Alfred Lang | ||
Research Report 1982 | ||
Zum Problem der Gestaltungsqualität im Wohnbereich aus psychologischer Sicht | 1982.05 | |
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Strukturierungsstudie im Auftrag des Bundesamtes für Wohnungswesen (F-8071 - 1982) | © 1998 by Alfred Lang | |
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Wohnbaufachleute haben die Frage aufgeworfen, inwieweit sich die Qualität der Gestaltung von Bauten im Wohnbereich erfassen und beurteilen lassen.
Der Begriff der Gestaltung verweist auf die Variation der Eigenschaften von Bauten bei einem gegebenen Grad der Funktionserfüllung; dabei sind sowohl formale Eigenschaften der Gliederung, wie auch Eigenschaften des Sinngehalts von Bauten angesprochen. Mit dem Begriff der Qualität ist sowohl die Spielbreite solcher Variation (Gestaltungsunterschiede) wie auch die Güte der Baute im Hinblick auf Wertkriterien (Gestaltungsgüte) angesprochen.
Die Problematik der Gestaltungsqualität besteht zur Hauptsache darin, dass im Unterschied zur Funktionalität einer Baute sehr viel häufiger unterschiedliche Meinungen angetroffen werden. Es fehlen nicht nur allgemein akzeptierte Beschreibungsmittel für die Gestaltungsunterschiede, sondern es sind auch die möglichen Kriterien zur Beurteilung der Gestaltungsgüte ausserordentlich vielfältig und meist nicht expliziert.
Weitherum wird aber heute Unbehagen bzw. Unsicherheit über die Gestaltung von Neubauten und beim Umgang mit bestehender Bausubstanz empfunden.
Die Frage ist ins Blickfeld getreten in einer Reihe von Zusammenhängen, darunter besonders den folgenden:
* Ergänzung des Wohnungsbewertungssystems durch qualitative Kriterien* Hängige Forschungsgesuche bezüglich Beurteilung der Gestaltungsqualität
* Probleme bei der Raumplanung und bei der Sanierung von Altwohnungen und Quartieren
Die vorliegende Studie wurde durch solche Fragen ausgelöst. Ihr Zweck ist es, zu untersuchen, ob und gegebenenfalls in welcher Weise die Psychologie zur Klärung dieser Fragen beitragen kann. Bei der Gestaltungsqualität geht es um Eigenschaften, die nicht der Baute als solcher eigen sind, sondern immer erst durch die Wirkung der Bauten auf bestimmte Menschen in bestimmten gesellschaftlichen Kontexten zustandekommen. Es ist also Wahrnehmen und Handeln, Denken, Fühlen und Bewerten von Menschen impliziert, weshalb ist der Gesichtspunkt der Psychologie einzubeziehen ist.
Im besonderen soll die psychologische Fachliteratur daraufhin ausgewertet werden, ob sich aus den verfügbaren Kenntnissen über die Beziehung zwischen Mensch und gebauter Umwelt, zwischen Wohnung und Bewohner, Schlussfolgerungen ziehen lassen über die Gestaltungsqualität von Wohnbauten:
Ist es möglich das Problem der Gestaltungsqualität im Wohnbereich in einzelne Komponenten zu gliedern und welche Gesichtpunkte kommen dafür in Frage?
Was ist über die Mensch-Umwelt-Beziehung unter solchen Gesichtspunkten bekannt und welche Wechselwirkungen zwischen Baute und Mensch hat man unter welchen Bedingungen zu erwarten?
Ist es denkbar, solches Wissen konkret zu nutzen, beispielsweise im Rahmen des Wohnungs-Bewertungs-Systems des Bundesamtes für Wohnungswesen?
Zur Klärung dieser Fragen ist ein umfangreiches Material gesammelt und gesichtet worden. Es zeigte sich, dass der Stand des theoretischen Denkens in diesem Bereich noch sehr wenig entwickelt ist. Der Wandel der Gestaltungsprinzipien im Wohnungsbau und auch die Geschichte der Meinungsstreite über guten und schlechten Wohnungsbau machen deutlich, dass tragfähige und allgemeingültige Konzepte fehlen; diskussionsfähige Elemente dazu sind meistensteils auf planerische, ökonomische, hygienische und ästhetische Prinzipien beschränkt.
Es erweist sich aber als notwendig, die Wohnung und den Wohnbereich von der "Tätigkeit des Wohnens" her zu verstehen. Nur vom Verständnis der Einbettung des Wohnens in die psychosoziale Entwicklung des Menschen her kann erwartet werden, die Beliebigkeit des Argumentierens über Gestaltung zu übersteigen. Solche sozio-psychologischen Konzepte des Wohnens sind zur Zeit nicht verfügbar; die Zielsetzung der Strukturierungsstudie muss demgemäss bescheidener angesetzt werden.
Der Bericht befasst sich mit folgenden Punkten:
(1) Überlegungen zum möglichen Beitrag der Sozialwissenschaften, i.b. der Umweltpsychologie, zur Klärung von Fragen der Gestaltungsqualität.(2) Exemplarische Darstellung von Forschungsergebnissen über die Mensch-Umwelt-Beziehung im Wohnbereich unter Hinweis auf Probleme der Übertragbarkeit und Verallgemeinerung.
(3) Thesen zur Mensch-Umwelt-Beziehung im Wohnbereich aus der Sicht eines vorläufigen psychologischen Verständnisses des Wohnens.
(4) Diskussion einiger Punkte im Zusammehang mit den Problemeingaben und Skizzierung des Forschungsbedarfs.
Zur möglichen Rolle des Sozialwissenschaftlers (Psychologen) im Bereich der Wohnbauplanung sind verschiedene Modelle vorgeschlagen worden. Am häufigsten werden die beiden Rollenmodelle "Psychologe als Berater des Architekten" und "Psychologe als Advokat des Bewohners" diskutiert. Ich halte beide Modelle für nicht unproblematisch und glaube, dass ein umfassenderes Modell der Zusammenarbeit nötig ist. Ich möchte dies anhand einer Analogie mit dem Wohnen von Tieren deutlich machen.
Im Unterschied zu Tieren in Freiheit, die ihren "Wohnbereich" aufgrund von Instinkt und Erfahrung selber wählen und ihren Bedüfnissen anpassen, ist die Situation für Tiere in Gefangenschaft der Lebensituation der Menschen in der heutigen gebauten Umwelt in dem Punkte vergleichbar, dass jemand anderer als der Bewohner die unmittelbare physische Lebensumwelt macht. Der Zoodirektor mit seinen Fachleuten baut den Tieren ein Zuhause mit den nötigen Gehegen, Schutzhütten, Höhlen, Fressplätzen, Ausläufen usw. Er ist grob vergleichbar mit dem gesamten Bauwesen in der menschlichen Gesellschaft, welches für die Menschen die gebaute, gestaltete Umwelt als eine wesentliche Lebensbedingung herstellt. Natürlich stimmt der Vergleich wie alle Analogien nur bis zu einem gewissen Grad. Es kommt mir dabei nur auf das Aufzeigen eines leicht übersehbaren Sachverhalts an; weiter darf die Analogie nicht getrieben werden.
Man kann wohl sagen, dass Zoodirektoren nach ihrem besten Wissen und Können versuchen, den ihnen anvertrauten Tieren möglichst optimale Lebensbedingungen bereitzustellen, in denen sie sich wohl fühlen und in denen sie bestens gedeihen. Dasselbe gilt grundsätzlich auch für die Leute vom Bauwesen: die Planer und Architekten, die Unternehmer und Handwerker, die Mitglieder der Baubehörden und Hypotheken-Bankiers, die Möbel"berater" und Liegenschaftsverwalter, die Hauswarte, die Verbandsfunktionäre und die Politiker, die sich mit Entscheidungen über sogenannte Infrastrukturfragen und mit deren Durchführung befassen, von der Verkehrspolitik über die Raumplanung bis zur Wohnbaupolitik. Natürlich hinkt der Vergleich: Tiere und bio-ökologische Systeme weisen zwar fundamentale Gemeinsamkeiten mit der menschlichen Art und ihrer Gesellschaft auf, aber eben auch ganz wesentliche Unterschiede.
