Alfred Lang

University of Bern, Switzerland

Journal Contribution 1981

Psychologie -- Fortschrittsgläubig oder zukunftsträchtig?

1981.05

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Bulletin der Schweizer Psychologen (BSP) 2 (Juli) 211-215.

© 1998 by Alfred Lang

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Die folgenden Texte entstanden im Hinblick bzw. in Reaktion auf eine Diskussionsstunde, welche anlässlich der Jahresversammlung des Verbandes Bernischer Psychologen (VBP) im April 1981 vom Vorstand organisiert worden ist. Für die Zusammenstellung der Diskussionsbeiträge zeichnet die Medienkommission des VBP verantwortlich. Das die Diskussion auslösende Kurzreferat von A. Lang wurde für den Druck überarbeitet (einigen Votanten lagen nur die kürzeren Vortragsnotizen vor). Es bringt nur die kritischen Vorüberlegungen zum Thema; ein zweiter, konstruktiverer Teil wird bei einer späteren Gelegenheit folgen.

Die Redaktion


Vorüberlegungen zum Beitrag der Psychologen bei der Gestaltung der Zukunft

 

Ich glaube, es ist hochste Zeit, dass sich die Psychologen aktiver in gesellschaftspolitischer Hinsicht engagieren: die nachfolgenden Ueberlegungen dazu sind kritischer Art, kritisch am gegenwartig vorherrschenden Modell der Anwendung von Psychologie. Um Missverstandnisse zu vermeiden, muss ich vorweg betonen, dass ich dieses gegenwartige Modell nicht einfach aus der Welt hinauskritisieren mochte, sondern bloss darauf aufmerksam machen will, dass wir auch Modelle der Anwendung der Psychologie entwickeln mussen, die zukunftsträchtiger sind.

Beginnen wir mit Adam und Eva. Am Wachstumspunkt unserer Kultur steht der "Befehl Gottes": macht Euch die Erde untertan! In dieser Linie ist die abendlandische Kultur gemacht worden, die im Kern darin besteht, dass der Mensch als Ebenbild Gottes die Welt noch einmal auf seine Weise schafft, so wie sie ihm und seinen Interessen eben gelegen kommt. "Der Mensch" heisst hier in erster Linie: "der mächtige Mensch". Dieser Mensch versteht die Natur und einiges mehr als ein Gegenuber, ein Objekt, eine Aufforderung zum Machen. In dieser Linie hat die abendländische Kultur den Rest der Welt überschwemmt und ist im Begriff, alle anderen Kulturen auszurotten, bzw. ihr selbst anzugleichen (was etwas euphemistisch Entwicklungshilfe genannt wird). Kultur ist hier nicht nur ein Gegenpol zu Natur, sondern auch ein Versuch, Natur zu überwinden. In dem kulturellen Entwicklungsprozess, der sich der biologischen Evolution auflagert, sind die verschiedenen Wissenschaften und die durch sie ermöglichten Technologien ein zentrales Instrument.

Auch die wissenschaftliche Psychologie ermöglicht Technologien, solche bezüglich des Umgangs nicht mit der Natur, sondern mit den Menschen, vor allem mit dem Handeln der Andern. Die Herausbildung einer solchen Wissenschaft ist nichts als ein logischer und unvermeidlicher Bestandteil der geschilderten kulturellen Entwicklung. Denn da es ja immer Menschen sind, welche über die physikalischen, chemischen, biologischen usw. Technologien verfügen, muss man sich wohl auch diesem verfügenden Menschen auf eine wissenschaftliche Art und Weise widmen, wenn man die Beherrschung dieser Erde immer weiter perfektionieren will. Insofern die "klassischen" Technologien Herrschaftsinstrumente sind - zunächst der Natur gegenüber -, sind die psychologisch fundierten Technologien so etwas wie die Krönung dieser Entwicklungslinie: sie machen die Menschen "verfügbar". Sie enthalten jedenfalls ein Potential dazu.

Solche Einsichten - hier sehr verkürzt dargestellt - lassen ahnen, dass jeder Psychologe in einem höchst vertrackten Dilemma handelt.

Einerseits kann man heute mit Grund vermuten, dass die Nutzung solcher Human-Technologien mit beträchtlichen Risiken verbunden ist. In den letzten Jahrzehnten sind die Risiken der Natur-Technologien, der physikalisch-chemischen und der biologisch-medizinischen, zunehmend ebenso sichtbar geworden, wie ihr unmittelbarer und unbestreitbarer Nutzen, nachdem man eine lange Zeit allgemein fast nur ihren Nutzen sehen wollte. Auch Für die Human-Technologien gibt es aber die analogen Gefahren unvorhergesehener Nebenwirkungen; darüberhinaus wird noch auf ein besonderes Risiko hinzuweisen sein.

