Alfred Lang

University of Bern, Switzerland

Edited Book Chapter 1987

Das Ende der Arbeitswelt - Ein Problemaufriss

1987.02

@ResPub @CuPsy @Ethic

60 / 74KB  Last revised 98.11.01

In: M. Svilar (Ed.) Die Zukunft der Arbeit. Bern, Haupt, 1987. Pp. 9-32.

© 1998 by Alfred Lang

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Inhalt

   


Meine Damen und Herren! Das Collegium generale hat für diese Vortragsreihe ein Thema gewählt, das zum Fluchtpunkt der Ängste und Hoffnungen von Millionen geworden ist. Arbeit ist der Motor, eigentlich das Herz unserer Zivilisation.

So gesehen hat Arbeit eine Zukunft, solange unsere Zivilisation eine Zukunft hat. Der Zukunft der Arbeit gilt diese Vortragsreihe. Dennoch beginnt sie mit einem Vortrag unter dem Titel: Das Ende der Arbeitswelt. Gemeint ist das Ende dieser, unserer, der heutigen Arbeitswelt.

Ich bin der Kommission des Collegium generale dankbar, dass sie weder ein Ausrufe- noch ein Fragezeichen zum Titel gesetzt hat; denn es geht nicht um eine Behauptung, noch um eine Infragestellung einer Behauptung. Was ich zusammen mit Ihnen in dieser Stunde tun möchte ist die Durchleuchtung einer Situation, an die wir uns sehr gewöhnt haben. Eine gewohnte Sache zu verstehen, ist allemal schwierig; denn wir sehen nur mit Mühe, wie ungewöhnlich diese gewöhnliche Situation eigentlich ist; und nur wenn wir sie auf einem grösseren als dem gewohnten Hintergrund betrachten. Diese Sachbezogenheit soll mich aber nicht hindern, Gedanken zu äussern, die ungewohnt und vielleicht sogar schmerzlich sind. Auch einige Narrenfreiheit müssen Sie mir zugestehen; die Sache ist zu ernst als dass man sie ganz den Experten überlassen dürfte. Meine Aufgabe ist die eines Denkanstössers: ein Problem-Auf-Riss.

Inhalt

1 Arbeit - ein psychologisches Problem

Die Kommission des Collegium generale hat noch eine zweite interessante Entscheidung getroffen: sie hat für den Einleitungsvortrag dieser Reihe einen Psychologen eingeladen. Das ist ungewöhnlich. Denn Arbeit ist selbstverständlich ein ökonomisches Problem. Zudienend werden die Rechtswissenschaften benötigt, um einige Dinge zu regeln; das Bildungssystem, um die Menschen auf die Arbeit vorzubereiten; das Gesundheitswesen, um ihre schlimmsten Auswirkungen zu mildern. Wenn sie nicht zu sehr stören, dürfen die Soziologen, die Historiker, die Philosophen, die Ethnologen über die Arbeit nachdenkem Die Psychologen sind allenfalls als Teil des Gesundheitswesens brauchbar: Psychohygiene, Psychotherapie und dergleichen; oder als Zudiener bei der Selektion (Psychodiagnostik) oder bei der Arbeitsplatzgestaltung (Psycho-Ergonomie). So die geläufige Sicht der Dinge.

Dagegen möchte ich mit dem Collegium generale erwägen, diese Arbeitswelt sei auch und heute vielleicht in erster Linie ein psychologisches Problem.

Ich stelle diese Aussage zunächst in Form eines Zitats in den Raum, bevor ich versuche, in differenzierterer Weise und mit Einsätzen für die anderen Mitspieler in diesem multidisziplinären Konzert meine Analyse nachvoliziehbar und vielleicht plausibel zu machen. Ich übersetze frei aus dem Buch «Working» (1974) des amerikanischen Publizisten Studs Terkel:

«Ich bin eine Maschine, sagt der Punktschweisser am Auto-Montageband. - Ich werde im Käfig gehalten, sagt die Schalterbeamtin in der Bank; - Echo vom Hotelconcierge; und das Empfangsfräulein fügt bei: - ein Affe kann, was ich tue. - Ich bin ein motorisierter Lastesel., sagt der Magaziner, - und ich weniger als eine Landmaschine, der Gastarbeiter in der Milchfabrik. - Ich bin ein Ding, sagt das Mannequin. - Und die Arbeiter und Angestellten antworten im Chor: Wir sind alle Roboter! (S. Xl)

Mit der Betonung der psychologischen Seite der Arbeit möchte ich selbstverständlich nicht abstreiten, dass Arbeit auch ein politisches Problem darstellt; ich meine nur, dass sich die Politiker bisher von der ökonomischen Sicht der Arbeit bannen liessen und jetzt nicht länger um ihre psychologische Bedeutung herumkommen werden.

Meine Ausführungen folgen in zwei Hauptteilen: ich möchte mit Ihnen zunächst das Begriffsfeld «Arbeit» etwas zu klären versuchen. Angesichts der langen Traditionen in mancherlei Disziplinen kann das nur al fresco und sicher nicht mit der wünschbaren Differenziertheit gemalt werden. Ich steuere auf ein überdisziplinäres Verständnis des Begriffes der Arbeitswelt hin. Die verschiedenartigen Gesichtspunkte und meine eigenen Akzentsetzungen laufen das Risiko, es keinem recht zu machen.

Das Gemälde wird dann Fluchtpunkte finden in einigen Entwicklungen der modernen Arbeitswelt, die ich für mich geneigt bin, mit der Formel von Ende oder vielleicht besser mit dem Bild der Sackgasse in Verbindung zu bringen, aus der man ausbrechen kann. In einer Serie von Gegenüberstellungen, ausgewählten Fort-Schritten gewissermessen, möchte ich im zweiten Teil mein zunächst etwas schematisches Gemälde mit konkreten Inhalten anreichern.

Inhalt

2 Eine Art Entwicklungsgeschichte der Arbeit

Zunächst müssen wir uns zu einigen versuchen, wovon die Rede ist. Das ist nicht ganz leicht, weil der Begriff der Arbeit nicht nur viele Bedeutungsfacetten aufweist und sich laufend wandelt, sondern weil beim Reden über Arbeit auch stets unterschiedliche Wertungsstandpunkte durcheinanderlaufen und mithin das Reden über Arbeit nicht selten Propaganda ist.

«Arbeit ist süss!», behauptet ein Sprichwort, während die Bibel den «Schweiss des Angesichts» mit der Arbeit assoziiert. «Nur ein Viertelstündchen!» ist auf die Sofadecke gestickt: gemeint ist ein kleiner Diebstahl an der Arbeit. In den Oberschichten vieler Kulturen wird (körperliche) Arbeit verachtet; sie delegieren zu können, ist eine entscheidende Errungenschaft des Aufstiegs beziehungsweise ein Privileg. Dagegen wenden sich die christliche Moral, im besonderen die protestantische Ethik, und natürlich auch der moderne Egalitarismus. Anderseits träumten die Menschen wohl schon lange - und gerade auch die moderne Generation - von einer Schlaraffenlandzukunft. In Utopien wird immer nur gerade soviel gearbeitet, wie unbedingt nötig ist. Geistige Arbeit allerdings fordert nicht gleichermessen eine Scheidung zwischen Arbeitenden und Privilegierten heraus, obwohl ihr gesundheitliches Risiko auch nicht gerade gering sein soll.

Unsere Arbeitsgesetze verbieten zwar die Kinderarbeit; die auch zur Durchführung dieses Ideals ausgebauten Schulen belasten den Zwölfjährigen jedoch mit einer 36-Lektionen-Woche und 10 weiteren Hausaufgabenstunden, die Klavier-, Tennis- und Judolektionen noch nicht mitgezählt; sein Lehrer ist mit einem 22-Wochenlektionen-Pensum an der Grenze zur Überlastung und oft darüber. Die Probeleistungen in der Schule heissen schlicht «Arbeit».

Ist Ihnen auch schon aufgefallen, dass manche Leute, die zu ihrem Beruf machen, was ihnen Spass macht, Bindestrich-Arbeiten erfinden? Es gibt den Friedens-Arbeiter, den Sozialarbeiter, den Gassenarbeiter, den Was-Weiss-lch-Arbeiter; einige davon sind so geläufig geworden, dass sie den Bindestrich bereits verloren haben; und Reiter und Jäger nennen ihren Umgang mit Pferd oder Hund sinnigerweise ebenfalls «Arbeit».

Werden wir etwas formeller: In unserem Kontext bedeutet Arbeit eine ziel- und zweckorientierte Tätigkeit, also eine Reihung oder Gruppierung von zusammengehörigen Handlungen mit einem Ziel und einem Zweck (vgl. Tafel 1).