Es gibt neben andern Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten einen wichtigen Unterschied zwischen den Tätigkeiten des Zoodirektor und der Baufachleute, auf den ich mich konzentriren möchte. Der Zoodirektor hat ein untrügliches Kriterium zur Verfügung für die Beurteilung des Erfolgs seines Bauens. Wenn nämlich der Zoodirektor falsch baut, dann gehen die meisten Tiere sehr bald ein; die Indidividuen kränkeln, es kommt kein Nachwuchs, die Art kann nicht in Gefangenschaft gehalten werden, oder allenfalls unter ständigem Beizug von extremen Mitteln wie Antibiotika oder anderen Drogen.
Die Wohnbaufachleute haben kein vergleichbares Kriterium zur Bewertung des Gebauten. Sie haben eigentlich immer nur vorläufige Kriterien, die ihnen glauben machen, dass sie gute oder schlechte Infrastrukturen für das menschliche Zusammenleben hergestellt haben. Natürlich ist es verständlich und eigentlich sogar unvermeidlich, dass sich die Wohnbaufachleute an vorläufige Kriterien halten; dennoch wäre es klug, den vorläufigen Charakter der meisten Urteile über Bauten zu erkennen und nach besseren Kriterien zu suchen.
Der Mensch ist enorm anpassungsfähig, und er passt sich mit grösster Behendigkeit an die unglaublichsten Lebensbedingungen an. Dies ist ein wichtiger Unterschied zu den meisten Tierarten, die in der Mehrzahl eine Anpassung allenfalls im Laufe von vielen Generationen schaffen; dabei stirbt nicht selten eine Art eigentlich aus oder wird durch andere abgelöst.
Deshalb treten beim Menschen Symptome, die problematisches Bauen anzeigen würden, nicht klar genug zutage. Wohl sind viele Leute mit ihrer Umgebung unzufrieden, finden sie hässlich, unpraktisch, unmenschlich; sie leben aber dort dennoch "fröhlich weiter" und vermehren sich auch. All die Bresten und Konflikte, mit denen wir leben, könnten ebensogut auch andere Ursachen haben; selbstverständlich haben sie auch andere Ursachen. Harte Symptome treten wohl erst dann auf, wenn es vielleicht schon zu spät ist. Ich glaube aber, dass viele Menschen heute das dumpfe Gefühl haben, dass unser Wohnbauwesen auf Abwege geraten ist. Aber was können wir tun? Gibt es denn richtiges Wohnungsbauen? Und wie können wir es, wenn es das gibt, von schädlichem Wohnungsbauen unterscheiden?
Hier sehe ich nun die Rolle des Sozialwissenschaftlers. Ich kann nur in groben Zügen skizzieren, wie ich mir seine Rolle vorstelle, sein Verhältnis zu den übrigen Wohnbaufachleuten und insbesondere sein Verhältnis zu denjenigen, für die alles gemacht wird, nämlich den Bewohnern.
Im wesentlichen ist der Sozialwissenschaftler, wenn er sein Wissen und Können in den Dienst besseren Wohnens stellen will, so etwas wie ein "Mikroskop" und eine "Zeitraffmaschine", welche langfristige oder subtile oder versteckte Zusammenhänge sichtbar machen können. Der Zoodirektor sieht spätestens nach wenigen Generationen, im ungünstigen Fall sogar innerhalb einer Generation, ob seine Tiere gedeihen oder nicht. Beim Menschen finden wir eine Baukultur, d. ein gesellschaftlich bestimmtes Bauverhalten, das im Unterschied zu dem eher fixierten biologischen Tier-Umwelt-Verhältnis sehr flexibel und variabel ist. Über Jahrhunderte und Jahrtausende war das Bauen von Behausungen in hohem Masse durch Überlieferung bestimmt und jeweils in einer Gegend nur wenig variabel. In einem allmählichen Wandel wurden stets die Erfahrungen von hunderten von Generationen von Vorfahren verwertet. Seit der industriellen Revolution, seit etwa 200 Jahren, beobachten wir eine Explosion der Veränderung von Baumaterialien, Bauweisen und Bauformen. Die Entwicklung geht zu rasch, als dass wir die Erfahrungen, die sich mit den neuen Formen ergeben, schnell genug auswerten könnten. Wir müssen also unsere veränderte Baukultur ergänzen durch ein weiteres kulturelles Element, das imstande ist, jenen langsamen und impliziten Auswertungsvorgang in einem wesentlich rascheren Tempo und explizit oder bewusst durchzuführen. So wie unsere Kultur sich entwickelt hat, wird man dafür die Wissenschaften beiziehen.
Die Definition der Rolle des Sozialwissenschaftlers im Wohnwesen ist eine extrem heikle. Es wird nötig sein, ganz besonders nach den teilweise wenig glücklichen anfänglichen Erfahrungen mit der Soziologie, sehr viel eingehender darüber nachzudenken, als dies im vorliegenden Rahmen geschehen kann. Ich muss aber hier deutlich machen, dass man nicht vom Sozialwissenschaftler erwarten darf, dass er sagen kann, was richtiger oder guter und was falscher oder problematischer Wohnungsbau ist.
Bewertende Äusserungen von Sozialwissenschaftlern, auch wenn sie auf der Grundlage von empirischer Sozialforschung abgegeben werden, haben nicht weniger vorläufigen Charakter als die Urteile der Wohnbaufachleute. Denn beide erfolgen unter einem bestimmten Gesichtswinkel, aus einer bestimmten und notwendig partiellen Interessenlage. Gleichzeitig haben aber Ergebnisse von Bewohnerumfragen die fatale Eigenschaft, als Ausdruck demokratischen Konsens verstanden zu werden. Die Summation von Teilansichten führt aber nie zu einer ganzheitlichen Sicht.
In der Tat haben Befragungen von Bewohnern geben ja fast durchwegs sogenannt "gute Ergebnisse". Egal in was für Quartieren man fragt, sagen in der Grössenordnung drei Viertel und mehr der Bewohner, dass sie mit ihrer Wohnung und mit ihrem Quartier zufrieden seien; mal sind es etwas weniger, wenn man in der Art des Fragens den Akzent mehr auf das Wünschbare richtet, mal sind sie etwas mehr, wenn man den Akzent mehr auf die Sicherung des Erreichten legt. Natürlich macht man sich mit solchen Befragungen etwas vor, wenn man aus den Zahlen schliesst, es sei alles weitgehend in Ordnung. Verwunderlich wäre nämlich, wenn die Resultate anders ausfielen. Die Mehrzahl der Befragten verfügt ja nicht über wirkliche Vergleichsmöglichkeiten; und wer ist schon bereit zu sagen, seine eigene Wahl sei verfehlt gewesen, auch wenn sie nicht eine völlig freie Wahl gewesen ist. Befragungsbewertungen sind in erster Linie aus methodischer Notwendigkeit so wie sie sind; sie beschreiben nicht wirklich die Verhältnisse.
