Alfred Lang |
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Book Chapter 1979 |
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Die Feldtheorie von Kurt Lewin |
1979.03 |
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25 / 32KB Last revised 98.10.31 |
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Pp. 51-57 in: A. Heigl-Evers (Ed.) Lewin und die Folgen. Kindlers Enzyklopädie: Die Psychologie des 20. Jahrhunderts. 8. Zürich, Kindler. |
© 1998 by Alfred Lang |
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Die Feldtheorie von Kurt Lewin (1926, 1936, 1946; vgl. 1963) steht in der gestalttheoretischen Tradition und ist neben den Trieb- und Vermögenstheorien, den Lerntheorien und der Psychoanalyse einer der grundlegenden Ansätze zur Erklärung menschlichen Verhaltens, die in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts formuliert worden sind (s. auch die entsprechenden Beiträge in dieser Enzyklopädie). Ähnlich wie die Psychoanalyse beschäftigt sich die Feldtheorie mit dem Verhalten in seiner Gesamtheit und beansprucht also den Einschluß sowohl des Richtungsaspektes (Ordnung der psychischen Organisation, kognitive Strukturen) wie des Intensitätsaspektes (Antrieb und Ziele, motivationale Dynamik). Sie sucht jedoch die problematische Trennung aller wesentlichen Ansätze zwischen innenbedingtem Wollen und/oder Antrieb einerseits und außenbedingter Ordnung andererseits zu überwinden. Das Erleben, das Verhalten und Handeln, die Persönlichkeit und ihre Entwicklung sowie die zwischenmenschlichen Prozesse (im folgenden der Kürze halber insgesamt als »Verhalten« bezeichnet) werden in der Feldtheorie aufgefaßt als die Folge einer strukturierten und dynamischen Gesamtheit von Bedingungen, in welche personeigene und aus der Umwelt auf das Individuum einwirkende Gegebenheiten eingehen und einen unauflöslichen Systemzusammenhang bilden. So wie das Verhalten Gestaltcharakter aufweist, müssen auch die ihm zugrundeliegenden Bedingungen als eine dynamische Struktur aufgefaßt werden, in welcher »der Zustand jedes Teils . . . von jedem andern Teil abhängt« (Lewin 1963, 69). Die Gesamtheit dieser Bedingungen ist das psychologische Feld oder der »Lebensraum«.
WISSENSCHAFTSTHEORETISCHE GRUNDLAGEN
Die Aufgabe der Psychologie besteht für Lewin darin, dieses psychologische Feld als die Bedingungsgrundlage des Verhaltens eines Individuums für jeden Zeitpunkt seiner Entwicklung zu »rekonstruieren«. Dazu gehört die Tatbestandsaufnahme aller zu dem gegebenen Zeitpunkt für das Individuum wirksamen Gegebenheiten in der Person und aus der Umwelt. Die Kenntnis der im psychologischen Feld herrschenden Gesetzmäßigkeiten würde dann stets die Konstruktion des Lebensraumes im nächstfolgenden Zeitpunkt ermöglichen und so bei adäquater Tatbestandsaufnahme das Verhalten des Individuums erklären.
Es handelt sich also bei der Feldtheorie um einen strikt deterministischen Ansatz, der das zu erklärende Verhalten allein aus den zugleich gegebenen Ursachen bedingt versteht. gleichzeitig ist die Feldtheorie ihrem Wesen nach entwicklungspsychologisch, da sich der Zustand des Lebensraumes zu einer gegebenen Zeit stets gesetzmässig aus dem unmittelbar vorhergehenden Zustand sowie den zusätzlich wirkenden äußeren Bedingungen ergibt.
Infolge der Offenheit dieser Entwicklungsreihe in die Zukunft (Lewin 1922; vgl. auch Lang 1964,18 ff) ist die Rekonstruktion des Lebensraumes eine nie zu vollendende Aufgabe. Da ferner jedes Individuum seine nur ihm selber eigene Entwicklungsreihe hat, ist strenge Gesetzmäßigkeit der Erklärung seines Verhaltens nur in einer Psychologie für das betreffende Individuum möglich. Allerdings akzeptiert Lewin (1927) auf dem Hintergrund ähnlicher biologischer Ausstattung der Individuen und angesichts der Ähnlichkeit der verschiedenen Ausschnitte aus der gleichen äußeren Welt, in denen sich alle Individuen entwickeln, Regelmäßigkeiten in der Bedingtheit des Verhaltens, die eine begrenzte Generalisierung zwischen Individuen und in die nähere Zukunft der Entwicklung zulassen sollten (vgl. Lang 1977,1978 a).