Die Übernutzung oder Ausnutzung der Menschen vorwiegend im Interesse derjenigen, die über diese Technologien verfügen, zerstört offenbar auf die Dauer den genutzten Menschen genauso wie die Uebernutzung der Natur die Natur zerstört. Das sind zunächst Prozesse, die lange vor und unabhängig von jeder wissenschaftlichen Psychologie eingesetzt haben. Ohne dass ich nun die Rolle wissenschaftlicher Psychologie und verwandter Disziplinen in diesem Prozess heute allzu sehr übertreiben möchte, kann man wohl die psychologiegestützte Uebernutzung des Menschen allenthalben beobachten; man denke an Stichworte wie Objektivierung der Leistungsmessung, Optimalisierung von Lernplänen, Perfektionierung betrieblicher Organisationen, Konformitätsdruck bezüglich psychosozialer Normen usf. Wir Psychologen sind da oft zu bescheiden in der Einschätzung unserer Wirkungen, besonders dann, wenn unsere Erkenntnisse oder unser Halbwissen zum Allgemeingut geworden sind. Natürlich ist längerfristig auch dem Nutzer der Genutzten nicht gedient; da er dabei nicht nur seine Ressourcen, sondern auch sich selbst zerstört; die sog. Managersymptome sind ja doch wohl bloss Spitzen von Eisbergen. Das ist wie beim Atomkrieg, der nicht nur den Andern zerstört, sondern auch dem Angreifer das Feld zu verseuchen droht. Nicht von ungefähr habe ich gewisse Psychologie-Anwendungen als eine Form von Umweltverschmutzung gebrandmarkt (LANG 1979). In diesem Zusammenhang kann ich die Bemerkung nicht unterdrücken, dass ich nicht verstehe, wie man gleichzeitig gegen Atomtechnologie, aber für Psycho-Technologie sein kann.

Aber über diese den Natur- und Kulturbedrohungen analogen Wirkungen hinaus scheint mir durch Human-Technologien noch ein besonderes Risiko gegeben: Psycho-Technologien setzen notwendig den Andern als ein Objekt für ihr Handeln voraus. Das impliziert ein bestimmtes Menschenbild. Kann man nun so handeln und gleichzeitig ein sehr anders Menschenbjld hochhalten, nämlich anerkennen, dass dieses Objekt meines Handelns seinerseits auch Subjekt seines eigenen Handelns ist? (Vgl. dazu die Anregungen von SUAREZ, 1980).

So weit die eine Seite des Dilemmas. Einsichten dieser Art könnten die Psychologen in ihrem Handeln vorsichtiger machen, im Extremfall bis zur Handlungsunfähigkeit. Ich habe Grund anzunehmen, dass nicht wenig Psychologen so oder ähnlich empfinden.

Nun gibt es aber sehr überzeugende Argumente, die darauf hinauslaufen, dass über kurz oder lang der Schwächere ist, wer auf Technologien am Menschen und mit dem Menschen verzichtet. Der abendlandischen Kulturentwicklung ist ein Automatismus eigen, dessen perverse Folgen wir nun schon an vielen Beispielen im physikalisch-chemischen oder im biologisch-medizinischen Bereich von der Waffensystem-Proliferation bis zur Super-Medizin oder den Gen-Manipulationen beobachten können. Sollte diese Entwicklung vor dem Umgang mit dem menschlichen Handeln halt machen? Das können nur idealistisch-weltblinde Psychologen glauben, die ihre Wissenschaft für reine Sandkastenspiele halten und sich damit selbst disqualifizieren.

Ich erwarte jedenfalls, und kann das allenthalben schon beobachten, dass sich jetzt und künftig Machtstrebende der Dienste der Psychologen genauso versichern werden wie sie jederzeit die Pädagogen für ihre Ziele eingespannt haben.

Das heisst möglicherweise: wir haben gar keine Wahl. Auf der zweiten Seite des Dilemmas können wir auf die Psycho-Technologie nicht verzichten. Es sei denn, wir erklären uns à forfait zu Opfern der Psycho-Technologien im Dienste derjenigen, die nicht von Skrupeln geplagt sind. Das ist im Grunde, was wir allenthalben heute beobachten. Es ist ja eine der intrigierenden Einsichten der Evaluationsforschung, angefangen mit den Hawthorne-Versuchen, dass Psycho-Technologien eine Tendenz haben, wenigstens zunachst einmal auch dann wirksam zu sein, wenn ihnen jede Fundierung in der Wirklichkeit abgeht; denn sie werden von handelnden Subjekten zu eigen übernommen, die daran glauben wollen. In der Tat ist unsere Welt voll von angewandter Psychologie; aber die Psychologen, weil sie mit Recht finden, der grösste Teil dieser "Psychologie" bestehe aus Mythen, wenden sich davon schnöde ab und pflegen ihre spezielleren Interessen.