Die eingeschränkte, wenn nicht irreführende Gültigkeit von Befragungsbefunden hat noch tiefere Gründe: der Befragte ist grundsätzlich überfordert, wenn man ihm zumutet, darüber Auskunft zu geben, in welcher Weise sich Prozesse, die sich im Laufe von Jahren und Jahrzehnten seines Lebens weitgehend ausserhalb seines Bewusstseins abgespielt haben und wie sie sich auf seine gesamte Existenz auswirken.
Der Sozialwissenschaftler, wie ich ihn vor allem sehe, macht etwas anderes. Der Sozialwissenschaftler hofft, den Rückmeldekreis von der Bauweise über die Bewohner zurück zur besseren Bauweise kürzer schliessen zu können. "Wir formen die Bauten, und die Bauten formen uns", ist ein bekannter Satz, der u.a. Winston Churchill zugeschrieben wird. Wie wir die Bauten formen, ist ein gut sichtbarer Vorgang, und sein Resultat ist "greifbar"; wie die Bauten uns formen, ist ein verborgener und langdauernder Prozess, den wir noch kaum beschreiben können, geschweige denn verstehen. Wir müssten aber die Rückwirkungen des Gebauten auf den Menschen verstehen, wenn wir menschengerecht bauen wollen. Einen solchen "Rückmeldekreis", die Auswertung der Wirkungen des Gebauten auf den Menschen, gab es in statischeren Kulturen mit Bautraditionen über Jahrhunderte automatisch durch die allmähliche Veränderund der Bautradition. Sie fehlt heute bei dem raschen Wandel.
In dieser Situation könnte der Sozialwissenschaftler deutlich machen, dass am Bauen mehr als das Gebäude ist. Der Sozialwissenschaftler lenkt den Blick auf ein grösseres Ganzes, von dem die Wohnung nur ein kleiner Teil ist: das ist die Tätigkeit des Wohnens von Individuen und kleinen Gruppen, insbesondere von Familien; das ist die Existenz von Individuen und kleinen Gruppen in Raum und Zeit, deren Zentrum das Heim ist, in dem man wohnt.
Der typische Wohnbaufachmann sieht und denkt zu kurz. Er ist - begreiflicherweise - fasziniert vom Objekt seines Tuns. Er denkt in Kategorien der Ökonomie, der Ästhetik und der Funktionen, die in dem Gebäude erfüllt werden müssen. Da braucht man dann soviele Quadratmeter für ein Schlafzimmer, soviele für ein Wohnzimmer, ein Kinderzimmer; eine Küche, in der die üblichen Apparate schön in Linie aufgestellt werden können; ebenso Sanitäreinrichtungen, und die müssen nicht nur gut funktionieren, sondern auch das Auge erfreuen usw. usw. Wie überhaupt das ganze Gebilde den günstigsten Kompromiss zwischen Schönsein, Praktischsein und Billigsein verwirklichen muss.
Es ist interessant, dass wir in der Schweiz wie in andern Ländern über eine ausgedehnte Praxis und Gesetzgebung und Richtlinien über den Wohnungsbau verfügen, gestützt durch eine zwar quantitativ bescheidene, aber qualitativ doch recht ansehnliche Wohnbauforschung. Aber wir haben praktisch keine Forschung und auch kaum sicheres Wissen über das Wohnen als eine menschliche Tätigkeit ersten Ranges. Rund ein Viertel ihres Lebens verbringen die meisten Menschen in der Tätigkeit des Wohnens, das Schlafen nicht mitgerechnet.
Denn dieses Objekt, die Wohnung oder das Wohngebäude, oder auch das Wohnquartier, ist ja nicht Selbstzweck. Sondern es ist nur ein Bestandteil eines äusserst komplexen gesellschaftlichen und kulturellen Geschehens. In Wohnungen und um Wohnungen herum findet nicht nur nach seinem Zeitanteil der grösste Teil unseres Lebens statt; hier geschehen auch so wichtige Dinge wie vermutlich der grösste Teil unserer Erziehung (Sozialisation); der grösste Teil unseres Zusammenlebens mit den Andern, die Zuneigung wie die Auseinandersetzung; der grösste Teil dessen womit jeder von uns sich selbst zu dem macht, was er ist oder gerne sein möchte; der grösste Teil unserer menschlichen Kultur findet weitgehend versteckt im Wohnen statt, der sichtbare Teil, die "offizielle" Kultur ist nur die Spitze eines Eisbergs.
Der Sozialwissenschaftler, im besonderen der Wohnpsychologe, kann - heute erst sehr rudimentär - aufzeigen, wie dieses Geschehen funktioniert.
Ich skizziere hier in Grundzügen eine Auffassung vom Wohnen, die weiter ist als die allgemein verbreitete. Häufig meint man, wenn man vom Wohnen spricht, nur das gemeinsame Sitzen im Wohnzimmer. Das ist zu eng; für das Alltägliche, das Selbstverständliche haben wir oft keine Worte. In der englischen Sprache ist "Wohnen" gleichbedeutend mit "Leben": to live. Ich verstehe Wohnen als eine Tätigkeit. Sie ist von zentraler Bedeutung für die menschliche Existenz.
Es ist nicht uninteressant, dass in den indogermanischen Sprachen "wohnen" und "bauen" gemeinsame Wurzeln haben; "bauen" oder "be-wohnen" ist transitiv, d. auf ein Objekt gerichtet, "wohnen" ist intransitiv, d. eine Tätigkeit "an sich". Bauen ist als gewissermassen "Wohnen-Machen". In meinem Verständis ist Bauen ein Versuch der Menschen, die andern Menschen und sich selbst zu beeinflussen. Beinflussen, sich so oder so zu verhalten; beeinflussen sich so oder anders zu entwickeln; beeinflussen, dieser oder jener Mensch zu werden. In bestimmter Weise bauen heisst in bestimmter Weise beeinflussen. Wir bauen immer in bestimmter Weise; das heisst, wir beeinflussen unser Leben immer in bestimmter Weise. Den Zusammenhang zwischen Bauen und Lebenbeeinflussen zu verstehen ist die Aufgabe des Wohnpsychologen.
Wenn wir dieses Geschehen verstehen, dann können wir besser wohnen, und dann werden wir, das ist meine Behauptung, anders bauen. Aus solchem Verständnis Konsequenzen ziehen sollten aber alle Beteiligten, nicht nur die Wohnbaufachleute, sondern ebensosehr alle Leute, welche wohnen; und wer ist das nicht?
Wohnhochhaus
Mein erstes Beispiel betrifft das Wohnen in Hochhäusern oder grossen Scheibenhäusern. Aus verschiedenen Untersuchungen geht hervor, dass Kinder in solchen Wohnumgebungen anders aufwachsen als in kleineren Blöcken oder Einfamilienhausquartieren. Der Unterschied betrifft insbesondere die Vorschulzeit. Bis zu einem gewissen Alter (das variiert von 4 bis 7 Jahren) sind die in grossen Blöcken aufwachsenden Kinder stärker ans Heim gebunden; nachher sind sie eher unabhängiger, vielleicht auch selbständiger.
Man kann das so verstehen, dass das grosse Haus durch seine Liftanlage, durch sein grosses Treppenhaus, wegen zu vieler fremder Leute aufs Mal eine Art schwer übersteigbare Wand aufrichtet zwischen dem Innenbereich der Wohnung und der äusseren Welt der Wohnumgebung, zwischen der Konzentration auf die Mutter und die Familie im Innenbereich und dem Zugang zu weiteren Erfahrungen, insbesondere anderen Menschen, Nachbarn und Nachbarkindern im Umgebungsbereich. Das Kind kann nicht so gut allmählich vom sicheren Hort der Familie aus auf Erforschung, auf geistige "Eroberung" der Welt ausgehen. Viele Untersuchungen zeigen, welche bedeutende Rolle die Mutter für das kleine Kind beim Explorieren der Welt spielt; immer wieder geht es von der Mutter weg auf "Entdeckungsreise" und ist doch auf sie angewiesen: es muss in ihren sicheren Schutz zurückkehren können, wenn die Angst vor Neuem zu gross wird. Im grossen Haus muss die Mutter das Kind langezeit stets begleiten, und es dann vielleicht zu plötzlich viel zu sehr sich selbst überlassen. Die Mutter steht ständig im Dilemma, entweder das Kind zu übermuttern oder es einer nicht mehr kontrollierbaren Welt, z.B. einer grossen Spielgruppe, zu überlassen.