Eine strenge, die Formulierung von Gesetzen anstrebende Psychologie ist mithin praktisch wenig sinnvoll und auch theoretisch günstigstenfalls auf einen Zeitschritt in der Entwicklungsreihe eines Individuums beschränkt. Sie entgeht schwerlich der Gefahr, von der Erfahrungswelt abgeschnitten und in eine »reine« Welt psychologischer Konstruktion eingekapselt betrieben werden zu müssen. Auch die Rekonstruktion des Lebensraumes eines konkreten Individuums in einer konkreten Situation ist infolge der ungeheuren Komplexität der Bedingungen immer nur in grober Approximation möglich. Grobe Approximation gilt erst recht für eine allerdings praktikable Psychologie der Regelmäßigkeiten. Die Feldtheorie ist also »nicht eine Theorie im üblichen Wortsinn«, sondern allenfalls »eine Methode der Analyse von Kausalbeziehungen und der Synthese wissenschaftlicher Konstrukta« (Lewin 1963,87).
Dementsprechend besteht die Feldtheorie im Grund aus einem Angebot an (zumeist als vorläufig hingestellten) Konstrukten, die nach der Meinung Lewins geeignet sind, psychologische Sackverhalte umfassend und in ihren essentiellen Zügen zu beschreiben. Die begrifflichen Beziehungen zwischen diesen Konstrukten sind Formulierungen psychologischer Gesetze. Lewin und seine Schüler und Mitarbeiter in Berlin und in den USA haben viele faszinierende Illustrationen zu diesen Konstrukten bereitgestellt (vgl. die unter dem Titel »Untersuchungen zur Handlungs- und Affektpsychologie« 1926-1937 in der »Psychologischen Forschung« publizierten Berliner Dissertationen, die Sammelbände von Lewins Aufsätzen 1935, 1953, 1963 sowie die Übersichten bei Deutsch 1954, Cartwright 1959, Marrow 1969 und de Rivera 1976). Allerdings wird bei den meisten dieser Untersuchungen verhältnismäßig wenig Gewicht auf die sogenannten »koordinierenden« oder operationalen Definitionen gelegt, mittels derer die psychologischen Konstrukte den Gegebenheiten der Erfahrungswelt eindeutig zugeordnet werden könnten. Meines Erachtens ist die Feldtheorie also im wesentlichen ein heuristisches Instrument - geeignet vor allem zum Verstehen psychologischer Konstellationen und Prozesse -, das sich in der Tat als außerordentlich fruchtbar für die Findung von Erkenntnis erwiesen hat.
Versteht man Lewins Ansatz jedoch als eine Theorie im engeren Sinn und erwartet von ihr Anleitung zur Rechtfertigung formulierter Erkenntnis, so ist Enttäuschung unvermeidlich. Es kann hier nicht untersucht werden, ob diese Eigenschaft für die Feldtheorie spezifisch ist oder ob vielleicht alle psychologischen Theorien von einigem Allgemeinheitsanspruch keineswegs rechtfertigungsfähige und rational generalisierbare Erkenntnis darstellen, sondern bestenfalls fruchtbare Forschungsprogramme sind (vgl. etwa Herrmann 1976; Lang 1978 b).
Das Denken Lewins zeugt jedenfalls von einem für einen Psychologen ungewöhnlich tiefen und höchst modernen wissenschaftstheoretischen Bewußtsein (vgl. 1922, 1931, 1936, 1963). Im Gegensatz zu den anderen Gestalttheoretikern wendet sich Lewin gegen physiologischen Reduktionismus und betont, daß eine wissenschaftliche Beschreibungs- und Erprobungspezifischen Begriffen und Gesetzen, mehr durch den jeweiligen begrifflichen Ansatz als durch unterscheidbare Gegenstände voneinander verschieden (Lewin, 1963,171; vgl. dazu etwa Lakatos, dargestellt bei Herrmann 1976).