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Tafel 1: Oberbegriffe von «Arbeit»

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Handlungen sind die einzelnen menschlichen Akte (z.B. zeigen, heben, stoppen, grüssen).

Tätigkeit heisst die (zunächst ungeordnete) Menge irgendwie zusammengehöriger Handlungen, zum Beispiel reden, umherfahren, bauen; auch Reise, Beruf usw.

Zielorientierte Tätigkeit heisst jede geordnete Menge (meistens Reihe oder Netz) von Handlungen, die als gesamte um eines Zieles willen ausgeführt werden; sie können das Ziel erreichen oder verfehlen zum Beispiel, Spiel, Konstruieren, Denksport, Flirten.

Zweckorientierte Tätigkeit ist eine zielorientierte Tätigkeit dann, wenn ihr Ziel nicht ein Bestandteil der Tätigkeit selbst ist, sondern ausserhalb von ihr liegt, zum Beispiel Arbeit (dient dem Lebensunterhalt, der Selbstverwirklichung).

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Mit Ziel meine ich zunächst das den meisten Tätigkeiten inhärente, das heisst in ihnen selbst enthaltene, Organisationsprinzip ihrer Teilhandlungen. Jede Tätigkeit führt ihrer Natur nach zu einer Klasse von Ergebnissen, sie hinterlässt einen mit der Art der Tätigkeit verbundenen Effekt. Das kann ein bleibendes oder ein vorübergehendes Werk sein, die Veränderung oder die Verlagerung von Dingen, die Umwandlung von Energie, aber auch die Verbreitung, die Verarbeitung oder der Empfang von Information, die Beeinflussung von andern Menschen oder von einem selbst. Zielorientierte Tätigkeiten im Unterschied zu Tätigkeiten überhaupt haben also eine innere Ordnung, sie können in bezug auf ihre Zielerfüllung beurteilt werden. Ruheloses Umherfahren beispielsweise ist nicht zielorientiert, wohl aber in der Regel das Spiel.

Arbeit ist eine zielorientierte Tätigkeit, aber zusätzlich ist sie auch zweckorientiert. Der Zweck ist der Tätigkeit exhärent, das heisst nicht in ihr selbst gegeben. Eine geläufige Definition sagt, das Spiel habe sein Ziel nur in sich selbst und also keinen Zweck; die Arbeit findet ihn ausserhalb ihrer selbst. Arbeitstätigkeiten dienen also etwas oder jemandem, dem Arbeitenden selbst oder einem Dritten, eine Gruppe.

Mithin ist Arbeit stets mit einem Auftrag verbunden und damit auch mit einer Verantwortung. Den Tätigen kann man fragen, ob das Ziel, der Sinn seiner Tätigkeit erreicht ist; den Arbeitenden kann man zusätzlich fragen, ob der Zweck erfüllt worden ist. Und diese zweite Frage richtet sich eigentlich an den Auftraggeber, an denjenigen, dem der Arbeitende verantwortlich ist, der natürlich im Grenzfall mit dem Arbeitenden identisch sein kann.

Betrachten wir Auftraggeber und Zweck etwas genauer.

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2.1 Auftraggeber

2.1.1 Selbstauftrag: die Bedeutung der Arbeit für die Subsistenz

Für jeden einzelnen von uns ist die Teilung der Welt in «Ich selbst» und den Rest der Welt, die Andern und die Dinge, grundlegend. Ein beträchtlicher Teil unseres Handelns kann recht gut verstanden werden, indem man auf die dem Organismus oder der psychischen Organisation inhärenten Antriebe, Strebungen oder Motivationen verweist. Auch wenn der Vollzug dieser Handlungen auf situative Bedingungen angewiesen ist oder durch bestimmte Situationen ausgelöst oder koordiniert werden kann, kommt der entscheidende Antrieb von innen.

Die gebräuchlichste Bezeichnung dafür ist das «Bedürfnis», ein Begriff, mit dem allerdings viel Schindluder getrieben wird, weil es so leicht fällt, für alles beobachtete Verhalten ein zugrundeliegendes Bedürfnis zu postulieren, vom Bedürfnis nach Ordnung, nach Abenteuer und vielem Beliebigen mehr bis zum Bedürfnis nach Bildung (dem Sie hier zu obliegen scheinen). Aber es ist unübersehbar, dass ohne die Erfüllung von Bedürfnissen wie für Luft, Nahrung, Bewegung und anderes das Leben des Organismus aufhört; und ähnliches kann man sagen von der psychischen Organisation, die man am Aufnehmen von Information oder am Agieren hindert: sie verkümmert sich zum Tod. Eine ganze Reihe von selbstgesteuerten und selbsterhaltenden Tätigkeiten wird also niemand in Frage stellen wollen. Dazu gehören, zumindest in rudimentärer Form, nicht nur das Ernährungsverhalten, das Fortpflanzungsverhalten, der Aktivitätswechsel im Tageszyklus und anderes, sondern auch Neugier und Exploration, Furcht und Abwehr und ähnliches.

Von einem mehr oder minder grossen Teil dieser Tätigkeiten haben wir den Eindruck, dass sie in unsere Willkür gegeben sind, dass wir sie vorausplanen und nach einem gewissen Belieben vollziehen können. So ist der psychische Überbau (Wissen, Denken, Lernen, Planen) zunächst nichts anderes als eine Ausweitung dieser Selbststeuerung des Handelns. Sammeln und Horten zu späterem Verzehr, Anbauen und Ernten, Werkzeugmachen und -einsetzen, Erfahrungen vergleichen, Entscheiden, Organisieren, Führen sind die prominentesten Beispiele der grundlegendsten Form von Arbeit.

All dies möchte ich unter dem Ausdruck Subsistenzarbeit zusammenfassen, sofern ihr Zweck in der Bedürfnisbefriedigung gewissermessen im eigenen Auftrag liegt.

 

2.1.2 Fremdauftrag: die Bedeutung der Arbeit für die Vergesellschaftung

Das meiste dieser Arbeit weist allerdings bereits über das sich selbst bestimmende Individuum hinaus. Denn Arbeit ist zusätzlich zu den biologisch

angelegten Beziehungs-, Bindungs- und Abweisungsmechanismen - ein Gesellungsfaktor per excellence. Es besteht ein fliessender Übergang zu Arbeit im Fremdauftrag.

Im häufigsten Fall von Arbeit in der kleinen Gruppe der sich direkt gegenseitig beeinflussenden Menschen (Primärgruppe, Familie, Haus- oder Dorfgemeinschaft, Produktionsgemeinschaft) sind Selbstauftrag und Fremdauftrag mehr oder weniger wechselseitig, wenngleich in Abhängigkeit von Faktoren wie Fähigkeiten, Fertigkeiten, Alter, Geschlecht, Ansehen, Position und Macht häufig asymmetrisch, manchmal nach Situationen und auch im Lebenslauf wechselnd.

Doch stellen wir nicht selten beim Fortschreiten der Vergesellschaftung fest, dass sich solche Asymmetrien des Austauschverhältnisses verfestigen und verallgemeinern. Der Selbstauftrag wird dann, vielleicht nur in gewissen Lebensbereichen, vielleicht fast zur Gänze, vom Fremdauftrag überlagert. Und auch in der elementaren Bedürfnisbefriedigung, im Extremfall in seiner vitalen Existenz, ist der Arbeitende von andern, von Mächtigeren abhängig. In seiner gemilderten Form gewährt der Herr dem Knecht über die Subsistenz hinaus einen gewissen Spielraum; aber entscheidend ist, dass die Subsistenz des Herrn, und oft darüber hinaus auch sein Luxus, durch die Arbeit des Knechts geleistet wird. Wir können diesen Typus der Arbeit im Hinblick auf seine extreme Form die «Sklavenarbeit» nennen. Aber es ist wichtig, nicht zu vergessen, dass der Herr nicht zwingend ein Individuum sein muss, sondern auch als Kollektiv, ja sogar als eine Verfassung auftreten kann; wenn uns die Nation unter die Fahnen ruft, werden wir wesentlich zu Sklaven im Dienste eben der Nation. «Sklavenarbeit» meint Arbeit, die zur Hauptsache der Existenz eines Dritten dient und nur nebenbei der Existenz des Arbeitenden.