Durch diese bestimmte Bauform greifen wir also massiv in die Entwicklung der Beziehung zwischen Mutter und Kind, zwischen Familie und Kind einerseits, wie auch anderseits in den Aufbau der Beziehung des Kindes zu seiner weiteren Umwelt, besonders zu seinen Spielkameraden, ein. Noch gibt es nur wenig Untersuchungen über diese "Aneignung der Welt" durch die heranwachsenden Kinder. Man kann aber bereits deutlich sehen, welche Bedeutung sogenannte Pufferzonen zwischen innen und aussen haben. Und vermutlich spielt auch die "Veränderbarkeit dieser Umwelt" eine wichtige Rolle.
Pufferzone zwischen Wohnung und Öffentlichkeit
Das grosse Hochhaus ist nur ein verhältnismässig extremer Fall, wegen seiner Grösse, wegen der Bedeutung des Lifts. Auch schon bei kleineren Wohnblcken, wie sie den städtischen Wohnungsbau der letzten Jahrzehnte kennzeichnen, ist der Übergang vom Innenbereich der Wohnung in den öffentlichen Bereich der Wohnumgebung sehr schroff.
Es gibt eine eine Untersuchung, in der das Spiel von Kindern in einer Siedlung von Reiheneinfamilienhäusern mit einer hohen Bevölkerungsdichte beobachtet wurde. Und zwar einmal vor, einmal nach Anbringen von kleinen Vorgärten mit Bepflanzungen und niedrigen Zäunen vor den einzelnen Einheiten. Es war ein deutlicher Unterschied in der Häufigkeit und besonders im Verlauf von Streitigkeiten zwischen den Kindern festzustellen. Auch nach dem Einrichten der Vorgärten gab es Streit, aber beispielsweise war zu beobachten, wie die unterliegenden Kinder fliehen konnten bis hinter das Tor des eigenen Vorgartens. Dort liessen die Verfolger von ihnen ab; sie respektierten einen Schutzbereich. Das unterlegene Kind musste meistens nicht bis ins Haus flüchten; es blieb beobachtender Teilnehmer am Spiel, konnte sich beruhigen und früher oder später wieder hinauswagen. Die Bewältigung des akuten Konflikts, wie wohl auch der Erwerb von Kompetenz im Umgang mit dem andern wurde durch die Vorgärten, durch die strukturierte Pufferzone zwischen privat und öffentlich, unterstüzt.
Es ist offensichtlich, dass nicht nur Hochhausanlagen, sondern auch die meisten Wohnblocküberbauungen arm sind an Zwischenzonen zwischen dem privaten und dem öffentlichen Bereich. Die Wohnungstür ist eine schroffe Grenze zu einem Bereich, der bereits öffentlich zugänglich ist, zumindest in Häusern mit mehr als ein paar Wohnungen. Man muss im Eingang und im Treppenhaus darauf gefasst sein, Menschen zu begegnen, die man überhaupt nicht kennt und auf die man keinen Einfluss ausüben kann. Vorplätze und Grünflächen zwischen Wohnblöcken werden nach Kriterien der Schönheit und Pfleglichkeit gestaltet; und schön heisst hier: was dem Architekten gefällt, und pfleglich heisst: was dem Hauswart möglichst wenig Arbeit macht. Man könnte sie auch gestalten im Hinblick auf die Unterstützung der sozialen Interaktion der Bewohner durch räumliche Strukturen.
Das Vorhandensein eines strukturierten Zwischen- oder Pufferraums zwischen dem Privatbereich der Familie und der öffentlichen Zone von Jedermann hat deutlich das Spielverhalten der Kinder beeinflusst. Und es ist zu erwarten, dass es sich nicht bloss um einmalige Ereignisse handelt, sondern dass solche Erfahrungen in vielfältiger Wiederholung Spuren hinterlassen und einen Menschen in seinem sozialen Verhalten und seinen Beziehungen prägen. Und es betrifft durchaus nicht nur die Kinder: die offenen, ästhetisch mit pflegeleichten Büschen gestalteten Grünflächen auf der Gartenseite gewisser Reihenhaussiedlungen stehen nicht selten leer, während in Siedlungen mit Zäunen oder Hecken die Nachbarn von beiden Seiten an die Grenze treten und miteinander sprechen?
Raumprogramm der Wohnungen
Die heutige Wohnungsarchitektur ist stark von CIAM-Programm des modernen Städtebaus für die industrialisierte Gesellschaft beeinflusst. Es geht aus von der Funktionenteilung: der Mensch arbeitet und regeneriert sich für weitere Arbeit. Die beiden Funktionen werden räumlich getrennt: Arbeit am Arbeitsort; Erholung in der Wohnung mit gelegentlichen Seitensprüngen in die dafür vorgeplante kultivierte Natur; durch den Ortswechsel von der Arbeitswelt zur Freizeitwelt entsteht eine dritte Funktion, der Verkehr.
Diese Funktionenteilung wird fortgesetzt innerhalb der Wohnung. Corbusier hat dafür den Ausdruck "Wohnmaschine" geprägt. Da die Erholung aus Schlafen, Essen, Vorbereiten des Essens, Körperpflege und Zusammensitzen besteht, bietet die ideale Wohnmaschine für jede Funktion genau einen Raum an, vorgefertigt für genau diese Funktion. Dazu kommen sogenannte Kinderzimmer, weil es auch eine Funktion der Familie ist, für den Fortbestand der Menschheit zu sorgen. Für alle andern Funktionen des Menschen sind Orte ausserhalb der Wohnung vorgeplant: die Kinderspielplätze, die Einkaufsläden, die Begegnungsorte, die Sporthallen usf.
Dieses Programm bestimmt seit einigen Jahrzehnten den Wohnungsbau in industrialisierten Ländern in hohem Mass. Es ist auch heute noch das Ideal mancher Planer, zugegeben nicht mehr aller. Und es war insbesondere das Programm für die Förderung der sozialen Wohlfahrt. Was ich geschildert habe, umgesetzt in Quadratmeter und Minimalausstattung, sind die Normen des sozialen Wohnungsbaus. Diese haben unter dem Kostendruck auch weite Teile des allgemeinen Wohnungsbaus bestimmt. Ein zweifellos höchst erfolgreiches Programm; denn es ist damit gelungen, etwa in weiten Teilen Mitteleuropas und Nordamerikas praktisch der gesamten Bevölkerung wenigstens in materieller Hinsicht menschenwürdige Wohnbedingungen zu verschaffen.
Bei voller Anerkennung dieser Tatsache bleibt dennoch ein Rest von Zweifel: Das Programm impliziert ein - sagen wir einmal - sehr reduziertes Menschenbild. Man könnte auch die These aufstellen, dass ein solches Programm des kasernierten Wohnens einen leicht lenkbaren, abhängigen Menschen erzeugt, in jeder Hinsicht ideal für die Produktions- und Konsumgesellschaft, in der wir leben. Dem Programm liegt ein Menschenbild zugrunde, das nicht die Würde der Person als Individuum und in der Gemeinschaft als zentralen Wert und Lebenssinn anerkennt. Da dieses Menschenbild im Gegensatz zu allgemein anerkannten Grundwerten steht, muss man die Frage aufwerfen, ob wir in dieser Hinsicht die Werte sinnvoll gesetzt haben. Und ich möchte das Setzen der Werte zurückverfolgen bis in die konkreten Einzelheiten des Wohnbereichs.