In mancher Hinsicht kann die Feldtheorie als ein Vorläufer der Allgemeinen Systemtheorie für offene Systeme (von Bertalanffy 1968) bezeichnet werden. Gemeinsam ist den beiden Ansätzen der hohe Allgemeinheitsanspruch, die Beschäftigung mit gegliederten Ganzheiten und ihrer internen Dynamik sowie die Betonung des ökologischen Prinzips (vgl. unten). Allerdings zieht Lewin ganz andere Beschreibungsbegriffe für Strukturen und Prozesse bei und entwickelt demgemäß einen andersartigen (und nicht voll durchführbaren) Formalismus, da er nicht über die modernen mathematischen Mittel von Kybernetik und Informationstheorie verfügt und zudem glaubt, den Gestalteigenschaften des Psychischen durch die Vermeidung der Annahme elementhafter Gegebenheiten gerecht werden zu müssen.
ZENTRALE KONSTRUKTE DER FELDTHEORIE
Lebensraum. Wohl das wichtigste der Lewinschen Konstrukte ist der Lebensraum oder das psychologische Feld. Es ist die Konstruktion, die der Forscher herstellt, wenn er Aussagen über die Verhaltensbedingungen eines Individuums zu einer gegebenen Zeit machen will. Der Forscher trifft das konkrete Individuum in einer konkreten Situation (Weltausschnitt) an. Dementsprechend muß der Lebensraum eine Repräsentation des Individuums selbst (genannt die psychologische Person) und eine Repräsentation eines Weltausschnittes (die psychologische Umwelt) enthalten. In der psychologischen Umwelt sind aber nur jene Gegebenheiten aus der Welt zu repräsentieren, welche für das Individuum gegenwärtig von Bedeutung sind; und sie sind so zu repräsentieren, wie sie vom Individuum »verstanden« werden. Die psychologische Umwelt ist also durch vorausgehende Wahrnehmung der realen Welt und/oder durch von früher her im Gedächtnis verfügbares »Wissen« um die Welt konstituiert. »Wissen« und »Verstehen« ist hierbei nicht mit »bewußtseinsfähig« gleichzusetzen, da auch das Verhalten von Säuglingen und Tieren durch ihren Lebensraum determiniert ist. Das bewußte Erleben, z. B. die Vorstellungen über Vergangenheit und Zukunft (Zeitperspektive) oder Tagträume und Gedankenspiele (Irrealitätsebene) können aber durchaus als ein besonderer Teil des Lebensraumes verstanden werden. Lewin bedient sich zur Darstellung des Lebensraumes einer geometrisch-topologischen Hilfskonstruktion, indem er auf einem Blatt einen in sich geschlossenen Linienzug zeichnet. Die Fläche innerhalb dieses Ovals stellt den Lebensraum dar; sie umfaßt sowohl die psychologische Umwelt wie die psychologische Person (s. auch den Beitrag von T. Herrmann in Bd. I, 589 f, dieser Enzyklopädie).
Psychologische Ökologie. Die Fläche um das Oval herum heißt die »äußere Hülle« und repräsentiert im Prinzip die Gesamtheit der Welt, die im Moment für das Individuum ohne Bedeutung ist. Sie ist aber von Interesse, weil gewisse Teile der äußeren Hülle im nächsten Moment sehr wohl für das Individuum von Bedeutung sein können, nämlich dann, wenn sie durch Wahrnehmung in den Lebensraum eingehen. Das Individuum verändert ja die Welt fortlaufend ein wenig durch sein Verhalten, und dadurch sowie durch seine veränderte Lage in der Welt werden laufend neue Weltausschnitte der Wahrnehmung zugänglich; zudem ändert sich die Welt, besonders auch die soziale Welt, von sich aus.