 

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2.2 Arbeitszweck

2.2.1 Bedürtnisbefriedigung: Erarbeiten des Lebensunterhalts

Nun haben wir bisher von der selbst- und fremdbestimmten Arbeit zum Zwecke der Bedürfnisbefriedigung gesprochen. Und die Frage stellt sich, was es mit dem erwähnten Freiraum beim unvollständigen Fremdauftrag auf sich hat. Mehr noch, warum viele Menschen (nicht alle!) auch im Selbstauftrag weiterarbeiten, wenn ihre Grundbedürfnisse eigentlich befriedigt sind. Was beim Fremdauftrag infolge der wahrscheinlichen Konsequenzen für die Vitalexistenz ohne weiteres einleuchtet, bedarf beim Selbstauftrag einer besonderen Begründung. Und so wird offensichtlich, dass nicht alle Arbeit durch Begriffe vom Typus «Bedürfnis», also aus internen Bedingungen, erklärt werden kann. Wenn wir nicht annehmen wollen, alle diese für die Vitalexistenz überflüssige Arbeit sei in Wirklichkeit zwecklos, also im wesentlichen entweder simple Leerlaufaktivität oder im günstigen Fall eine Form von Spiel, so brauchen wir mindestens eine zweite Klasse von exhärenten Zwecken der Arbeit.

 

2.2.2 Selbstverwirklichung: Gewinn einer persönlichen und sozialen Identität

Ohne den Anspruch zu erheben, damit alle wesentlichen Züge eingefangen zu haben, fasse ich diese über die Befriedigung der Vitalbedürfnisse hinausgehenden Zwecke der Arbeit im Ausdruck «Selbstverwirklichung» zusammen. Gemeint ist etwas über die Subsistenz des Tätigen Hinausgehendes, das erst zu verwirklichen ansteht. Vielleicht wäre ein Terminus wie «Identitätsgewinn» vorsichtiger. Es geht im Unterschied zum Bedürfnisbefriedigungszweck, der im Kern den Gewinn des Lebensunterhaltes meint und damit materiellen Charakter hat, um etwas Ideelles. Identität verweist auf die Identifizierbarkeit des Menschen, seine Einmaligkeit, auf die innere Rechtfertigung seiner Existenz als Person. Der Ausdruck «Selbstverwirklichung» trifft jedoch, wie wir sehen werden, ein für die aktuelle Arbeitswelt entscheidendes Merkmal.

Identität ist etwas Doppelgesichtiges: wir erleben sie heute primär als unsere eigene Einmaligkeit, also als etwas Persönliches. Nähere Analyse zeigt, dass dies undenkbar ist ohne die soziale Identität, nämlich wie uns die Andern verstehen, und das ist zunächst als Mitglied einer Gruppe.

Der Grundgedanke ist der, dass mit der Inanspruchnahme von bestimmter Subsistenzarbeit und mehr noch mit der Annahme des Fremdauftrags Arbeitsteiligkeit entsteht und mithin die Arbeit zu einem wesentlichen Träger eines sozialen Beziehungsgeflechts wird, welches das Zusammenleben der Menschen bestimmt. Dabei gewinnt jeder Einzelne nicht nur eine persönliche Identität, indem er sich selbst als die Gesamtheit der von ihm ausführbaren Tätigkeiten erfährt; mehr noch eine soziale Identität, indem er von den Andern als derjenige verstanden wird, der dies und jenes kann oder nicht kann; indem er damit rechnen kann, dass er von den Andern in einer ganz bestimmten Weise gebraucht wird; indem er also eine Rechtfertigung seiner eigenen Existenz gewinnt. Damit wird Arbeit zu einem entscheidenden Motor nicht nur der Vergesellschaftung, sondern auch zum Angelpunkt der sozialen und der persönlichen Existenz jedes erwachsenen Menschen, eben seiner Identität und nicht mehr nur der vitalen Existenz.

Solche Bedeutungsakzentuierungen der Arbeit sind in vielen Kulturen in der einen oder andern Weise erfolgt; aber soziale Identität kann schon mit der Zugehörigkeit zu einer Gruppe, einer Verwandtschaft, einem Haus, einer Altersstufe gewonnen sein, während die persönliche Identität in manchen Kulturen eine geringere Rolle spielt. Die persönliche Selbstverwirklichung ist aber in unserer Zivilisation fast zur Gänze an Arbeit gebunden.

 

Intermezzo: Zwei Ströme der Aufklärung: Spezialisierung und Individualisierung.

In unserer Zivilisation hat Arbeit im Selbstverwirklichungszweck, wie mir scheint, aus zwei Gründen ein besonderes Gewicht erlangt. Einmal sind in der Antike und erneut seit dem Mittelalter technische Erfindungen in einer Vielfalt und Differenziertheit erfolgt, welche das Ausmass der Arbeitsteiligkeit zunehmend hochgetrieben und heute ein einzigartiges Spezialisierungsniveau hervorgebracht haben, welches gelegentlich so weit geht, dass infolge der Vielfalt der Möglichkeiten ein sozialer Identitätsverlust resultiert («was macht der eigentlich?»).

Zweitens ist unsere Zivilisation durch eine ebenfalls aussergewöhnliche Tendenz zur Individualisierung gekennzeichnet, indem sie jedem Individuum gewissermessen aufträgt, in seinem und der Allgemeinheit Interesse ein Maximum an Entfaltung anzustreben. Die Verwirklichung des eigenen Potentials soll (idealerweise) nur an demselben Selbstverwirklichungsstreben des Andern seine Grenze finden. Es ist dies der «Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit» (Kant).

Das Stichwort für beide Entwicklungen, die technische wie die anthropologische, ist also: «Aufklärung». Und die politische wie die industrielle Revolution des vorletzten und des letzten Jahrhunderts sind ihre sichtbarsten Manifestationen. Die Ideen- und Handlungsströme von Vernunft, Wissenschaft einerseits und von Menschenwürde und Gleichheit anderseits begegnen sich im Glauben an die Machbarkeit des Paradieses. Dazu ist unsere Zivilisation ja aufgebrochen.

Dass das alles eng mit der Produktion von Überschuss über das Subsistenz-Minimum der Beteiligten hinaus zu tun hat, ist offensichtlich und braucht hier nicht weiter erörtert zu werden. Erwähnenswert ist immerhin, dass sich die Gelehrten darüber streiten, ob das Selbstverwirklichungsstreben eine Voraussetzung oder eine Folge des erarbeiteten Überschusses darstelle. Ich neige dazu, es primär als eine Folge zu sehen, weil in den nichttechnisierten Gesellschaften in der Regel die soziale gegenüber der personalen Identität ein deutliches Übergewicht aufweist, also nach G.H.Mead das «Me» über das «I» dominiert. Wichtig ist, dass sich die technisch bedingte Spezialisierung mit ihrer Vervielfältigung der Entfaltungsmöglichkeiten und die persönliche Entfaltungsideologie mit ihrem ständigen Antrieb zum Finden und Schaffen von immer neuen Spezialisierungsnischen gegenseitig aufschaukeln.

 

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2.3 Arbeitstypen

Damit sind wir bereit, eine Arbeitstypologie in Form einer idealisierten Geschichte der Arbeitstypen zu skizzieren. In der Realität fliessen die Typen ineinander; insbesondere werden die früheren durch die späteren Typen nie vollständig abgelöst, sondern sie weiten sie nur aus (vgl. Tafel 2).

 

2. 3.1 Subsistenzarbeit: im Eigenauftrag erarbeiteter Lebensunterhalt

Als Ausgangspunkt können wir wie gesagt die Subsistenzarbeit nehmen. Natürlich kommt Subsistenzarbeit allein real nicht vor; auch schon bei vielen in Gruppen lebenden Tierarten sind Nahrungssuche und Sozialbezug eng verkoppelt. Über das relative Gewicht und die Art und Weise des Zusammenwirkens von internen und externen Bedingungen beim Prozess der Vergesellschaflung in der Urgesellschaft können wir also nur spekulieren. Am wahrscheinlichsten ist eine vielfältige Rückkoppelung zwischen internen Faktoren wie sozialen Bindungsmechanismen und extern-situativen Effektverstärkern wie erfolgreichen Aufgabenteilungen und gewinnbringenden Spezialisierungen.

 

Tafel 2: Eine Arbeitstypologie

Arbeitstypen
Zweck

Auftraggeber

Bedürfnisbefriedigung

Selbstverwirklichung

Selbst

I Subsistenzarbeit

IV «Schattenarbeit»

Andere

II «Sklavenarbeit»

III Erwerbsarbeit

  

2.3.2 «Sklavenarbeit»: in Fremdauftrag und -nutzen gewonnener Lebensunterhalt

Und damit kommt es zu Lebensformen, in denen ständische Rollenmuster (Bauern, Krieger, Denker und ähnliche) beginnen, die sozialen Identitäten, die durch Sippenzugehörigkeiten, Lebensorte und dergleichen vorgegeben sind, zu ergänzen und zu verstärken. Die ständische Welt bildet sich heraus. Immer noch ist die Arbeitsteilung aufs engste mit der Vitalsicherung (Ernährung und Sicherheit) verbunden; aber im Unterschied zu den Knechten oder Sklaven beginnen die Oberschichten nun dank der fast nur ihnen verfügbaren Überschüsse damit, persönliche Identitäten zu entwickeln, insbesondere die Feudalherren und interessanterweise zunächst auch ihre Damen. Offen ist für mich die Frage, ob für Gruppen wie Geistlichkeit, Ritterschaft, Beamtentum und andere eher die zwischenberufliche Differenzierung oder eher die ständischen Zugehörigkeiten zur Festigung beigetragen haben.

