Alfred Lang

University of Bern, Switzerland

Unpublished Position Paper 1984

Notizen zu einer Allgemeinen Ökologie

1984.11

@EcoPersp

12,5 21KB Last revised 98.11.01

(Abschn. 1 und 2 im Anschluss an die Stellungnahme der phil.-hist.Fakultät i.Z. Allg.Ökologie/Motion Matter, Juli 1984, vorbereitet von Chr.Pfister, T.Weisskopf und A.Lang)

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1. Zum Problem einer "Allgemeinen Ökologie

2. Institutionelle Situation und Entwicklung

3. ÖkoIogische Perspektiven in der Psychologie


1. Zum Problem einer "Allgemeinen Ökologie

Die Tatsache, dass fast alle Wissenschaften zu Ökologischen Fragestellungen beitragen können, macht deutlich, dass es sich bei der Ökologie nicht um ein neues Fach, sondern um eine spezifische Betrachtungsweise handelt. Entscheidend ist die Entdeckung, dass viele einzelwissenschaftliche Erkenntnisse auch in übergeordneten Zusammenhängen gesehen werden müssen, und dies sowohl um der Güte der Erkenntnis wie um der Angemessenheit ihrer Anwendungen willen. Unter der Ökologischen Betrachtungsweise sind die Gegenstände der Wissenschaften nicht länger nur Einzelobjekte oder Einzelstrukturen, sondern sie bilden zugleich Systeme, in denen diese Einzelobjekte und -strukturen untereinander in Beziehung treten. Nach wie vor sind die verschiedenen Wissenschaften für die Begrifflichkeiten, die Beschreibungs- und Messverfahren, die Theorien ihrer Gegenstände zuständig; die ökologische Betrachtungsweise bringt diese aber zusätzlich in einen Systemzusammenhang ein, wodurch sie nicht nur neue Eigenschaften gewinnen, sondern wodurch auch neue Wirkungszusammenhänge in unter- und übergeordneten Systemen erkannt werden können. Ökologisches Denken kann auch dazu beitragen, die Begrenztheiten der Zugänge jeder einzelen Wissenschaft zu einem Gegenstandsbereich zu erkennen und zu revidieren.

Bis etwa um 1970 beschränkte sich der Begriff der Ökologie überwiegend auf die Untersuchung von Wechselwirkungen innerhalb von natürlichen Systemen und bezog sich demgemäss, von der Biologie ausgehend, auf naturwissenschaftliche Fächer. Obwohl ökologisches Denken seit den 20er Jahren verschiedentlich in den Sozialwissenschaften gepflegt worden ist (social ecology, ecological psychology, Kulturökologie usf.), wird erst seit kurzem allgemeiner anerkannt, dass psychische, soziale und kulturelle Systeme in den Begriff einbezogen werden müssen. Mit dem Begriff der Allgemeinen Ökologie sind also auch die Geistes- und Sozialwissenschaften angesprochen, die sich mit den wechselseitigen Wirkungszusammenhängen zwischen Menschen und ihren geistigen, sozialen, kulturellen und physischen Umwelten befassen: die Menschen schaffen Kultur, die Kultur "macht" Menschen.

Man darf wohl sagen, dass die neuere Allgemeine Ökologie ihren Sinn vornehmlich daraus bezieht, dass sie an prominenter Stelle der betrachteten Systeme die Menschen sieht. Wenn Geistes- und Sozialwissenschaftler Individuen oder Gruppen und deren Leistungen im Zusammenhang ihres sozialen und kulturellen Milieus untersuchen, sind sie im Prinzip immer schon ökologisch orientiert; allerdings kann der systemische Aspekt mehr oder weniger explizit durchgeführt werden. Während die ökologische Perspektive in einigen geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen noch kaum diskutiert wird, ist er in anderen Disziplinen schon lange (teils unter anderer Terminologie) selbstverständlich oder gewinnt zusehends an Gewicht.

 

2. Institutionelle Situation und Entwicklung

Für eine institutionelle Festschreibung der Allgemeinen Ökologie ist es sicher zu früh; das schliesst jedoch Einsicht in die Notwendigkeit von institutionellen Strukturen nicht aus, welche die Pflege der Anliegen der Allgemeinen Ökologie erleichtern und verbessern könnten. Denn abgesehen von den gesellschafts- und kulturpolitischen Anliegen ökologischen Denkens ist die Herausbildung einer Allgemeinen Ökologie in den letzten Jahren auch eine Reaktion auf die institutionelle Vereinzelung (Spezialisierung, Insularisierung) der verschiedenen Wissenschaften und auf die Schwierigkeiten, welche die Beschäftigung mit interdisziplinären Themen in den gegenwärtigen Universitätsstrukturen mit sich bringt (Finanzierung, Qualifizierung etc.)

