur als eine weitere Technik verstehen. Der Computer und alles was damit zusammenhängt diene zum Erreichen von Zwecken. Und vielleicht wird gerade mancher an Bildung Interessierte besonders laut klagen, der Computer führe vom Menschlichen noch weiter weg, er nehme mit seiner technischen und gesellschaftlichen Eigendynamik den Menschen mit Beschlag, ja er vergewaltige ihn vollends.

Dass in dieser Hinsicht Sorge angezeigt ist, dem will ich ohne weiteres zustimmen. Dass dies aber notwendig und unvermeidlich so sei, dem will ich die These entgegenhalten, die Informatik sei eine einmalige Chance der kulturellen Entwicklung . Ihr hoher Bildungswert sei allerdings nicht einfach zu entdecken, sondern er müsse vor allem realisiert werden.

Um diese These nachvollziehbar zu machen, möchte ich nun in meinem zweiten Teil versuchen, die Informatik in den Rahmen unserer Kultur zu stellen, sie damit auch in unserer Bildungslandschaft zu "verorten".

Ich bin in der Einleitung von der Idee der Kultur als einem Zeichensystem ausgegangen und habe schon angedeutet, dass Informatik sich mit einem Zeichen(sub)system von besonderer Art beschäftigt.

Worin besteht die Besonderheit? Ich vergleiche im folgenden Maschinelle Informatik und menschliche Informatik in dreierlei Hinsicht, letztere verstanden als Zeichenverarbeitungsverfahren mit den traditionellen Mitteln der Vorstellung, des Denkens, der Sprache usw.

- Erstens gewinnt Informatik mit maschineller Unterstützung einen Umfang und eine Intensität der Speicherung und Umsetzung, wie er in der menschlichen Informationsverarbeitung schlicht undenkbar ist.

- Zweitens gewinnt in der maschinellen Informatik die zur Verarbeitung stehende Information die Eigenschaft, innerhalb des Zeichensystems durch und durch eindeutig zu sein und sich als solche nicht mehr zu verändern; sie teilt diese Eigenschaft mit den formalen Sprachen etwa der Mathematik oder der mathematischen Logik, nicht aber mit dem Alltagsdenken, wo fast alle "Informationselemente" mehrdeutig sind und je nach Kontext den Sinn ändern.

- Drittens teilen wiederum maschinelle und menschliche Informatik eine unscharfe Randzone der Zeichenprozesse: Selbst dort wo, wo ein-eindeutige Zuordnungen innerhalb der Zeichensysteme im engeren Sinn herrschen - die Gleichungen würden sonst nicht aufgehen, die Computer nicht funktionieren - , ist das Abbildungsverhältnis zu den vorgelagerten Zeichensystemen problematisch. Sie können der Einfachheit halber auch sagen, die Umsetzung der Wirklichkeit in die Zeichensysteme ist in der Regel gerade nicht ein-eindeutig, man tut aber also ob. Zwei Folgen sind geläufig:

(a) Man packt Unsinn in den Computer, und getreu seiner Funktion als Informationsverstärker spuckt er am Schluss der Verarbeitung erst recht Uninn heraus.

(b) Um der Computerlogik gerecht zu werden, vergewaltigt man den Input. Ein Mensch, völlig ungeachtet seiner Einmaligkeit und seiner vielen Facetten, geht dann als isoliertes Individuum mit den Merkmalen xyz in die Verarbeitung ein. Aber auch in dieser Hinsicht ist der Unterschied nur graduell. Die Datei im Computer, die Datenbank, ist bloss eine wesentlich effizientere Kartei.

Nun würde es niemandem einfallen, beispielsweise die Inhalte unserer Archive, Bibliotheken, Museen oder die Werkzeuge und Bauten und alle andern traditionellen Zeichensysteme nicht als unentbehrliche Träger unserer Kultur zu betrachten; der Computer hingegen erscheint für viele zunächst als Fremdkörper.

Wenn Sie anderseits auf dem beschriebenen Hintergrund die Bedeutung der Informatik für die menschliche Kultur überschauen, und dies eben einmal nicht als Technik - um etwas damit zu tun -, sondern in ihrem "Wesen" als ein besonderes, dynamisches Zeichensystem, so müssen Sie erkennen, dass die Informatik auf nichts anderes hinausläuft als auf eine gewaltige Verstärkung der Binärlogik in der menschlichen Kultur. Was immer mit Informatik in Berühung kommt, was an Information mittels Computer verarbeitet wird, entgeht in keiner Weise mehr der kalten Schärfe dieser Denkweise. Vergegenwärtigen wir uns noch, dass diese Denkweise in unserer Zivilisation seit etwas längerer Zeit einen unglaublichen Siegeszug erfährt, insbesondere in allem, was von den Wissenschaften berührt wird, besonders von den Naturwissenschaften, aber -idealtypisch zumindest - auch von den andern, etwa den Rechtswissenschaften, neuerdings von den Sozialwissenschaften allgemein.

So gesehen verkörpert Informatik und was man mit ihr immer machen kann, einen zentralen Wesenszug unserer Zivilisation mit einer Klarheit, welche die Modellhaftigkeit der Antike für unsere Lebenswelt zumindest erreicht, wenn nicht sogar in mancher Hinsicht übertrifft. Deshalb müsste es geradezu als ein Akt der Verleugnung bezeichnet werden, wenn wir im Bildungswesen dieser Zivilisation der Informatik nicht einen ganz zentralen Platz einräumen wollten. Beispielsweise die dem Grammatikstudium zugeschriebene Denkschulung kann die Informatik ausgezeichnet übernehmen (freilich nicht die das Sprachstudium begleiten sollenden Einsichten in den Reichtum der Lebenswelt und deren sprachliche Symbolisierung). Was Sprachen überhaupt sind, lernt man wohl ebenfalls in einer künftigen, noch etwas ausgereifteren Informatik und im Vergleich mit den natürlichen Sprachen tiefer als durch ein Sprachstudium allein; dies deswegen, weil die formalen Sprachen, vereinfacht gesagt, einen allgemeineren Vergleichshintergrund abgeben als etwa die indogermanischen. Ähnliche Mittel-Zweck-Relationen wären viele anzuführen.

Allerdings will ich jetzt nach all der "Reklame" für Informatik doch eine wesentliche Zusatzbemerkung machen: diese Denkweise der Binärlogik ist nicht die einzige menschliche. Wohl nimmt sie einen wichtigen Platz ein, aber sie ist völlig unangemessen an die existiellen Dimensinen des Menschen; sie ist ungeeignet, das Wertproblem zu lösen oder den Eigenheiten menschlicher Beziehungssysteme wirklich gerecht zu werden. Wenn ich gesagt habe, die Kultur sei ein Zeichensystem und die Informatik sei ein besonderes Zeichensystem, so sollte deutlich geworden sein, dass es sich dabei um eine Partialkultur handelt.

Ich denke, die Informatik wird über kurz oder lang die alte Debatte erneuern, wie sie etwa von C.P. SNOW in den 50er Jahren in die Formel von den "zwei Kulturen" gepackt worden ist: die naturwissenschaftlich-binärlogische einerseits und die geisteswissenschaftlich-menschbezogene anderseits. Das dialektische Verhältnis zwischen den beiden ist nicht zu übersehen. Ich halte dies für ein notwendiges Spannungsfeld menschlicher Existenz und mithin auch für einen unentbehrichen Bestandteil jeder Bildung. Es gilt, von der technischen Dimension - Faszinosum und Schreckgespenst - allmählich auf Wesensfragen überzugehen.

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