Für die Intragruppen-Differenzierung, also die Herausbildung der persönlichen Identitäten auch in den Mittel- oder Bürgerschichten, ist aber jedenfalls ein wichtiger Faktor in der beruflichen Kompetenz zu sehen. «Giselbertus hoc fecit» steht am Tympanon der Kathedrale zu Autun; die Zunftmeister, die Dichter und die Wissenschaftler bekommen Namen; ihre personale Existenz überdauert die vitale. Zugleich beginnt die interpersonale Konkurrenz im Feld der Arbeit. Und damit ist der Bedeutungsgehalt der Arbeit erweitert, zur Bedürfnisbefriedigung tritt die Selbstverwirklichung durch Arbeit.

 

2.3.3 Erwerbsarbeit: die Anstellung in der arbeitsteiliger Gesellschaff

Natürlich hört die Funktion der Vitalsicherung nicht auf. Aber immer mehr ist nur noch der jemand, der sich durch eine bestimmte Arbeit und Leistung ausweisen kann. Standeszugehörigkeit sichert zwar noch in Einzelfällen bis ins 20. Jahrhundert die Existenz und die Identität; aber die wirklichen Chancen liegen in der eigenen Leistung. Die Madame de Meuron zugeschriebene Frage an einen jungen Mann: «Sit dir öpper oder nähmet dir Gäld?» bezieht ihren Witz aus der Verkehrung der Verhältnisse ins vergangene Gegenteil. Und es ist klar, dass Geld, Transport, Schrift, Bildung und andere Errungenschaften zur Ausbreitung der Erwerbsarbeit beigetragen haben.

Die Arbeitswelt, wie wir sie heute kennen, ist also eine erstaunlich späte Errungenschaft, wenngleich mit vielen Vorläufern. Ihre Blütezeit beginnt erst mit der industriellen Revolution, also vor kaum mehr als 150 Jahren; das sollten wir uns immer vor Augen halten. Die hohe Zeit dieser Arbeitswelt mit ihrer fast nebenbei erbrachten Erfüllung der Subsistenzfunktion für fast alle Angehörigen der nationalen Volkswirtschaften der hochindustrialisierten Länder und mit ihrer gebannten Konzentration auf die Identitätszwecke ist sogar weitgehend ein Kind unseres Jahrhunderts.

In meinem Schema heisst dieser Typus «Erwerbsarbeit»; andere Bezeichnungen wären «Lohnarbeit» (sogar der Unternehmer wird als Manager ein Lohnarbeiter), «formelle Arbeit». Im Agrar- und Industriesektor ist sicher die Nähe zur Subsistenz ausgeprägter.

Die Bedeutung dieser Arbeit für den persönlichen Identitätsgewinn wird aber schon deutlich erkennbar in Erscheinungen wie Bürokratie oder Vertriebsorganisation im industriellen Sektor, und sie kommt voll zum Zuge im Tertiärsektor.

 

Intermezzo: Persönlichkeitsformung oder die Objektivierung der Person

Die fremdbestimmte Arbeit im Selbstverwirklichungszweck möchte ich mit einer These charakterisieren, die von verschiedenen Arbeitspsychologen in unterschiedlicher Weise formuliert worden ist und die sich durch vielfältige Forschungsergebnisse plausibel machen lässt. Ihre schärfste Formulierung fand sie wohl bisher bei Rubinstein (1977, S.707f.): «In der Arbeitstätigkeit wird nicht nur ein bestimmtes Produkt der Arbeitstätigkeit des Subjektes erzeugt, sondern dieses selbst wird in der Arbeit geformt.» Also nicht nur Objekte werden durch die Arbeit gemacht, sondern auch die arbeitenden Subjekte selber, die offensichtlich dadurch zu Objekten der Arbeit werden.

Für eine Arbeitspsychologie, der diese These nicht nur als eine Beschreibung der Realität, sondern als eine Aufforderung zum Handeln gilt, schliesst sich die Frage nach konkreten Zusammenhängen zwischen Arten von Arbeitstätigkeiten und Arten von Persönlichkeitsformungen an. Wenn es gelingen sollte, Kriterien wie Schädigungsfreiheit, Zumutbarkeit, Persönlichkeitsförderlichkeit und ähnliches mehr mit bestimmten Arbeitstätigkeiten in ausreichender Stringenz in Verbindung zu bringen, so liessen sich ohne Zweifel bedeutsame Rückfolgerungen auf die menschgerechte Gestaltung der Arbeit ableiten. Die beachtlichen, wenngleich in Relation zum gesamten Geschehen doch schwachen, erreichten Erfolge der etwa unter dem Stichwort «Humanisierung der Arbeitswelt» laufenden Programme stehen hier nicht zur Diskussion. Auch mit der Bemerkung, dass diese Bemühungen ihrerseits das Risiko eingehen, zu einem schlichten Bestandteil dieser Arbeitswelt zu werden, möchte ich die Arbeitspsychologie nicht abwerten, sondern allenfalls relativieren. Für Einzelheiten verweise ich auf die Arbeiten von Hacker, Ulich und andern.

Aber kehren wir zurück zur Typologie. Wir kommen später noch einmal auf die Arbeitswelt mit Dominanz der Erwerbsarbeit zu sprechen.

 

2.3.4 «Schattenarbeit»: Tätigsein aus Eigeninitiative

Mit der Ausbreitung der Erwerbsarbeit kommt allmählich ein weiterer Bedeutungswandel der Arbeit zustande. Was wegen seiner Selbstverständlichkeit im Alltag oft gar nicht als Arbeit erlebt wurde, wird allmählich zu weiteren Formen der Arbeit. Denn, um einige Beispiele zu nennen, die verschiedensten Tätigkeiten im Haus (Kochen, Putzen, Krankenpflege, Kindererziehung), ums Haus und in der Nachbarschaft (Gartenarbeit, Tierpflege, Bauhilfe, Sozialhilfe) und in einem weiteren Kreis von Gemeinde und Vereinigung (Wegbau und -unterhalt, Bach- und Geländesicherung, Organisation von Festen und viel anderes mehr) treten nun in Konkurrenz mit den entsprechenden professionalisierten Tätigkeiten und werden teils von den Fachleuten übernommen, teils abgewehrt.

Wohl dienen alle diese Tätigkeiten im Alltag immer noch der Subsistenzsicherung und selbstverständlich tragen sie auch zur (sozialen und personalen) Identitätspflege im kleinen Kreis bei. Für die Selbstverwirklichung, also die Gewinnung der personalen Identität von grösserem Gewicht, werden sie aber aus zwei Gründen von problematischem Wert: einmal stellt sich die Kompetenzfrage: können diejenigen, die das alles beruflich machen, es nicht viel besser? Und zweitens die Remunerationsfrage: wenn dafür keine Entlöhnung zu bekommen ist, muss es sich dann nicht um eine mindere Tätigkeit handeln, die sich nicht eigentlich lohnt?

Weite Teile dieser Entwicklung können in engem Zusammenhang mit der Geschlechtsrollendifferenzierung gesehen werden. Da die formelle Arbeit zum grössten Teil zur Domäne der Männer geworden ist, blieb die Arbeit im Schatten den Frauen überlassen. Aber es wäre irreführend, das Problem ausschliesslich als ein Geschlechtsrollenproblem zu sehen. Alles, was nicht ins Bruttosozialprodukt eingeht, ist nicht wirklich, weil auf keinem Papier. Lediglich die erfasste, versteuerte, planbare Lohn- und Erwerbsarbeit gilt als Arbeit. Alles andere hat den sinnvollen Namen «Schattenarbeit» gefunden. Was der Gärtner tut ist Arbeit; nicht aber dasselbe, wenn es der Hausbesitzer in seinem Garten tut. Die Haushälterin hat Arbeit; die Hausfrau «arbeitet» in Anführungszeichen. Krankenpflege im Spital wird von den Kassen vergütet, nicht aber die Hauspflege.

Wir sind damit in unserer al fresco Typengeschichte schon längst in der Gegenwart angelangt. Eine eigenartige Oszillation des Wertes der Schattenarbeit ist festzustellen. Am Beispiel der Kontroverse um den Hausfrauen/ohn möchte ich das illustrieren.