Ich knüpfe an das vorher über die Perfektion in der Vorausplanung des Aussenraums Gesagte an. Auch das Innere der Wohnungen wird von den Fachleuten vorausgedacht und fertiggemacht. Das Wortspiel drängt sich auf: die fertiggemachten Wohnungen machen die darin lebenden Familien fertig. Ich will das mit einigen Beispielen aus sozialwisenschaftlichen Untersuchungen und daran anknüpfenden Überlegungen verdeutlichen.
Das Raumprogramm der typischen Blockwohnung legt, entsprechend dem Programm der Wohnmaschine, die Familie und ihre Mitglieder auf die vorgeplanten Funktionen oder Tätigkeiten fest. Will man diesem Plan entgehen, will man sich darüber hinaus entwickeln, so muss man gegen die oft sehr harten Realitäten der räumlichen Bedingungen kämpfen. Oft ein aussichtsloser Kampf, weil er ja gerade das voraussetzt, was man in diesen tätigkeitseinschränkenden Bedingungen so schwer erwerben und pflegen kann, nämlich reiche Phantasie und beharrliche Eigenbestimmtheit des Handelns.
Ein Beispiel aus einer Untersuchung der deutschen Soziologin Meyer-Ehlers. Wieviel Zeit verbringen die Familienmitglieder von morgen bis abend innerhalb der Wohnung in den verschiedenen Tätigkeiten? Meyer-Ehlers hat solche Zeitbudgets bei Bewohnern von Blockwohnungen und Reiheneinfamilienhäuschen verglichen. Dabei waren sowohl die Bewohner nach Einkommen, Beruf, Bildung und andern Merkmalen wie auch die eigentlichen Wohnungen nach Raumzahl und Grundfläche weitgehend gleich. Der einzige Unterschied lag darin, dass in den Reihenhäuschen im Unterschied zu den Blockwohnungen sogenannter Sekundärraum vorhanden war, d. Raum ohne vorgeplante Funktion, also in der Wohnmaschine überflüssiger Raum, der nur kostet, aber nichts bringt: nämlich Keller, Estrich, Treppenhaus. Die Mitglieder der Familien in den Blockwohnungen verbrachten im Tagesdurchschnitt über eine Stunde länger vor dem Fernseher als die Hausbewohner. Man kann vermuten, dass das beschränkte bzw. weitere Raumprogramm an der Wurzel dieses Unterschiedes liegt. Man kann auch spekulieren, dass solche Unterschiede der Tätigkeiten von Kindern sich auf die Entwicklung der Persönlichkeit dieser Menschen auswirken. Allerdings fehlen entsprechende Nachweise; sie sind angesichts der Vielschichtigkeit menschlicher Entwicklung nicht leicht zu erbringen.
Für ein zweites Beispiel fehlen auch schon die Einstiegs-Untersuchungen; man kann sie infolge Knappheit entsprechender Objekte innerhalb einer Sozialschicht kaum durchführen. Ältere, bürgerliche Wohnungen und Einfamilienhäuser haben in der Regel zwei Wohnzimmer: eine Alltagsstube für die Familie und ein gutes Zimmer oder Salon für das Feiern von Festen oder den Empfang von Gästen. Man hat mit Recht festgestellt, dass der Salon die meiste Zeit des Jahres leersteht und ihn daher als eine überfüssige Investition aus den Raumprogrammen für Wohnungen ausserhalb der Luxusklasse eliminiert. Die Betrachtung ist rein quantitativ und verpasst daher die entscheidenden Qualitäten des Raumprogramms mit dem Doppelwohnraum. Ich weise auf ein paar solche Qualitäten hin und stelle zur Diskussion, ob nicht vielleicht ihre Elimination ein bedenkliches Verpassen einer Investitionschance ist. Ich denke bei diesen Erwägungen vor allem an Familien mit Kindern. Ein zweites Wohnzimmer (übrigens ähnlich auch eine Wohnküche) bringt eine beträchtliche Strukturvermehrung in eine Wohnung: mit einem Mal sind innerhalb der Familie zweierlei Tätigkeiten gleichzeitig möglich, ohne dass man in die Privatbereiche der Familienmitglieder ausweisen muss, also noch an der Gemeinschaft teilnehmen kann. Die Art der Tätigkeiten kann durch die unterschiedliche Umgebung ihre Färbung bekommen: alltäglicher oder eben ein bisschen besonders. Wie kann jemand beispielsweise seinen Chef einladen, wenn es nur eine enge Essnische im einzigen Wohnzimmer gibt? Indem die Eltern kleinen Kindern gegenüber den besseren Raum als "verbotene Zone" erklären und sie mit zunehmendem Alter allmählich dort einführen, nutzen sie eine treffliche Gelegenheit, zur Achtung für die Welt des Andern zu erziehen. Dies umso mehr, wenn sie gleichzeitig umgekehrt zeigen können, dass sie ihrerseits einen privaten, eigenen Bereich des Kindes mit dem Alter zunehmend ebenfalls achten.
Das führt mich zum dritten Beispiel räumlicher Strukturen und ihrer Bedeutung innerhalb der Wohnung: der psychologischen Bedeutung des Kinderzimmers. Es besteht heute weitherum Einigkeit, dass von einem gewissen Alter an ein eigenes Zimmer beinahe ein Grundrecht ist. Zweifellos ist dies ein Gewinn, den wir dem materiellen Fortschritt verdanken. Ich schliesse aber die Frage an, ob wir nicht auch hier ob dem quantitativen Gewinn das Qualitätsproblem aus den Augen verloren haben. Typische Kinderzimmer sind klein (Bett, Tisch, Stuhl, Schreibplatz für Aufgaben und wenns gut geht ein Quadratmeter Spielfläche); sie sind völlig unzureichend isoliert gegen Schall, der aus dem Zimmer heraus oder ins Zimmer hineindringt; und sie liegen innerhalb der Wohnung an einer beliebigen Stelle. Typische Kinderzimmer schränken die möglichen Tätigkeiten des Kindes in starkem Masse ein, wohl noch stärker als die Wohnungsumgebung. Ich halte solche Kinderzimmer für eine Fehlinvestition. Eigentlich verfehlen sie auf jeder Altersstufe genau das, was das Kind vom räumlichen Zentrum seiner Existenz erwarten könnte. Für das kleine Kind hat das kleine Zimmer die Folge, dass ein schroffer Gegensatz entsteht, zwischen Allein- und mit den Andern sein. Dem Vorschulkind erschwert es das Zusammenspielen mit Geschwistern und anderen Kindern. Dem Schulkind erleichtert es weder in ruhiger Abgesondertheit zu lesen und zu denken, noch gibt es seinem Expansionshunger und Tätigkeitsdrang den nötigen Raum. Für die Heranwachsenden schliesslich ist das Kinderzimmer eine Katastrophe, an der oft genug die ganze Familie schwer zu tragen hat. Ich meine, dass dem Heranwachsenden und den Eltern keine räumliche Unterstützung des notwendigen Ablösungsprozesses gegeben wird, dadurch dass sein Zimmer praktisch mitten in der Familie liegt. Die Folge ist, dass der Jugendliche entweder zu lange Kind bleibt oder zu früh, wie man so sagt, auf die Strasse geht. Es scheint mir nicht zufällig, dass sich die Jugendunrast der letzten Jahre u.a. in der Forderung nach autonomen Jugendzentren manifestiert.