Vielleicht haben sich die meisten Psychologen auf die Konsequenzen dieser zweiten Seite des Dilemmas eingestellt. All jene Technologien, die direkt oder indirekt die Menschen betreffen, können wir ja nicht aus der Welt schaffen. Also sieht man seine Rolle darin, den Menschen einen Halt zu geben in der Überschwemmung durch die Überforderungen; ihm angesichts der vielerlei Kräfte, die ihn zu ihrem Spielball machen, wenigstens ein Minimum an Funktionsfahigkeit zu vermitteln; ihn zu beraten, wie er sich am besten darin zurechtfinde; ihm nach Fehlentwicklungen zu helfen, wieder eine "voll funktionierende Persönlichkeit" zu werden; den Menschen aus äusseren und inneren Abhängigkeiten zu befreien. -- Gegen diese Auffassung der praktischen Psychologie muss ich einen fundamentalen Einwand anbringen: das ist den Teufel mit dem Belzebub auszutreiben versucht: zwar eine altbekannte, aber etwas riskante Strategie. Denn es ist doch einfach nicht wahr, dass eine professionnelle psychosoziale Betreuungsbeziehung m Unterscshied zu einer nicht-professionellen, dh direkt-menschlichen Beziehung grundsätzlich emanzipatorischen Charakter hat. Das zeigt schon der paradoxe Gehalt der impliziten Anweisung, man selber zu sein.

Ich möchte es der Deutlichkeit halber hart formulieren, auf die Gefahr hin, dass man mein Argument nicht ernst nimmt: Ich kann in der wissenschaftlich fundierten psychologischen Praxis durch eine eigens dazu etablierte Gilde von Fachleuten nichts anderes sehen als eine Fortsetzung der gleichen Linie von Weltbeherrschung, insbesondere ihre Ausdehnung auf perfektionierte Menschenbeherrschung. Versuchen wir, so lautet die Rechtfertigung, um humanitärer Ziele willen soviel Unheil wie möglich, das die anderen Technologien angerichtet haben und anrichten, durch eine weitere Technologie, eben die Psycho-Technologie, wieder zu beheben.

Eine Variante dieses Denkens ist die Technologie-Verleugnung, der Verzicht beispielsweise mancher psychotherapeutischer Schulen auf fundierte Technik bzw. deren Ersetzung durch Appelle an persönliche Echtheit und humanitären Eros; da kann ich nur sagen: um so schlimmer für die davon Betroffenen'

Nichts gegen die humanitären Motive und die schlichte Notwendigkeit psychosozialer Betreuungssysteme. Aber auf die Dauer kann es mit den Technologien nicht so weitergehen. Angewandte Psychologie ist insgesamt in meinem Empfinden eine fortschrittsgläubige Institution, und das heisst heute: an der Fortsetzung der bisherigen Traditionen orientiert und mithin ihrem Wesen nach reaktionär. Und ich sage dies durchaus im Bewusstsein, wie angedeutet, dass jede Gruppe, die sich der Nutzung von Psycho-Technologien verweigert, wohl auch früher oder später auf dem kürzeren Hebelarm sitzt.

Mein Plädoyer ist hier für intensive Bemühungen, auf eine Welt hinzuarbeiten, die dem geschilderten Dilemma entgehen könnte. Die Aufforderung geht ins besondere an die Psychologen. Sie bringen die neuste Eskalation der Technlogie in die Welt, Technologie mit einem Objekt, dessen "Objektmachung" ganz besonders heikle Probleme aufwirft. Die Beschaftigung mit dem Menschen ist aber vielleicht mehr als andere Disziplinen geeignet, konstruktive Ideen für eine alternative Welt zu erarbeiten; oder sie sollte es jedenfalls sein. Wir Psychologen sollten deshalb in erster Linie an der Verantwortung mittragen, dass wir aus der geschilderten Entwicklungslinie der Technologie-Proliferation "ausbrechen". Lösungen liegen nicht auf dem Tisch, Patentrezepte sind unwahrscheinlich. Aber Nachdenken und Ideenaustausch sind überfällig.

 

Literatur:

LANG, A.: Stellungnahme gegen die Reglementierung der Psychotherapie aus der Sicht eines allgemeinen Psychologen und eines besorgten Bürgers. Schweiz. Zeitschrift für Psychologie und ihre Anwendungen 38 (4), 1979, 290-299.

SUARAEZ, A.: Connaissance et action: l'enjeu d'une position épistémologique contemporaine. Revue Suisse de Psychologie pure et appliquée 39 (3), 1980, 177-199.

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