Die Einen stellen den Hausfrauenlohn als ökonomisch-politische Forderung auf. Das heisst, sie machen sich die Errungenschaften der formellen Erwerbsarbeit zu eigen und verfolgen das Ziel, dass die Arbeitswelt sich die Lebenswelt vollumfänglich erobere. Das ist folgerichtig und angesichts der grossen Identitätsgewinne, welche die Arbeitsteiligkeit direkt und indirekt durch das Geld und die damit verbundenen Konsummöglichkeiten gebracht hat, durchaus verständlich. Möglicherweise ist die Motivation zu dieser Haltung aber stark vom Eindruck der Ungerechtigkeit, vor allem der Ungleichheit der Möglichkeiten von Mann und Frau geprägt, und daher etwas kurzsichtig. Möglicherweise handelt es sich auch einfach um einen weiteren Versuch zur Ausweitung der Staatsquote, weil nur formelle Arbeit besteuerungsfähig ist. Jedenfalls sind aber die Einen bereit, eine noch weitergehendere Vermaterialisierung und Entfremdung der Lebenswelt in Kauf zu nehmen, ob welcher Andere erschrecken.

Denn Hausfrauenlohn bedeutet ja nicht nur eine Umsetzung der erbrachten Leistungen in Geldwert, sondern auch den Übergang vom Selbstauftrag zum Fremdauftrag, und damit einen weiteren Autonomieverlust. So kommt es, dass Andere versuchen, Schranken aufzurichten und sich gegen die Bezahlung von genuiner Selbstauftragsarbeit zu wehren. Durch Teilzeitarbeit, durch Verteilung der für die Subsistenz nötigen Lohnarbeit auf mehrere Personen, durch Einschränkung der Luxusbedürfnisse und anderes mehr wollen sie statt dessen den Raum der Arbeit im Selbstauftrag ausweiten oder zurückgewinnen. Sie suchen die Selbstverwirklichung nicht länger in einem immer extenaiveren Konsum, sondern im direkten Umgang mit Gleichgesinnten. Aussteiger gibt es in vielerlei Graden und mit vielerlei Motivationen; es mag auch viel Romantizismus und Ursprungssehnsucht mitschwingen. Was uns aber hier interessiert, ist die positive Wertung der Schattenarbeit. Die Abwehr gegen den Haustrauenlohn ist auch eine Abwehr gegen die immer weitergehende Ausdehnung der Arbeitswelt, ist ein Versuch, den ökonomischen Zwängen eine psychologische Barriere entgegenzuhalten.

Nun ist gewiss die Frage des Hausfrauenlohns nur ein kleines Beispiel; ich meine aber, es zeigt ins Zentrum dessen, was etwas beschönigend der «Missklang zwischen den Bürgern und der Wirtschaft» genannt worden ist. Es steckt ein gravierendes Problem dahinter, das ich nun auf dem Hintergrund meiner Arbeitstypologie konkretisieren möchte.

  Inhalt

3 Ausgewählte Fort-Schritte der Arbeitswelt

Kehren wir zurück zu der dritten Stufe, der Erwerbsarbeit. Sie ist die dominierende Form der Arbeit in unserer heutigen Arbeitswelt. Es versteht sich von selbst, dass diese Arbeitswelt das Produkt von vielerlei Bedingungen unserer gesamten Zivilisationsgeschichte darstellt. Meine Akzentsetzung auf die fremdbestimmte Selbstverwirklichung, also die psychologische Perspektive, ist von den Bedingungen her vermutlich nicht die wichtigste, jedenfalls nicht die, die man als den Motor dieser Zivilisationsgeschichte wird ausmachen können.

Anders ist es mit den Folgen. Was die Bürger mit dieser Wirtschaft machen, wie sie diesen Missklang aufzulösen versuchen, das hat nun sehr viel mit ihrer Psyche zu tun. Ich will dies anhand einiger ausgewählter Übergänge - Fort-Schritte - zu zeigen versuchen. Es handelt sich allesamt um Anzeichen von Schwierigkeiten, die dem einzelnen in der Arbeitswelt entstehen: Schwierigkeiten, welche insbesondere die mit der Erwerbsarbeit verfolgten Ziele der Selbstverwirklichung gefährden, ja in Frage stellen.

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3.1 Von Arbeit zu Arbeitslosigkeit

Meine erste Konkretisierung betrifft das sogenannte «Entschwinden der Arbeitswelt», das von Hannah Arendt schon in den fünfziger Jahren aufgezeigt worden ist. Für jeden zehnten arbeitsfähigen Bürger der meisten Industrienationen ist heute ein Alptraum, was von Utopisten und Sozialtheoretikern früherer Jahrhunderte als Wunschtraum und Zielsetzung für die Macher der Realität beschrieben wurde, nämlich die Freiheit von der Arbeit oder die Arbeitslosigkeit. Pikant wenn nicht frivol ist die Tatsache, dass die neun andern der zehn mit Worten den Utopisten zustimmen, dennoch sich tätig zu Krankheit und Tod rackern und genau dann vital das Fürchten spüren, wenn ihnen selbst Arbeitslosigkeit droht.

Mit leichter Hand liess sich früher am Schreibtisch behaupten, «in einem rationell geplanten, den technischen Möglichkeiten entsprechenden Produktions- und Verteilungssystem ... werde der Anteil des Menschen im Produktionsprozess fortschreitend bis auf wenige Stunden am Tag vermindert werden können» (Friedmann 1953). Heute müssen wir eingestehen, dass die ungleiche Verteilung seit Jahren eine Realität ist, und der Zielsetzung derer, die einst auszogen, das grösste Glück für die grösste Zahl herzustellen, Hohn spottet. Dass wir das Glück haben, in einem Land zu leben, das bisher grössere Ungleichheit vermeiden konnte, sollte uns nicht nur mit Genugtuung, sondern auch mit Sorge erfüllen.

Erwarten Sie von mir aber nun weder Erklärungen noch Lösungen des Problems. Ich möchte nur anhand einiger Befunde und Überlegungen die Bedeutung von Arbeit und Arbeitslosigkeit für die Identität oder die Selbstverwirklichung zu beleuchten versuchen.

 

3. 1.1 Ein Bild der Arbeitslosigkeit

Die Arbeitslosigkeit trifft die Menschen hart und fast so willkürlich, mit einer ähnlichen Mischung von Schicksals- und Schuldhaftigkeit, wie Krankheit oder Tod. Brenke und Peter haben 1985 eine Studie über die Arbeitslosigkeit im Meinungsbild der (bundesdeutschen) Bevölkerung publiziert. In einer Umfrage wurden die mutmasslichen Ursachen von und die besten Massnahmen gegen Arbeitslosigkeit bei den Arbeitslosen und Arbeitenden selber erhoben. Wie zu erwarten war, spiegeln diese Meinungen ungefähr die Ratlosigkeit der Experten leicht verzerrt wieder.

Es dominieren in den Aussagen der Arbeitslosen weit entfernte, anonyme Faktoren oder Sündenböcke wie die Technologieentwicklung, die Rationalisierung, das politische System, die Fremdarbeiter: das ist alles weit entfernt vom Einzelfall und seinen konkreten Lebensbedingungen. Kein Wunder denn, dass die individuellen Deutungen, die nicht ausgesprochen werden können, sondern sich in Verhalten oder Stimmung oder Krankheit äussern, ihren Ursprung mehr in der Person als in den äusseren Bedingungen haben. Der typische Arbeitslose resigniert nämlich meistens, bis hin zu unerklärlichen Schuldgefühlen; vor allem zieht er sich aus seinem weiteren sozialen Kreis zurück und verschärft damit das Problem.

Die üblichen Massnahmen können materiell als human bezeichnet werden; für die Wahrung und Sicherung der persönlichen Identität, also ideell, sind sie aber zum Teil eher verheerend. Die finanzielle Unterstützung verstärkt die Schuldgefühle und nimmt noch mehr Identität weg. Die Schulungsangebote setzen, soll sie der Betroffene annehmen, das Aufgeben von Teilen der bisherigen Identität voraus.

 

3.1.2 Identitätsverlust als Folge

Wer arbeitslos wird, «dem sagt der Markt, dass seine Qualifikation nicht mehr benötigt wird», formuliert Kurt Biedenkopf (1985, S.340) in aller Härte und fügt ein Programm erhöhter Mobilität bei: «Deshalb muss er eine neue Qualifikation erwerben.» Er stellt immerhin fest, dass der Mensch es anders wahrnimmt, dass der Betroffene sich nämlich als Person ausgestossen fühlt, nicht als Qualifikationsbündel. Wirklich, wäre die Arbeit ein Rock, den man überstülpt und nach Bedarf und Laune wechselt, hätte der Politiker recht. Der Mensch hat aber seinen Identitätsentwurf in seinen Beruf hineingegeben, hat viele Jahre seines Lebens auf die entsprechende Ausbildung verwandt und hat während Jahren die Erfahrung gemacht, dass er in einem weiten Kreis seiner Bekannten als derjenige genommen wird, der er durch seine Arbeit geworden ist.