Die Beschäftigung mit ökologischen Themen ist zunächst mindestens zwei Gefahren ausgesetzt, die bei allen Planungsbestrebungen besondere Beachtung verdienen:

a) Die übergrosse Komplexität der angepeilten Probleme kann leicht zu einem weitgehenden Verzicht auf Wissenschaftlichkeit führen; denn in der Regel ist ein so enormes Hintergrundswissen vorausgesetzt, dass jede einzelne Disziplin für sich schon überfordert ist. In der unumgänglichen Vulgarisierung werden dann fragwürdige Erkenntnisse manchmal umso bereitwilliger aufgenommen, als es um politisch brisante, kontroverse und dringende Entscheidungen geht.

b) Dass verschiedene "Sachwissenschaften" sich jetzt wieder vermehrt darüber klar werden, in welch hohem Mass ihre Erkenntnis und das darauf gestützte Handeln auf den Menschen bezogen sind, ist zweifellos zu begrüssen. Nicht selten werden aber in der einen Wissenschaft die "Räder", auf denen eine andere Wissenschaft schon lange "fährt", noch einmal neu erfunden. Dilettantismus in einer andern Wissenschaften ist menschlich begreiflich und vielleicht sogar für den Einzelnen befriedigend; aber er gefährdet die Idee der Interdisziplinarität und damit wohl auch der Allgemeinen Ökologie. Hoch erwünscht ist jedoch ist die Gesprächsfähigkeit mit den Kollegen aus dem anderen Fach.

Allgemeine Ökologie ist ein Generalisten-Interesse per excellence, das aber nur in engster Verbindung mit Spezialisten der verschiedensten Disziplinen angemessen betrieben werden kann. Die Natur der ökologischen Fragestellung schliesst aus, dass sie einer besonderen Institution als Auftrag übergeben werden kann. Besser als die Neugründung einer Institution mit einer bestimmten ökologierelevanten Zielsetzung scheint deshalb das Anstreben einer Art Forum, wo ökologisch Interessierte aus mehreren Wissenschaften ihre je verschiedenen Fragen und Antworten einbringen und integrieren können. Hier könnten nicht nur eine Bestandesaufnahme der drängenden Fragestellungen vorgenommen, sondern auch genaue Problemdefinitionen und mögliche Lösungsstrategien erarbeitet werden. Die Arbeit eines solchen Forums müsste sowohl auf die Anregung von Forschung in den einzelnen Disziplinen wie auch auf die Dokumentierung der Öffentlichkeit über die ökologischen (oder allgemein systemischen) Zusammenhänge angelegt sein.

Um die erforderliche Interdisziplinarität in angemessener Verbindung von einzelwissenschaftlicher Kompetenz und systemischer Integration zu sichern, müsste ein solches Forum jedoch über die nötige räumlich-administrative Infrastruktur und über die Möglichkeit verfügen, interessierten und kompetenten Personen aus der Universität und von ausserhalb die Konzentration auf ein interdisziplinäres Problem zu erleichtern. Nur so können solche Fragen mit der notwendigen Breite und Tiefe über längere Zeit verfolgt werden. Diese Voraussetzungen fehlen an der Berner Universität. (Beispiel: Zentrum für interdisziplinäre Forschung, ZiF, Univ. Bielefeld}

Auch den Studierenden wäre durch die aktive Teilnahme an einem solchen Forum wohl besser gedient als durch die Schaffung eines besonderen Ausbildungsganges für "Ökologie" ("ökologische" Diplom-Abschlüsse an amerikanischen Colleges scheinen auf dem Arbeitsmarkt chancenlos, weil den Absolventen eine besondere Fachkompetenz fehlt. Es ist zu prüfen, ob und auf welche Weise solche projektorientierten Studientätigkeiten zur Generalisten-Förderung in den Rahmen der Fachstudienpläne eingebaut werden könnten.

Die im Rahmen der Planung einer Rektoratskommission der Berner Uni für das "Haus der Universität" vorgeschlagenen "multidisziplinaren Arbeitsgemeinschaften" nehmen genau dieses Bedürfnis nach einem interdisziplinären Forum auf. So wie sie in der Projektskizze geplant wurden, sollen sie die Diskussion und Formulierung von interdisziplinären Fragestellungen, die Anregung von einschlägiger Forschung in den betroffenen Einzeldisziplinen und die Auswertung der entsprechenden Erkenntnisse im Dienst der Allgemeinheit ermöglichen. Da es auch interdisziplinäre Fragestellungen von gesellschaftlicher Relevanz gibt, die nur unter Ausweitung des Begriffs der Ökologie ins Unverbindliche so genannt werden können, sollte man die Konzentration der Kräfte auf das Projekt "Haus der Universität" der Schaffung einer neuen spezifisch ökologie-orientierten Institution entschieden vorziehen.