Obwohl die Feldtheorie, wie schon vermerkt, weitgehend postperzeptuell und präbehavioral (Brunswik) ist, hat Lewin als einer der ersten Psychologen nachdrücklich eine psychologische Ökologie gefordert (1963, 98 ff. und Kap. 8), die Aussagen darüber machen kann, was für Ausschnitte aus der physischen, sozialen und kulturellen Welt für ein Individuum in der Abfolge der Zeit in den Lebensraum eingehen können. Wenn wir echte Verhaltensvorhersagen machen wollen, müssen wir über systematisches Wissen dieser Art verfügen. Es ist aber offensichtlich, daß die gegenwärtige Psychologie trotz eifriger Beteuerungen dieser Zielsetzung - dazu nicht in der Lage ist. Denn sie hat bisher nur ad hoc und mit unzureichenden Mitteln wie der Alltagssprache und einigen Anleihen aus der Physik sogenannte »Reize« definiert; von einigen speziellen Fällen in der Psychologie sensorischer Prozesse einmal abgesehen kennt man den Zusammenhang dieser »Reize« untereinander nicht. Eine ökologisch orientierte Psychologie (vgl. etwa Graumann 1978) setzt also eine psychologisch orientierte Ökologie voraus.
Psychologische Umwelt. Der Gliederung der Fläche innerhalb des Ovals entspricht die Struktur der psychologischen Umwelt. Lewin bedient sich der Topologie zur Darstellung des statischen Aspekts des Lebensraumes: Regionen, die Grenzen zwischen ihnen sowie die topologischen Relationen des Angrenzens, des Entferntseins, des Einschließens, Ausschließens usw. sollen den Aufbau der kognitiven Struktur des Individuums, wie sie im Moment wirksam ist, abbilden. Die Regionen können mögliche Zustände des Individuums (krank sein, bewundert werden usw.), potentielle Tätigkeiten (gehen, essen) oder auch Gegebenheiten der physischen, sozialen oder kulturellen Welt wie Objekte oder Personen oder Begriffe darstellen. Die topologischen Relationen zwischen den Regionen (z. B. daß man von Region A nur über B, C, D . . . nach Z gelangen kann) spiegeln die vielfältige und vieldimensionale Struktur der Welt wider, freilich so, wie sie das Individuum »versteht«.
Psychologische Person. Lewin konzipiert die psychologische Person einerseits als eine Art »Massenpunkt«, der sich im Lebensraum von Region zu Region bewegen kann und damit die potentiellen Zustände und Tätigkeiten aktualisiert. Die »topologische Psychologie« (1936) zur Beschreibung des Ordnungsaspektes der psychischen Organisation wird damit durch die Dynamik der »Vektorpsychologie« (1938) erweitert. Denn die »Lokomotion« der psychologischen Person in der psychologischen Umwelt erfolgt aufgrund des Kraftfeldes, das jederzeit im Lebensraum herrscht, entlang den »Wegen«, die durch die topologische Struktur gegeben sind.
Das Kraftfeld seinerseits ist bestimmt durch die Beziehungen, die zwischen der Person und jeder einzelnen Region im Lebensraum bestehen. Diese Beziehungen werden im Konstrukt der Valenz (»Aufforderungscharakter«) erfaßt. In eine bestimmte Region zu gelangen kann aufgrund von Bedürfnissen oder Wertsetzungen des Individuums erwünscht oder unerwünscht sein. Alle anderen Regionen der psychologischen Umwelt nehmen entsprechend den vielfältigen Beziehungen zwischen ihnen ebenfalls zu einem größeren oder geringeren Grad positive oder negative Valenz an.
System in Spannung. Eine zweite Konzeption der psychologischen Person ist vor allem in den früheren Arbeiten zu finden. Hier wird auch die Person als strukturiertes System konzipiert, ohne daß allerdings den einzelnen Regionen bestimmte Bedeutungen zugewiesen würde wie beim Lebensraum. Von Interesse sind hier vor allem abstrakte und sehr allgemeine Parameter wie der Differenziertheitsgrad des Systems, die Stärke der »Wände« zwischen den Regionen und der Grad der Integration. Durch ein Bedürfnis oder eine »Vornahme« entsteht nicht bloß ein Netzwerk von Valenzen in der psychologischen Umwelt, sondern es steigt auch der Grad der Spannung innerhalb der psychologischen Person. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn das Kraftfeld im Lebensraum aus ungefähr gleich großen, aber entgegengesetzt gerichteten Kräften zusammengesetzt ist, so daß keine gerichtete Resultante zur Lokomotion der psychologischen Person führen kann. Das Verhältnis zwischen den beiden Auffassungen der psychologischen Person ist allerdings nicht völlig geklärt.