Diese Arbeitswelt kann so nicht andauern, wenn wir ihr gestatten, einem Zehntel und mehr der Menschen die Identität nach dem Belieben der Technologiefortschritte und den Launen des Marktes vorzuenthalten, wegzunehmen, umzuändern, neu zu verleihen. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass die Verteilung der schwindenden Arbeit in kürzeren Arbeitszeiten auf mehr Menschen die Probleme lösen würde; denn die erhöhte Mobilitätsforderung mit den erwähnten Folgen würde ja bleiben.

 

3.1.3 Von Vollzeit zu Teilzeit

Die verminderte Gesamtarbeitszeit könnte jedoch vollständig anders auf die Menschen verteilt werden, fährt der Zukunftstechnokrat in seinen Modellvorschlägen fort. Generelle Wochenarbeitszeitverkürzungen würden ja selbst bei Vermeidung von Lohnkürzungen nur gegen den Widerstand der Habenden erzwungen werden können; sie müssten also ihrerseits eine Vermehrung der auf die Menschen ausgeübten Zwänge bringen. Nur wenn für alle die Vitalexistenz gesichert wäre, könnte der Arbeitsmarkt die Funktion übernehmen, dem einzelnen ein differenziertes und nicht mit problematischen Folgen verbundenes Angebot an Identitätsgewinn-Chancen zu bieten. Warum soll derjenige zum Arbeiten genötigt werden, der es nicht will, und gerade dann, wann er es nicht will, fragt Biedenkopf. Überlegungen zur vorleistungslosen Vitalsicherung sind nicht völlig unrealistisch. Die gesamten Sozialabgaben und Versicherungsprämien machen in der Grössenordnung schon bald einmal fast noch einmal die gesamte Lohnsumme aus. In der Bundesrepublik scheinen ernsthafte Berechnungen darüber angestellt zu werden, ob es möglich wäre, jedem Einwohner das Recht auf ein existenzsicherndes Sozialgehalt von vielleicht 1000 Mark pro Monat zuzugestehen. Diese Abkoppelung des Sozialverhältnisses vom Arbeitsverhältnis - übrigens eine ehrwürdige Idee der frühen Utopisten - würde natürlich eine wesentlich flexiblere Führung der Arbeitswelt ermöglichen.

Zum Glück braucht uns diese Frage hier auch nicht weiter zu beschäftigen; sondern wir können uns mit der Feststellung begnügen, dass auch in dieser Utopie die Selbstverwirklichung nur bedingt mit der formellen Arbeit verbunden bleiben könnte. Der Schattenarbeit als selbstbestimmtem Identitätsgewinn wäre allerdings möglicherweise eine Chance geöffnet. Die offene Frage ist freilich, ob die unter diesen Umständen Arbeitenden die benötigte gesamte Sozialleistung unter allen Umständen zu erbringen imstande wären (vgl. Opielka und Vobruba 1986).

Die wachsende Inanspruchnahme von Teilzeitstellen, gleitender Arbeitszeit, verlängerten Urlauben usw. durch jene Arbeitnehmer, die es sich leisten können, macht jedoch deutlich, dass viele ihre Selbstverwirklichung nicht mehr in der formellen Erwerbsarbeit, sondern in Schattenarbeit suchen und finden. Sogar der mit dem höheren formalen Einkommen mögliche Konsum scheint hinter dem inneren Gewinn von kulturellen, sozialen oder simplen Hobbytätigkeiten für viele zurückzustehen. Die Arbeitsfreiheit ist gefragt, wenn der Identitätsgewinn anders als durch Erwerbsarbeit möglich ist.

Der Ausdruck «Schattenarbeit» gewinnt damit neue Bedeutungen weit über das Wirtschaftliche hinaus. Die positiven Aspekte eines «Lebens im Schatten» des grellen Lichts hektischer Betriebsamkeit werden von einer zunehmenden Zahl von Menschen gesehen und gesucht. Ein Bedeutungswandel des Begriffs «Schattendasein» ist vorprogrammiert.

 

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3.2 Technologiefortschritt

Nun einige Überlegungen zu der vermutlich zentralen strukturellen Bedingung des Schwindens der Arbeitswelt, nämlich dem technologischen Fortschritt. Vereinfachend gesagt wird ein zunehmend grösserer Teil der Arbeit von Automaten und Robotern übernommen. Wir sollten uns nicht täuschen über die Tatsache, dass die heutige Computertechnik in fast jeder Hinsicht mit einer Steinzeittechnik verglichen werden muss. Schätzungen besagen, dass wir heute einige wenige Prozent der Leistungen sehen können, die diese Maschinen in ihrem vollen Entwicklungstand erbringen werden. Wir sollten uns auch nicht vom Streit blenden lassen, ob die Mikrotechnologie mehr Arbeitsplätze schafft oder wegrationalisiert. So wichtig jeweils in kurz- und mittelfristigen Planungen die Antwort sein mag, so unwesentlich erscheint sie mir langfristig, weil die qualitativen Wirkungen bei weitem massiver sein werden. Ich möchte drei Entwicklungen ausmachen, die mit dem technologiebedingten Verfehlen des Identitätsgewinns der betroffenen Menschen zu tun haben.

Die erste, quantitative, die mutmassliche Erhöhung der Arbeitslosenrate, die ebenfalls in die qualitative Auswirkung ungleicher Verteilung umschlagen kann, habe ich schon diskutiert. Ich komme noch auf den Einwand zurück, die Technologierevolution schaffe mehr als genug neue Arbeitsplätze.

 

3.2.1 Der Roboter kann gleiches und mehr!

Die zweite Folge der Computerrevolution hat mit dem Kompetenzvergleich zwischen Roboter und Mensch zu tun, ist also qualitativer Art. Als Psychologe mit etlicher Computererfahrung kann ich nach einer langen Auseinandersetzung mit der Frage der sogenannten «Künstlichen Intelligenz» mit Bestimmtheit sagen, dass es falsch ist, die «intelligenten» Leistungen von Maschinen mit denjenigen von Menschen gleichzusetzen (vgl. Lang 1986).

Fatalerweise wird uns aber die vermehrte Anwendung dieser Maschinen fast sicher dazu führen, unser Bild vom Menschen noch stärker als bisher nach demjenigen der Maschinen zu bilden. Die oben angesprochene Dialektik von Subjekt und Objekt in der Arbeitstätigkeit hat es in sich. Obwohl der Satz vom Sich-untertan-Machen der Erde wohl auch einschliessen würde, dass der Mensch Herr über seine Konstruktionen bliebe.

Praktisch wird die Entwicklung darauf hinauslaufen, dass eine immer grössere Zahl von Arbeitenden feststellen muss, dass sie nur aus Kostengründen vorderhand noch nicht durch einen Roboter ersetzt worden sind. Zweifellos eine für die in der Arbeit gesuchte Selbstverwirklichung wenig erfreuliche Feststellung! Und früher oder später kommt natürlich der Zeitpunkt X, und unsere Überlegungen münden in die Schlaufe über Arbeitslosigkeit zurück. Man wird einwenden, dass schliesslich diese Roboter auch gebaut und programmiert werden müssen; und auch die computerunterstützte Erfindung dessen, was sie produzieren können, beansprucht noch einige Arbeitsplätze. Das ist nicht von der Hand zu weisen; unbefriedigend und jedenfalls im Widerspruch zur Idee der sozialen Gerechtigkeit ist aber die Aufspaltung der Menschheit in verhältnismässig wenige kreativ Produzierende und verhältnismässig viele Konsumierende. Womit die Selbstverwirklichung durch Erwerbsarbeit einmal mehr kein akzeptables Ziel darstellt.

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3.2.2 Die Verdichtung der Zwänge

Als vielleicht ebensosehr oder noch mehr belastend muss die dritte Folge der Computerrevolution bewertet werden. Hier geht es um die durch die Informationstechnologie ermöglichte Verdichtung der Kommunikation und Erleichterung der Monopolisierung von Information. Unter dem Stichwort «Datenschutz» wird heute ein bestimmter Aspekt davon diskutiert; über den weiten Rest gibt man sich selten Rechenschaft.