 

3. ÖkoIogische Perspektiven in der Psychologie

In mehreren Bereichen der Psychologie sind ökologisch orientierte Themen (teilweise ohne entsprechende Terminologie) seit langem in Bearbeitung, insbesondere in der Sozialpsychologie. Man denke etwa an Interaktion und Kommunikation oder Sprachentwicklung, im angewandten Bereich an die Arbeitspsychologie oder die Milieu-, Familientherapie u.dgl. Nach Vorläufern zu Beginn des Jahrhunderts und in den 30er/40er Jahren wurde der Bezug des Menschen zur physischen Umwelt seit etwa Mitte der 60er Jahre neu thematisisert und es hat sich in den USA, England, Skandinavien und mit etwas Verspätung im Deutschen Sprachraum die sog. Umweltpsychologie (environmental, architectural ps.) herausgebildet, vielerorts bereits in Form von Curricula und Abteilungen institutionalisiert. In Zusammenarbeit mit Disziplinen wie Geographie, Soziologie, Planung, Architektur, Medizin u.a. werden hier Umwelt-Optimierungen angestrebt, meist entweder im Rahmen von ad hoc Zielsetzungen oder generellen Weltverbesserungs-Ideologien (Human-orientierte Planung, Stadt, Quartier, Schule, Spital, Gefängnis, Verwaltungs etc. Gebäude, Gebäude-Evaluation, Spielplätze, Parkmanagement, Naturbeziehung, Umwelterziehung u.a.). An der Universität Bern gibt es seit 1973 Vorlesungen und Seminare in diesem Bereich und es sind bisher etliche Lizentiatsarbeiten, besonders über Wohnpsychologie, gemacht worden (vgl. auch LANG 1984, Hist.Wb.Philo., oder Film über Wohnpsychologie im Jubiläums-Videobus).

Es ist nicht zu übersehen, dass diese Umweltpsychologie sowohl an einem beträchtlichen Methoden- wie Theorie-Defizit leidet. Anwendungsbezogen dürfte man von der Umweltpsychologie ein vertieftes Verständnis von Mensch-Umwelt-Bezügen erwarten; man erschrickt jedoch ob der Beliebigkeit der Ansätze. Da ich einen gewissen Teil meiner Wissenschaftelegitimation (nach einer scharfen Kritik an der individualisierten Dienstleistungs-Psychologie wie Diagnostik, Psychotherapie) aus diesem alternativen Anwendungsfeld beziehe, bin ich an der Behebung solcher Mängel interessiert. Man sieht leicht, dass Umweltpsychologie einen exemplarischen Fall bzw. viele exemplarische Fälle des allgemeinen Ökologieproblems darstellt.

Wenn man den erwähnten Defiziten nachgebt, zeigt sich rasch ein fundamentales Begriffsproblem der Psychologie, nämlich dass sie von ihrem Ansatz her nicht ökologisch, sondern wie ihr kultureller Hintergrund, das europäisch-amerikanische Denken des 19. und 20. Jh. mechanistisch und "anthropozentristisch" ist. Dem entspricht, dass ihre Anwendungen im Gegensatz zu verbreiteter Ansicht ganz wesentlich von der Machbarkeitsgläubigkeit leben. Das bedeutet, dass die moderne Psychologie vermutlich wesentliche Aspekte des Menschen verfehlt. Die Psychologie zerfällt denn auch in zwei Teile, zwischen denen zu vermitteln wegen methodischer und grundbegrifflicher Diskrepanzen nicht gelingt: Persönlichkeits- und Differentialpsychologie versuchen das Handeln aus dem Menschen selbst zu erklären (Dispositionen, Psychologismus), die klassische Experimentalpsychologie hingegen aus Umweltreizen (SÐR, Physikalismus). Die erste verliert den Weltbezug, die zweite den Menschen; "verlieren" heisst im günstigsten Fall "ad hoc" Behandlung. Die Folgen liegen auf der Hand: der erste Ansatz erscheint dem Pragmatiker irrelevant, obwohl er den idealistischen Ideologen befriedigt; der zweite, obwohl sich der Pragmatiker darauf stützt, scheitert an der Realität "menschlicher Autonomie" (z.B. programmiertes Lernen, Verhaltenstherapie).

Sehr vereinfacht und plakativ gesagt, scheint mir eine Psychologie nötig, welche sich zum vornherein auf Mensch-Umwelt-Einheiten ausrichtet. Solche ökologischen Gebilde können wohl nur multidisziplinär beschrieben werden und setzen deshalb eine psychologische Begrifflickeit voraus, welche in subtiler Weise auf Begriffe und Methoden anderer Wissenschaften bezug nimmt, anstatt aus andern Wissenschaften Begriffe einfach zu übernehmen (z.E. Reiz, Reaktion, Organismus; vgl. dazu auch LANG: Remarks and questions concerning ecological boundaries in mentality and language. In: SEILER, H.J. (Ed.): Language invariants and mental operations. Tübingen, Narr, im Druck, 1985).

So hoffe ich, durch meine Arbeit an einer ökologischen Psychologie mein in erster Linie genuin grundlagenwissenschaftliches Interesse an der Allgemeinen Ökologie in groben Zügen begründet zu haben.

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