Verhalten. Das Verhalten des Individuums ist das empirische Korrelat aller Veränderungen im Lebensraum, insbesondere der Lokomotion der psychologischen Person in der psychologischen Umwelt. Lewin faßt das in die berühmt gewordene Formel
zusammen; und da der Lebensraum seinerseits konstituiert ist aus der psychologischen Person und der psychologischen Umwelt, heißt die Formel auch
Das ist insofern leicht mißverständlich, als es eigentlich heißen müßte:
während andererseits der Lebensraum vom Forscher auf der Grundlage der realen oder konkreten Person und Situation rekonstruiert wird:
Um den Lebensraum vollständig rekonstruieren zu können, müßte man freilich den Lebensraum zum vorhergehenden Zeitpunkt kennen sowie jeden weiteren zurück bis zum Anfang der Ontogenese. Da dies kaum möglich ist, wird die Feldtheorie tatsächlich mehr zu einer ex-post-Erklärungsweise.
WEITERE KONSTRUKTE UND UNTERSUCHUNGEN
Der Vorzug dieser und einer großen Zahl weiterer Konstrukte, die hier aus Raumgründen nicht besprochen werden können, besteht darin, daß sie gestatten, phänomenal ganz unterschiedliche Gegebenheiten in eine gemeinsame »Sprache« zu transformieren und somit einer umfassenden Behandlung zugänglich zu machen. Dies mag am Beispiel von Dembos Untersuchung »Der Ärger als dynamisches Problem« (1931) illustriert werden. Ein Vergleich mit der psychoanalytischen oder der lerntheoretischen Auffassung des Frustrationsphänomens macht den heuristischen Gewinn der feldtheoretischen Betrachtungsweise besonders deutlich.
Dembo hat ihren Vpn schwierige Aufgaben gegeben, die teilweise tatsächlich unlösbar waren, von deren Lösbarkeit sie aber die Vpn mit allen Mitteln zu überzeugen suchte. Entsprechend den empirischen Befunden zeigt die Konstruktion des Lebensraumes eines »frustrierten« Individuums - eine »Barriere« zwischen psychologischer Person und der Zielregion im Lebensraum, welche die Lösung der Aufgabe repräsentiert -, daß es nicht notwendig zu neurotischem Verhalten oder zu Aggression kommt, weil ja eine Änderung der Valenzstruktur ohne weiteres möglich ist und damit viele weitere Wege im Lebensraum offenstehen. Soll es wirklich zu einer Frustration kommen, so muß durch die Errichtung weiterer »Barrieren« im Lebensraum verhindert werden, daß die Person »aus dem Felde« geht. Für das Auftreten von »Ärger« genügen »innere« Barrieren, z. B. die Wahrnehmung der Schwierigkeit der Aufgabe; für das Auftreten von »Aggression« sind zusätzlich »äußere« Barrieren notwendig, z. B. die Verhinderung irgendwelcher anderer Tätigkeiten. Häufig beruhen diese äußeren Barrieren auf »sozial induzierten Feldern«, d. h. auf der Wirkung von sozialen Normen oder von konkreten Personen, die Einfluß auf die Situation ausüben können. Je nach deren Position im Valenz-Netz des Lebensraumes - beispielsweise ob sie oder mit ihnen verbundene Gegebenheiten positiv oder negativ bewertet werden - sind sehr unterschiedliche dynamische Strukturen und damit unterschiedliches Verhalten zu erwarten.
Es ist unmöglich, an dieser Stelle den ganzen Reichtum der von Lewin vorgeschlagenen Konstrukte darzustellen und die feldtheoretische Vorgehensweise auch nur in dieser einen, geschweige denn in der Vielzahl der weiteren Untersuchungen, die von Lewin durchgeführt oder angeregt worden sind, aufzuzeigen. Der interessierte Leser sei auf die Publikationen Lewins und seiner Mitarbeiter verwiesen; Bibliographien finden sich im Band »Feldtheorie
In den Sozialwissenschaften« (1963) sowie bei Marrow (1969) (vgl. auch den Beitrag von W. Metzger und die entsprechende Bibliographie in diesem Band). Vorzügliche und ausführlichere Darstellungen der Feldtheorie stammen von Deutsch (1954), Cartwright (1959), Baldwin (1967), Solle (1969) und de Rivera (1976).