Vielleicht suchen die Jugendlichen ein räumliches Zentrum für ihr Leben, das ihnen die Familienwohnung nicht geben kann.
Mit den Familienwohnungen sind auch die Familien klein und gleichartig geworden. Es ist nicht geklärt, ob der Wohnungsbau der Reduzierung der Familie nur nachgefolgt ist, oder ob er sie mit verursacht hat. Tatsache aber ist, dass wir jetzt die vielen kleinen und gleichartigen Wohnungen haben, und damit jeder Versuch einer Familie, sich zu erweitern, schweren Hindernissen begegnet. Fast unmöglich ist z.B. die Hereinnahme weiterer Personen wie Verwandte, Betagte, Kameraden der Kinder, Behinderte, Personen aus andern Gegenden usf. Damit solche Personen die Familie wirklich bereichern können, damit die unvermeidlichen Konflikte eine Chance haben bewältigt zu werden, müssen sie ähnlich wie die Heranwachsenden psychologisch-räumlich in sinnvoller Distanz zur Familie leben können: zugleich zugehörig und doch ausreichend getrennt, dass ihre Rollenbeziehung klar sichtbar ist. Dazu braucht es etwas reichere räumliche Strukturen als die typischen Drei- oder Vierzimmerwohnungen, in denen die Zimmerkästchen reihum um ein Entree herum angeordnet sind: ich denke z.B. an separate und halbseparate Zimmer und Zimmergruppen, die je nach Bedarf vielleicht der einen, vielleicht der benachbarten Wohnung zugeordnet werden können. Sogar die Mansarde enthält etwas von dieser Idee.
Man könnte aber wesentlich weiter gehen; und es gibt durchaus Bauchfachleute, die sich Einiges dazu einfallen lassen, manchmal durch unnötige Bauvorschriften oder durch Geldgeber eingeengt, die nur das schon Bekannte akzeptieren. Ich behaupte, dass sich das Investieren in Wohnungsbau mit reicheren Baustrukturen auszahlen wird. Nicht nur wird wahrscheinlich die höhere Wohnqualität von zunehmend mehr Leuten gesucht werden. Es wird auch aller Wahrscheinlichkeit nach das Verhältnis zwischen der traditionellen Arbeitswelt und dem Lebensbereich des Wohnens sich verändern, und zwar im Sinne einer stärkeren Durchmischung. Am Beispiel der elektronischen Datenverarbeitung und anderer Dienstleistungen ist bereits heute einiges davon zu beobachten. Es ist schon bald nicht mehr ein technisches, sondern nunmehr ein organisatorisches Problem, dass ein beträchtlicher Teil der Arbeitsplätze wieder nahe bei den Familien eingerichtet werden können. Wir sollten uns die Entscheidung für oder gegen eine stärkere Durchmischung von Arbeiten und Wohnen offenhalten und nicht durch einen Mangel an geigneten baulichen Strukturen aus der Hand nehmen lassen. Ich plädiere also für einen Wohnungsbau, der eine offenere Familie ermöglicht, sowohl was ihre personelle Zusammensetzung betrifft, wie auch bezüglich der Erweiterung von Tätigkeiten, die in und in der Nähe der Familie stattfinden.
Das führt mich zurück zum Ausgangspunkt: vom Leben in der Wohnung gibt es Wirkungen darüberhinaus. Beziehungen innerhalb der Wohnung bilden die Grundlage der Fähigkeit, mit dem Andern umzugehen.
Innen und Aussen der Wohnung sind oft sehr schroff voneinander abgetrennt sind. Die Wohnungstür ist in vielen Fällen eine schwer passierbare Grenze. Wie Untersuchungen zeigen, ist dies umso mehr der Fall, desto grösser die Zahl der im gleichen Haus lebenden Familien ist. Die Familie steht in der Defensive und versucht sich ihr Refugium zu sichern, kann man vermuten, weil so viele ihrer Aufgaben von andern gesellschaftlichen Institutionen übernommen worden sind. Wiederum stützt der Wohnungsbau diese möglicherweise für die Familie fatale Rückzugs-Tendenz. Nicht nur durch den Bau von einheitlichen und abgeschlossenen Kästchen, die es fast unmöglich machen, dass die Bewohner ihre Identität, wer sie sind und sein möchten, nach aussen kund tun. Es gibt so etwas wie ein Gesetz der mittleren Menge; das wird oft missachtet. Es scheint, dass Menschen ein gewisses mittleres Mass an Information oder neuen Eindrücken brauchen; sowohl zu wenig wie auch zu viel ist auf die Dauer unerträglich belastend und wirkt sich aus. Allerdings langezeit so subtil, dass man sich leicht täuschen kann. Doch führt letztlich beides zu Vereinsamung.
In diesem Zusammenhang sind eine Reihe von Experimenten beachtenswert, die zwar mit Studenten in Studentenwohnheimen gemacht worden sind, aber wohl mit einiger Plausibilität auf das Wohnen allgemein übertragen werden können. Die beiden amerikanischen Psychologen Baum und Valins haben mit ihren Mitarbeitern das soziale Verhalten von Studenten untersucht, die entweder in Korridorzimmern oder in Apartmentzimmern lebten.
An der gleichen Universität gab es Studentenheime mit gleich viel Grundfläche pro Student, je 32-36 Studenten auf einem Stockwerk, bei gleicher Ausstattung. Der einzige Unterschied zwischen den beiden Wohnweisen bestand darin, dass im einen Fall die 17 Doppelzimmer schön der Reihe nach an einem langen Korridor angeordnet waren, am einen Ende Treppenhaus, ein Wohn- und Fernsehzimmer am andern und Toiletten in der Mitte; im andern Fall waren je 3 Doppelzimmer um eine kleine Diele mit zugeordneten Toiletten gruppiert. Das bedeutet, dass ein ~Korridorstudent~, wenn er aus seinem Zimmer tritt, mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit einen oder mehrere von 35 Kameraden antrifft, von denen er die meisten natürlich nur oberflächlich kennen kann. Umgekehrt lebt der ~Apartmentstudent~ gewissermassen mit 5 Kameraden in einer vertrauten Gemeinschaft zusammen: bevor er in die Öffentlichkeit hinaustritt, passiert er die Diele und eine weitere Türe; die Gewohnheiten der 5 Kameraden sind ihm vertraut, egal ob er mit ihnen enger befreundet ist oder nicht; die übrigen 30 Studienkollegen sind ihm ferner, bzw. er kann sich mit einzelnen von ihnen nach seinen eigenen Wünschen befreunden oder nicht.
Durch diesen anscheindend sehr einfachen Unterschied in der Bauweise, werden nun ausgesprochen deutliche Unterschiede in der Lebensweise der beiden Studentengruppen erzeugt; es ist geradezu unglaublich, was die beiden Forscher bisher in einer ganzen Reihe von Untersuchungen herausgefunden haben.
Beispielsweise kann man beobachten, wie oft und wie lange die Studenten mit andern in Kontakt treten: die Gesamtzahl der Kontakte war etwa ähnlich; bei den Korridorstudenten wurden sie zu drei Vierteln im Korridor beobachtet und sie waren kurz und oberflächlich; der Wohnraum wurde praktisch nur zum Fernsehen benutzt; bei den Apartmentstudenten hingegen waren drei Viertel der Kontakte in den Dielen und sie dauerten länger. Es scheint, dass die Korridorbewohner Orte meiden, wo sie mit andern ins Gespräch kommen.