 

Intermezzo: Expertensysteme zum Beispiel

Ich greife aus diesem Komplex das aktuelle Stichwort «Expertensysteme» heraus. Ein Expertensystem ist ein im Computer funktionierendes Verfahren, welches den oder die Experten ersetzen soll. Experten wiederum sind Personen, welche zum Lösen von Aufgaben beigezogen werden, bei welchen angesichts der Vielfalt der Faktoren und Komponenten und der Komplexität der Zusammenhänge das Verständnis einer Sache (noch) nicht vollständig rational ist, mit andern Worten (noch) nicht automatisiert werden kann. Der Experte kombiniert also viel (aber nicht vollständiges) Wissen mit Intuition, Urteil, mit kühnen aber plausiblen Sprüngen ins Unbekannte (im Idealfall auch mit Hausverstand). Im Expertensystem wird nun versucht, das Knowhow und die beste Intuition von mehreren (den besten!) Experten eines Gebietes in einen funktionstüchtigen Zusammenhang zu bringen.

Der Hausarzt tippt die Symptome seines Patienten in sein Terminal ein und bekommt nach dem neuesten Wissen Diagnosevorschläge oder Nachfragen nach weiteren kritischen Symptomen einschliesslich dem zurzeit bestmöglichen Behandlungsplan. Die Arbeit des Arztes wird nicht überflüssig, aber sie verliert schon weite Teile des ihr innewohnenden Reizes. Ähnlich geht es dem Advokaten, der zusehen muss, wie der Prozess von der Gegenpartei gewonnen wird, weil deren Expertensystem gerade eine Revision durchlaufen hat, während er noch auf die Nachlieferung wartet.

Dem Richter muss unbehaglich werden, wenn er ein Urteil fällen möchte, das dem Rat des Expertensystems widerspricht. Heute fordert der Widerspruch zwischen den Expertenmeinungen seine richterliche Kompetenz, eben sein «Urteil» heraus; ein Expertensystem hingegen bezieht seine Legitimation und seine Nützlichkeit ja gerade daraus, dass die inneren Widersprüche der Meinungen schon ausgebügelt worden sind, und dass sein Benutzer nur noch bedingt nachvollziehen kann, warum eine bestimmte Meinung vertreten, warum ein bestimmtes Vorgehen vorgeschlagen wird, und was für Alternativen mit welchen Folgen bestehen. Das Expertensystem überprüfen wollen ist für einen einzelnen eine sinnlose Zielsetzung, ähnlich absurd wie den Roboter in seiner Spezialität übertreffen wollen. Man wird vom Richter auch nicht erwarten können, dass er sich in selbstzerstörerischem Perfektionismus auf zwei Systeme abonniert.

Der Erzieher schliesslich hat zwar vielleicht die Wahl, den Ratschlag des ihm von der Obrigkeit bestellten Expertensystems nicht zu befolgen; aber wie lange er dem Druck der Eltern widerstehen kann, für deren Sprösslinge nur das Beste gut genug ist, bleibt ungewiss.

Ich habe das Bild jetzt sicher überzeichnet. Aber der unwiderlegbare Haken in dem Konzept ist die geballte Macht, welche man der Gruppe der weltbesten Kapazitäten, deren Wissen und Können in das Expertensystem inkorporiert ist, nicht absprechen kann, ohne Wissen und Können überhaupt in Frage zu stellen. Eine Arbeitswelt mit Expertensystemen entleert den Sinn der Arbeit für alle ausser für jene ganz wenigen, die für deren Programmierung und Erneuerung benötigt werden.

Und was für die genannten Akademiker beschrieben wurde gilt genau so für den Automechaniker, für den Disponenten im Verkehrssystem, für den Versicherungsvertreter, für den ... Ich wüsste nicht, welcher der qualifizierten Berufe von heute auszunehmen wäre.

Es ist dann ein bisschen wie heute schon im Hochleistungssport oder in der internationalen Oper. Die Selbstverwirklichung der wenigen Weltbesten fordert für hohe Ziele einen selbstzerstörerischen Preis; alle andern sind zum stellvertretenden Konsum verurteilt.

Eine solche Arbeitswelt haben wir nicht heute und nicht morgen. Aber sie kommt auf leisen Sohlen. Und jeder sichtbare Schritt wird die Zahl der Aussteiger vermehren. Die verbleibenden, wenn sie die auch ihnen selbst geltende Bedrohung verkraften können, werden darüber glücklich sein und ihre kreativen Anstrengungen verdoppeln, bis sie die Verdichtung der Zwänge, die ihr Handeln bestimmen, auch nicht mehr aushalten. Der Roboter nebenan kann die gleiche Arbeit besser, rascher, beständiger; eigene Kompetenz zu entwickeln ist sinnlos angesichts des Expertensystems, das auf weltweiter Koordination basiert. Diese Arbeitswelt erledigt sich selber.

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3.3 Von Produktion zu Destruktion

Einer solchen Vision könnte man mit einem Gegenargument begegnen: nämlich die fast unendliche Anpassungsfähigkeit des Menschen. Ist es denn nicht längst so, dass in der Industrie und mehr noch im Dienstleistungssektor ein grosser Teil der Erwerbstätigen Arbeiten ausführen, die genau dem entsprechen, was ich jetzt als Sinnverlust durch das Expertensystem für den qualifizierten Facharbeiter oder Akademiker beschrieben habe? Andere Personen, anstelle des Expertensystems, schreiben ihnen bis ins Detail vor, was sie zu tun haben; also keine Spur von der gesuchten Selbstverwirklichung.

Und dennoch tun sie es. Sie tun es gewiss einerseits im Zweckzusammenhang ihrer vitalen Existenz. Aber die meisten tun weit mehr, häufiger und intensiver, als dazu nötig wäre. Vermutlich eben im Zuge einer Hoffnung auf eine bessere ideelle Existenz, also im nie endenden Rennen um ihre Selbstverwirklichung. Bis hin zur Inkaufnahme von Gesundheitsschädigung, Persönlichkeitsverschleiss, Selbstzerstörung im Dienste des «Systems». Sie tun es trotz der Erfahrung, dass weite Teile ihres Arbeitstages damit ausgefüllt sind, die Mängel und Fehler der Arbeitsleistungen anderer zu beheben zu versuchen. Und sie tun es trotz Wissen um die Schädlichkeit ihres Tuns für das Ganze der Welt und der Menschheit. Sie passen sich den Umständen unmittelbar gekonnt an. Und natürlich kann Technologie prinzipiell beliebig viele neue Arbeitsplätze schaffen, solange die Ressourcen mithalten, solange die schädlichen Nebeneffekte aufgefangen werden, solange wir nicht im eigenen Mist ersticken.

Mit andern Worten, im Erleben der meisten Betroffenen erfährt der Technologiefortschritt durchaus in erster Linie eine positive Bewertung, und seine schädlichen Folgen für die Menschen scheinen von vielen als Preis für den Wohlstand nicht nur in Kauf genommen zu werden - jedenfalls solange nicht Arbeitslosigkeit droht -, sondern sogar recht erfolgreich kompensiert zu werden, beispielsweise durch Konsum, das heisst durch Verschiebung der ideellen Selbstverwirklichung ins Materielle. Das hat aber Folgen für die Welt!

Es ist hier nicht der Ort, die Zukunft des Ökosystems Mensch-Welt zu bedenken; aber es muss darauf hingewiesen werden, dass dessen Fortgang in entscheidender Weise davon bestimmt ist, wie wir unsere Arbeitswelt gestalten. Der Mensch ist nicht das Mass aller Dinge. Auch wenn man die Durchsetzung des Humanisierungsgedankens begrüsst und unterstützt, wird man eine baldige Überwindung des Anthropozentrismus im psychosozialen Bereich für unumgänglich halten. Ein «kopernikanisches» Menschenbild, also eine nicht-anthropozentrische Sicht des Menschen in der Welt, ist überfällig. Es ist nämlich nicht nur der Planet Erde einer unter vielen möglichen (das ist das kopernikanische Weltbild), sondern auch der Mensch nur eine und zudem eine verhältnismässig zufällige Art unter allen Arten. Eine der kopernikanischen Wende im physischen Weltbild analoge Zurechtrückung der Stellung des Menschen in der Welt steht aber noch aus. Sie ist zwingend, wenn man davon ausgeht, dass ein Platz für den Menschen in dieser Welt bestehen bleiben soll. Ich führe drei Begründungen an: die Grenzen der Ressourcenumsetzung, die heikle Stabilität der Ökosysteme, die destruktive Kraft des Konsums.