BEWERTUNG
Dadurch, daß man in der Feldtheorie die Gegenstände und Ereignisse nicht aufgrund ihrer phänotypischen Ähnlichkeiten oder Unähnlichkeiten, sondern unter Anwendung bestimmter Konstrukte »konditional-genetisch« in Ausdrücken ihrer Interdependenz beschreibt, wird es möglich, eine Vielzahl von Tatsachen der Psychologie und der Sozialpsychologie in einem neuen Licht zu sehen (vgl. Lewin 1963, Kap. 6). Gewiß sind damit diese Gegenstände und Ereignisse noch nicht im Sinne traditioneller Theoriebildung erklärt; die vielen Untersuchungen, die von feldtheoretischen Konzepten angeregt worden sind, zeigen aber, daß diese Betrachtungsweise durchaus dazu dienen kann, das Feld für eine speziellere Theoriekonstruktion und kritische Experimente über besondere Fragen abzustecken. Man wird solche Mikrotheorien nicht gegen den allgemeinen, begriffschaffenden Ansatz ausspielen dürfen, wenn man auf eine gewisse Generalisierbarkeit der Mikrotheorien nicht verzichten will. Eine sorgfältige Lektüre des vorliegenden Bandes über sozialpsychologische Probleme wie auch weiterer Teile der modernen Psychologie zeigt, daß sich eine feldtheoretische Denkweise - freilich ohne den Lewinschen Formalismus - in sehr hohem und, wie mir scheint, in letzter Zeit zunehmendem Maß durchgesetzt hat. Davon zeugen nicht nur die vielen ursprünglich von Lewin vorgeschlagenen Konzepte, deren sich fast alle Psychologen bedienen; auch dort, wo die manchmal etwas eigentümlichen Lewinschen Konstrukte nicht übernommen worden sind, wird doch die Interdependenz aller Gegebenheiten in einem Systemzusammenhang mit einer früher unbekannten Selbstverständlichkeit vorausgesetzt.
Es läge Lewin sicher fern, dafür Urheberschaft zu beanspruchen. Manche Besonderheiten Lewinschen Denkens sind auf Unverständnis und Ablehnung gestoßen. Die Gründe dafür ausfindig zu machen, kann künftigen Wissenschaftshistorikern überlassen werden. Sicher ist, daß sich Lewins Traum von einem allgemeinen psychologischen Begriffsystem, das -- ähnlich wie das Mendelejewsche System der Elemente die Feuer-Wasser-Luft-und-Erde-Physik des Mittelalters -- unser heutiges Begriffs-Tohuwabohu ablösen müßte, noch nicht erfüllt hat. Ich glaube nicht, daß uns Lewin ein solches Fundament der Psychologie gegeben hat. Aber wesentliche Vorarbeiten dazu hat er geleistet; sie sind auch heute noch nicht voll ausgewertet.
LITERATUR
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ders. Wahrnehmung, Denken, Gedächtnis - psychische Funktionen »zwischen« Geist und Materie. In: M. Svilar (Hg.): Leib und Seele, Geist und Materie. Bern: Lang 1978 b (im Druck)
LEWIN, K.: Der Begriff der Genese in Physik, Biologie und Entwicklungsgeschichte: eine Untersuchung zur vergleichenden Wissenschaftslehre. Berlin: Springer 1922
ders. Vorsatz, Wille und Bedürfnis, mit Vorbemerkungen über die psychischen Kräfte und Energien und die Struktur der Seele. Psychologische Forschung, 7, 1926, 294-38, (teilweise in Lewin 1935, Kap. 2)
ders. Gesetz und Experiment in der Psychologie. Symposium I, 1927, 375-420 (Nachdruck: Darmstadt: Wissensch. Buchges. 1967)
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