Interessant ist nun, dass die unterschiedliche Wohnweise, schon wenige Wochen nach Semesterbeginn weit über die Wohnsituation hinaus Auswirkungen auf das gesamte Leben der Studenten hat. Beispielsweise hat man die Studenten auch in einer arrangierten Wartzimmersituation beobachtet: keine Unterschiede beim Alleinwarten; beim Warten zu zweit setzen sich die Korridorstudenten weiter weg vom andern als die Apartmentstudenten, sie schauen ihn weniger an und sie sprechen fast drei Mal seltener mit ihm; sie ziehen das Blättern in einem Magazin vor. In Fragebogen geben sie auch häufiger Gefühle des Unbehagens an, wenn das Warten beim Zahnarzt ist.
Genauere Untersuchung zeigt, dass es nicht einfach die Gegenwart der Andern ist, die den Korridorstudenten Unbehagen macht, sondern die Erwartung, dass man dem andern nicht ausweichen kann. Die Ergebnisse insgesamt werden so verstanden: die Korridorstudenten müssen infolge der baulichen Gegebenheiten zu viele soziale Kontakte erleiden, über die sie keine Kontrolle haben; ihr Sozialverhalten ist im Unterschied zu den Apartmentstudenten stärker aussenbestimmt. Als Reaktion darauf schränken sie generell ihre Kontaktöbereitöschaft ein und meiden Orte, wo solche wahrscheinlich sind.
Es gibt Gruppenspiele, wo man die Wahl hat, entweder im Wettbewerb gegen den andern zu gewinnen (kompetitiv) oder Koalitionen zu bilden und den gemeinsamen Gewinn zu erhöhen (kooperativ). Beobachtet man die Studenten in solchen Spielen, so zeigt sich, dass die Korridorstudenten am häufigsten kompetitiv, also gegeneinander spielen, die Apartmentstudenten jedoch am häufigsten kooperativ, also miteinander. Bei den Korridorstudenten ist auch gehäuft zu beobachten, dass sie sich aus dem Spiel zurückziehen, sich nicht beteiligen.
Das sind Untersuchungen bei amerikanischen Studenten. Übertragungen sind immer heikel. Aber ich denke, dass solche Ergebnisse schon auch etwas von unserer Lebensweise beleuchten. Wohnverhältnisse, bei denen die Kontrolle über das soziale Geschehen vermindert ist, machen die Menschen hilflos und inkompetent zum Zusammenleben. Es ist wichtig zu sehen, dass sich die Studenten dieser Tatsache kaum bewusst sind. Und das ist auch bei uns bei Bewohnern grosser Blöcke so. Oben wurde ausgeführt, dass auf Befragen die meisten Bewohner solcher Quartiere angeben, dass sie sich dort wohl fühlen. Viele sagen, dass es eben gerade die Anonymität ist, die sie suchen und dort finden; dass sie nicht jeder Nachbar kennt und dass sie sich selber nicht um jeden Nachbarn kümmern müssen. Die Frage ist unbeantwortet, ob der Wunsch nach Anonymität der Grund oder die Folge des Wohnens in grossen Blöcken ist.
mit vorläufigen Schlussfolgerungen zur Gestaltungsqualität
Die vorstehenden Beispiele stellen Ausschnitte aus der neueren umweltpsychologischen Forschung dar. Die dargestellten Fakten sind zumeist nicht so gut gesichert, wie man es wünschen möchte; und ihre Interpretation ist nicht immer eindeutig.
Am Beispiel des Wohnhochhauses möchte ich aufzuzeigen versuchen, wie sehr die Schlussfolgerungen aus den verfügbaren Untersuchungen vorläufigen Charakter haben. Während man sich in der Literatur heute weitgehend einig ist, dass Wohnhochhäuser für Familien mit Kindern die geschilderten nachteiligen Folgen für die Entwicklung der Kinder aufweisen, wird derzeit das Wohnhochhaus für Betagte eher empfohlen. Dies hauptsächlich auf der Basis einiger Befragungsuntersuchungen, die mehrheitlich in den USA durchgeführt worden sind. Im Vergleich mit Flachbausiedlungen nennen die betagten Bewohner zwar den Nachteil der Naturferne, die Liftabhängigkeit und die gelegentlichen Orientierungsschwierigkeiten im Hochhaus; sie scheinen aber in der Summe den Gewinn an Sicherheit, der durch den zentralen und bewachten Eingang erreicht wird, für wichtiger zu halten. Man muss sich aber fragen, inwieweit die Ergebnisse durch die gegenwärtig wahrgenommenen Lebensbedingungen mit besorgniserregender Kriminalitätshäufigkeit bestimmt sind, bzw. inwiefern sie in andere Rahmenbedingungen übertragen werden können. Auch ist offen, ob und inwieweit die Interviewdaten die tatsächlichen Verhältnisse wiederspiegeln.
Jedenfalls lässt sich auf der Grundlage des heute verfügbaren Materials keine sichere und allgemeine Aussage zum Gestaltungsproblem im Wohnbereich machen. Dennoch enthält diese Forschung wohl ein beträchtliches Potential des Einblicks in die Tätigkeit des Wohnens und allgemein in die Mensch-Umwelt-Beziehung. Zu erwarten ist in Zukunft noch eine deutliche Zunahme von Einsichten, da es sich um einen Forschungsbereich handelt, der erst wenige Jahre existiert und dessen Methodik noch grosse Schwierigkeiten stellt und auch Mängel aufweist.
Infolge des multidisziplinären Charakters des Problems sind auch die begrifflichen Schwierigkeiten enorm.
Der Hauptmangel des Gebiets besteht aber im Fehlen brauchbarer Theorie. Wie im einleitenden Kapitel angedeutet, ist es denkbar, dass die Verbindung von sozialwissenschaftlichem Denken mit architektonischem Denken zu einer Konzeption des Wohnens hinführen kann, welche die Frage der Gestaltungsqualität wenigstens zu einem Teil aus der Beliebigkeit der Bewertungskriterien heraushebt.
Im folgenden möchte ich eine Reihe von Thesen formulieren, welche einen Anfang einer solchen Konzeption darstellen könnten.
(1) Die Wohnung ist für den Menschen mehr als der Ort der Befriedigung der biologischen Grundbedürfnisse wie Schlafen, Essen, Körperpflege usf.; Wohnungen als wesentliche Bestandteile der menschlichen Kultur sind vielmehr in erster Linie Versuche, durch die räumliche Gestaltung die Lebensweise zu beeinflussen.(2) Die Wohnung ist für die Existenz einer Familie oder familienähnlichen Klein-Gruppe von ähnlicher Bedeutung wie der Körper für die Existenz der Person.
Jede kulturelle Gegebenheit braucht zur Sicherung ihrer Existenz einen realen, materiellen Träger. Eine Idee ist dann stark, wenn es ein Symbol gibt, in dem sie sich immer wieder gut erkennbar manifestiert. Das Individuum, die menschliche Person verfügt über den Körper als unzweifelhaften Träger seiner Existenz. Die Familie als eine sozio-kulturelle Institution hat nur schwache real-konkrete Träger etwa im Familienrecht oder in den Traditionen; ein jahrhundertelang sehr wirksamer Träger, die Institution der Ehe, hat eine gefährdete Zukunft. Die Wohnung könnte für die Familie sein, was der Körper für die Person ist: ein Gefäss, ein Träger ihrer Existenz. So wie man den Körper pflegt, übt, verschönert, verbessert, sollte man durch die Kultivation der Wohnung aktiv zur Verbesserung der Familie beitragen.
(3) Durch bestimmte Bauweisen und Bauformen beeinflussen wir das Verhalten und die Entwicklung der Familie und der Individuen in bestimmter Weise; wir haben Entscheidungen zu treffen, ob wir Bauformen bevorzugen, welche das Individuum und die Familie in ihrer Eigenständigkeit stärken oder schwächen.