 

3.3.1 Grenzen der Ressourcenumsetzung

Spätestens seit den Berichten des Club of Rome oder seit Global 2000 wissen wir um die Endlichkeit der Ressourcen der Erde. Das wirkliche Problem ist aber nicht die Begrenztheit der Materialien oder der Energie; denn die Fülle ist enorm und sie würde für eine gigantisch grosse Menschheit ausreichen, wenn man die Substituierbarkeit berücksichtigt (beispielsweise Glasfaser für Kupfer; photovoltaische Energie für fossile Brennstoffe; industriell produzierte Nährstoffe anstelle von schmackhaftem Essen). Je intensiver die Arbeitswelt, desto rascher werden aber die Materialien und die Energie umgesetzt; und die Frage muss gestellt werden, inwieweit das die Welt «aushält». Das Argument, der Umweltschutz schaffe Arbeitsplätze, überzeugt nur kurzfristig; langfristig missachtet es die Problematik positiver Rückkoppelung in endlichen Systemen.

 

3.3.2 Heikle Biostabilität

Die Folgen intensiver Ressourcenumsetzung werden heute unter der Bezeichnung «Umweltzerstörung» eifrig diskutiert. Leider bringt es der erwähnte Anthropozentrismus mit sich, dass solche Diskussionen meist nur dann und zudem höchst punktuell in Gang kommen, wenn recht unmittelbare Bedrohungen der Anthroposphäre aufscheinen (zum Beispiel Luftverschmutzung, Waldsterben, Radioaktivität). Welch heikle Gebilde die Biosysteme eigentlich sind, versteckt sich aber hinter ihrer enormen Anpassungsfähigkeit.

Wieder ist es die Arbeitswelt, deren hauptsächlicher Zweck und Effekt darin besteht, gewissermessen die Mängel des Biosystems Mensch zu «reparieren». Das Ergebnis ist die Produktion der Zivilisation, einer grandiosen Prothese für das Lebewesen Mensch. Die Mängel der Prothesen mit weiteren Prothesen zu beheben versuchen, ist bereits eine Strategie, die nicht auf Dauer erfolgreich sein kann. Heute beobachten wir jedoch ihren Überschlag, indem sich eine Spezialisierung innerhalb der Arbeitswelt herausgebildet hat, die darauf aus ist, die Verbesserungsstrategie gewissermessen auf den Menschen selbst zurückzuwenden (beispielsweise Organtransplantation, Befruchtungstechniken, Genom-Manipulation). Es ist immerhin anzunehmen, dass die Welt stärker ist als der Mensch.

 

3.3.3 Destruktiver Konsum

Die Arbeitswelt ist, wie in unserer Typengeschichte ausgeführt wurde, als eine Übersteigerung des Produktionssystems für die Subsistenz entstanden. Wie die Agrarproduktion, hat auch die gewerbliche und die industrielle Produktion ihr notwendiges Gegenstück im Konsum. Nun ist es eine der faszinierendsten offenen Fragen, warum der Mensch mehr isst, als ihm guttut; und mehr noch, warum der Mensch eine analoge Konsumationssucht für die Anhäufung und die Zerstörung (den «Verzehr») von materiellen Gütern herausgebildet hat. Ich glaube nicht, dass die Ökonomie, die Soziologie oder gar die Psychologie dafür brauchbare Erklärungen bereithalten.

Man kann aber festhalten, dass die Entsprechung von Produktion und Konsum aus der Subsistenzwirtschaft in die Industrieund Dienstleistungsgesellschaft übernommen worden ist. Nichts beweist dies eindrücklicher als der Mann, der im Laufe einiger Jahre zehn Fahrräder, sechs Kronleuchter und ein Sportflugzeug, dieses allerdings flugunfähig, weil verkrümelt, aufgegessen haben soll: zum Zwecke der Selbstverwirklichung im Rahmen von Guiness' Buch der Rekorde.

Niemand wird freilich imstande sein, im konkreten Einzelfall die sinnvolle und die sinnleere Arbeit, den der persönlichen Existenz förderlichen und den ihr schädlichen Konsum voneinander zu scheiden. Ausser vielleicht jeder für sich selber.

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4 Schluss

Ich komme zum Schluss. Lässt sich der vorgeführte Flickenteppich von Fakten, Ideen und Spekulationen in vernünftiger Weise zusammenfassen?

Die Entwicklungen und die Deutungen der Arbeit sind fast so vielfältig wie die Arbeit selbst. Man muss also dem Bild seine eigene Perspektive aufprägen, für jeden zu lassen oder zu übernehmen: eben mein persönlicher Problem-Auf-Riss.

Ich sehe diese unsere Arbeitswelt ihrem Ende zugehen. Einige Anzeichen ihrer Schwierigkeiten habe ich skizziert und einige Wege zu ihrer Überwindung aufzuzeigen versucht. Wenn es uns gelingen sollte, ihre Errungenschaften - das erleichterte Leben - mit den ideellen Anliegen der Menschen als einzelne - die Würde der Person - wie auch als Gesellschaft - die Teilhabe an einer höheren Ordnung - zu versöhnen, so könnten wir noch einmal davonkommen. Positiv bewertete «Schattenarbeit» im Gleichgewicht mit der unvermeidlichen Menge von Erwerbsarbeit ist eine attraktive Perspektive.

Nicht übersehen sollte man aber die starken Kräfte, die auf eine Weiterführung des Amoklaufes der Menschheit hinwirken. Dann wäre, wie Max Frisch es kürzlich genannt hat, die Aufklärung an ihrem Ende, hätte sich selber zerstört, wäre in der Geschichte des Abendlandes und auch im Weltkreis eine Episode gewesen.

Oder, um es in der Terminologie der Arbeitspsychologie auszudrücken: wenn der tätige Mensch als Subjekt sich eine Welt als Objekt erarbeitet, die als Subjekt ihrerseits auf den Menschen als Objekt zurückwirkt, dann handelt es sich um ein geschlossenes Regelsystem; die positive Rückkoppelung lässt nichts Gutes ahnen. Und den Tyrannen oder die Monopol-Instanz, welche am Hebel der Sollwerte spielt, wollten wir ja eigentlich - gerade in der Aufklärung - vermeiden.

Meine persönliche Formel für diese nächst der Totalkatastrophe nicht ganz unwahrscheinliche Entwicklung ist die «Verameisung» des Menschen: mit technischen Hilfsmitteln analog den Instinkten lassen sich die Massen sehr wohl steuern. Diese übernehmen die Funktion der Instinkte im Sozialleben der sehr lebenstüchtigen Insekten. Allerdings erübrigt sich unter solchen Umständen eine persönliche Identität des einzelnen Mitgliedes der Gesellschaft. Viele Sozialutopisten waren vom Insektenstudium fasziniert; manche Massenphänomene der Gegenwart zeigen, dass so etwas funktioniert. Diese alternative Perspektive gibt mir die zweifelhafte Zuversicht, dass der Mensch als Art überleben kann, wenn auch unter Verlust seiner vornehmeren Seite. So sehr ich mich also für den Abbruch des Fortschritts einsetze, so sehr traure ich auch um den Verlust der damit verbundenen ideellen Errungenschaften.

Aber genug der übersteigerten Visionen keiner sinnvollen Zukunft dieser Arbeitswelt! Meine Kollegen werden Sie in den folgenden Vorträgen sicher auf den Boden der Realität zurückholen, den Sie alle kennen und gewohnt sind.

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Literatur

Biedenkopf, Kurt H., Die neue Sicht der Dinge - Plädoyer für eine freibeitliche winschafts- und Sozialordnung, München, Piper, 1985

Brenke, K. und Peter, M., Arbeitslosigkeit im Meinungsbild der Bevölkerung, in: Klipstein, M. und Strümpel, B. (Hrsg.), Gewandelte Werte erstarrte Strukturen: wie die Bürger Wirtschaft und Arbeit erleben, Bonn, Verlag Neue Gesellschaft, 1985, S. 87-1 27

Friedmann, Georges, Zukunft der Arbeit, 1953 (zitiert nach Ulich 1984)

Frisch, Max, Rede am 75. Gebunstag, 15. Mai 1986, übertragen vom Radio der Deutschen und Rätoromanischen Schweiz

Hacker, W., Allgemeine Arbeits- und Ingenieurpsychologie, Bern, Huber, 1978

Hall, Richard H., Dimensions of work, Beverly Hills, Sage, 1986

Lang, A., Der Griff des Binärsystems nach der Seele (Vortrag im Collegium generale vom 24. Februar 1986; Technische Rundschau, in Vorbereitung)

Opielka, M. und Vobruba, G., (Hrsg), Das garantierte Grundeinkommen, FischerTaschenbuch,1986

Rubinstein, S.L., Das Denken und die Wege seiner Efforschung, Berlin, VEB Deutscher Verlag der Wissenschatten, 1977

Terkel, Studs, Work, New York, Pantheon, 1974

Ulich, E., Zukunft der Arbeit, Technische Rundschau 76 (16) (1984) 1 -3

Ulich, E., Arbeitspsychologische Konzepte und neue Technologien, Organisationsentwicklung 3 (1984) 53-65

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