Weder die Wohnbaufachleute noch die Sozialwissenschaftler des Wohnens wissen, was eine gute Wohnung ist, weil das letzten Endes immer auf die jeweiligen Bewohner ankommt. Das bedeutet, dass dem Bewohner möglichst viel Autonomie in der Gestaltung, Planung, Ausführung und Verwaltung seiner Behausung zugestanden werden muss. Die Wohnung ist auch nie fertig, solange sie von Menschen bewohnt wird, die sich entwickeln von der Kindheit bis ins Alter; sie darf nie fertig sein, sonst macht sie die Bewohner fertig. Die Wohnung ist nicht nur in finanzieller Hinsicht ein Investitionsgut, sondern auch im Hinblick auf ihre Bedeutung für das Leben und das Zusammenleben. Man muss ihren instrumentellen Charakter mehr und mehr herausstellen.
(4) Wohnen ist eine anspruchsvolle Tätigkeit. Sie umfasst Wirken auf die Welt und Rückwirken der Welt auf den Menschen. Wohnen will gelernt sein.
Wohnen geht nicht von selbst. Nicht nur müssen Voraussetzungen von seiten der räumlichen Strukturen gegeben sein, in der Wohnung und darum herum, die jetzt nicht immer ausreichend sind. Es ist auch unumgänglich, dass die wohnenden Menschen diese Tätigkeit als eine anspruchsvolle Tätigkeit verstehen und sich dafür ausreichend vorbereiten. Ich bezweifle, dass die eigenen Kindheitserfahrungen, oft unter ungünstigen Bedingungen erworben, dafür ausreichen. Es ist aber nicht einzusehen, warum unser Bildungsystem so einseitig auf die Förderung der Arbeitswelt orientiert ist, und auch dann, wenn es sich Teiltätigkeiten des Wohnens widmet, die Leistungen in den Vordergrund stellt: das Kochenkönnen, das Putzenkönnen, das Flickenkönnen.
Ich glaube, dass wir die ~Kompetenz zu wohnen~ als einen Bestandteil der Grundbildung des Menschen verstehen sollten. Das Wohnbauwesen und noch mehr die Einrichtungsindustrie spiegelt den Leuten das Wohnen als einen Konsumbereich vor. Diese fatale Tendenz sollte neutralisiert werden durch eine Stärkung der Individuen und Familien, welche befähigt zum Urteil und zur freien Wahl. Der Vorbereitung von Lehrern für das Wohnen ist ganz besondere Sorgfalt zu widmen. Sinnvolles Wohnen kann nicht als Auftrag an irgendwelche Fachleute delegiert werden. Es geht uns vielmehr alle an. Die Verbesserung des Wohnens ist deshalb in erster Linie eine Aufgabe von Aufklärung und Erziehung.
(5) Die psychosoziale Bedeutung des Wohnens von Individuen und Gruppen kann unter drei Dimensionen oder Polaritäten beschrieben werden. Im Prinzip müsste von jeder gestalterischen Komponente einer Baute ausgesagt werden können, welche psychosoziale Bedeutung in bezug auf bestimmte Personen oder Gruppen zu einer gegebenen Zeit dadurch erzielt wird. Das heisst mit andern Worten, zu welchen Tätigkeit die Baute herausfordert.
Diese Dimensionen können folgendermassen beschrieben werden:
(a) Anregung - Beruhigung
Wohnungen sollen darin lebenden Personen einerseits das vertraute Heim bieten, von dem Kinder und Erwachsene immer wieder "in die Welt draussen" ausgehen und immer wieder in die vertraute "eigene Welt drinnen" zurückkehren können. Die Wohnung selbst soll aber auch so reichaltig sein, dass den Bewohnern, insbesondere den Kindern, Möglichkeiten zur Ausweitung und Entwicklung von neuen Tätigkeiten und Fertigkeiten zur Verfügung stehen. Die physischen Gegebenheiten der Wohnung und ihrer Umgebung sind ein grundlegendes Mittel zur Regulation des emotionalen Zustandes eines Menschen zwischen Anregung/Erregung und Beruhigung/Ruhe. Das Optimum ist nicht eine Konstante, sondern wechselt ständig unter der Steuerung von innern biologischen Rhythmen und willentlichen Zielsetzungen wie auch von den äusseren Gegebenheiten und Geschehnissen, mit den eine Person in Kontakt tritt. Entscheidend ist die Möglichkeit des Wechsels über einen gewissen Variationsbereich. Die Wohnung sollte durch ihre räumliche Strukturierung und Vielfalt wie natürlich auch durch ihre Ausstattung eine gewisse Spielbreite für den stündlichen und täglichen Wechsel zwichen den Polen Beruhigung und Anregung anbieten.
b) Rückzug - Interaktion
Eine zweite Dimension der psychosozialen Bedeutung des Wohnens betrifft den sozialen Bezug des Individuums zu den andern Personen im näheren oder weitern Umfeld. Auch hier kann die bauliche Gestaltung die Regulation zwischen zwei Polen je nach dem hemmen oder unterstützen. Diese sind der Rückzug auf sich selbst und die Interaktion mit den Andern. Die Wohnung und ihre Teile wie auch die Wohnumgebung haben in mancher Hinsicht territorialen Charakter, d. die Teile des Raumes werden in unterschiedlichem Ausmass als zugehörig empfunden. Zwei wesentliche Voraussetzungen für einen sinnvollen Wechsel zwischen den beiden Polen ist die räumliche Gliederung mit durchlässigen Grenzen und die Möglichkeit der Personalisierung. Erwünscht ist einerseits, dass man sich stets in seinen eigenen, sicheren und unstörbaren Privatbereich zurückziehen kann und anderseits, dass man doch immer wieder genötigt ist, mit den Andern zusammenzukommen. Das gilt sowohl für die Wohngruppe als ganze in den Grenzen der Wohnung wie auch für jeden einzelnen Bewohner in den Grenzen des eigenen Zimmers.
(c) Selbstdarstellung und Identitätspflege
Schliesslich ist die Wohnung für ihre Bewohner, insbesondere für die Familie, ähnlich wie die Kleider für den Einzelnen ein wesentliches Element der Darstellung seiner selbst für den Andern (Selbstdarstellung) und auch ein wesentliches Element der Beeinflussung seiner selbst und der nahen Bezugspersonen (Identitätspflege). Mit der der Mehrzahl der heutigen Wohnungen ist es sehr schwer, nach aussen kund zu tun, wer man ist oder sein möchte. Dementsprechend sind die nachbarschaftlichen Beziehungen allzu oft durch Mutmassung und Argwohn gekennzeichnet, und nicht selten führen Missverständnisse entweder zu Konflikten oder man flieht in die Anomymität. Entscheidend ist also hier wieder die "Personalisierung der Wohnung und der Wohnumgebung, die in der arbeitsteilig gefertigten Architektur weitgehend auf den Konsum von Mobiliar beschränkt ist. Ein Minimum an Umweltgestaltung, das jederman selber "machen" können sollte, dient aber nicht nur der Kommunikation mit den Andern, sondern wirkt auch auf einen selbst zurück: durch die Art und Weise der Gestaltung von Wohnung und Wohnumgebung setzt man sich selbst und den Beziehungspersonen "Aufgaben"; man reguliert so die Aktivitäten des Alltags.
Es ist derzeit nicht möglich, über die Andeutung durch die oben dargestellten Beispiele hinaus in systematischer Weise die Beziehung zwischen diesen psychosozialen Dimensionen des Wohnens und baulichen Gestaltungselementen im Einzelnen durchzuführen. Dazu fehlen die geeigneten Forschungsunterlagen.