Alfred Lang | ||
Edited Book Chapter 1978 | ||
Das Problem mit der Psychodiagnostik: Kein gutes Fundament für eine Profession! (Ein Nachwort) | 1978.03 | |
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Pp. 414-426 in: Ist Psychodiagnostik verantwortbar? -Wissenschaftler und Praktiker diskutieren Anspruch, Möglichkeiten und Grenzen psychologischer Erfassungsmittel Herausgegeben von Urs Pulver, Alfred Lang & Fred W. Schmid. Verlag Hans Huber Bern Stuttgart Wien, 1978 | © 1998 by Alfred Lang | |
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Die nachstehenden Gedanken sind einmal mehr, wie das unser Gegenstand wohl erzwingt, skizzenhaft. Ich muss auf die Behandlung einer ganzen Reihe von Themen, die mich in der Zwischenzeit und bei der zusammenhängenden Lektüre der vorliegenden Texte beschäftigt haben, verzichten. Ich habe auch davon abgesehen, verschiedene Missverständnisse, die in den Diskussionen zutage getreten sind, zu kommentieren; der geneigte Leser wird anhand der Texte dazu selber in der Lage sein. Was ich statt dessen versucht habe, ist, mein Verständnis einiger grundsätzlicher Aspekte des Problems mit der Psychodiagnostik noch einmal in einem gewissen Zusammenhang darzulegen, so etwas wie einen roten Faden durch meine Argumentation zu geben. Dass ich dies nach den Diskussionen der zwei Tagungen hoffentlich besser kann als vorher, dafür danke ich allen Teilnehmern, die so freundlich waren, auf den unerfreulichen Dialog einzutreten.
Das Anregende, aber auch das Unbefriedigende dieses Bandes über die Anwendbarkeit von Psychologie auf den konkreten Menschen beruht wohl darauf, dass ein sehr weiter Bogen gespannt wird von Methodenproblemen standardisierter Testdiagnostik bis hin zu sozialen, politischen und ethischen Grundfragen unseres Daseins. Aus naheliegenden Gründen besteht im allgemeinen die Tendenz, diese Fragen als mehreren verschiedenen Disziplinen zugehörig zu betrachten und daher sofern ihre rationale Behandlung erwünscht ist voneinander getrennt zu bearbeiten. Versucht man dennoch ihre umfassende Betrachtung, so ist man auf nicht-rationale Schlussweisen, auf Analogiedenken und ähnliche Vorgehensweisen, um noch einmal einen Ausdruck von Robert Musil aufzunehmen: auf ratioïdes Denken verwiesen.
Nicht-Schlüssigkeit (bezogen natürlich auf rationale Kriterien) ist solchem Denken seiner Natur gemäss einfach und leicht nachzuweisen. Auch wenn in einigen der Beiträge aus verständlicher Abwehrhaltung von diesem Gegenmittel Gebrauch gemacht wird, so finde ich es doch in der Rückschau bemerkenswert, dass so viele Angehörige einer Disziplin, welche Wissenschaftlichkeit als Rechtfertigung für ihr Tun beansprucht, in so weitgehendem Mass bereit sind, auch in fühlender und ahnender Weise auf die aufgeworfenen Fragen einzugehen. Man mag das abtun als unter dem Druck der Praxis gebildete, eigentlich unerfreuliche Denkgewohnheiten; man mag auch altvertraute Gegensätze. die unser Fach seit jeher belasten, dafür verantwortlich erklären; es könnte aber auch sein, dass der Rekurs auf solche Denkweisen dem Zeitgeist eminent verpflichtet ist, vielleicht einem Erschrockensein über überbordende Rationalität angesichts von reicherem Dasein entspringt. Es scheint allen Teilnehmern klar zu sein, dass unsere wissenschaftlich-rationalen Erkenntnisse und Methoden nur dann Sinn machen, wenn wir sie mit Werten und Zielen konkreter Menschen in Verbindung bringen. Zwar werde ich noch als Positivist verdächtigt (S.43,143) offensichtlich zu unrecht (S.124); aber alle Teilnehmer scheinen auch anzuerkennen, dass eine Chance für die Gemeinschaft darin liegt, mit einem rationalen Vorgehen, so weit das eben geht, einen gemeinsamen Boden zu erringen.
Wissenschaft und Praxis
Es mag Erstaunen hervorrufen, dass ich gewissermassen als ein "Vertreter der Wissenschaft" zur Gwatter Tagung eingeladen S.97 die Sprengung der Grenzen des Rationalen befürworte. Ich weigere mich aber, die übliche Gegenüberstellung von Wissenschaft und Praxis für sinnvoll zu halten. Das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Praxis sehe ich wie das von Teil und Ganzem.
Vertretbare Praxis in einer Welt von zusammenlebenden Menschen muss wenigstens teilweise auf wissenschaftliche Verfahren und Erkenntnis abstellen; vor allem aber betont Praxis das Setzen von Werten. Auch Wissenschaft muss Werte setzen, in der Auswahl des Gegenstandes, in der Bevorzugung bestimmter Theorien, in den Konventionen über die tauglichen Methoden, in jedem Fall und unvermeidlich!
Für das heikle Verhältnis zwischen Wissenschaft und Praxis oder um die Dialektik zu betonen zwischen Sachverhalten und Wertsetzungen gibt es vereinfachend gesehen drei grundsätzliche Lösungsmöglichkeiten:
1) Die in unserer Kultur bisher vorwiegend praktizierte ist die "Monopolisierung" der Erkenntnis von den Sachverhalten. Wer mehr Wissen über die Sachverhalte besitzt, neigt dazu, auch mehr Kompetenz in Wertfragen für sich zu beanspruchen. Unsere Gesellschaft ist in den letzten Jahrzehnten in einem erstaunlichen Ausmass bereit gewesen, diesen an sich unbegründeten B Anspruch zu akzeptieren.2) Ein zweiter Weg ist die bevorzugte Lösung linker und rechter Minderheiten: es ist die "Monopolisierung" der Wertsetzung oder die Konzentration der Macht. Wer darüber bestimmt, welche Ziele wertvoll sind, der vermag in einem erstaunlichen Ausmass oft auch zu deklarieren, was die "Wahrheit" ist und was nicht. Wie viele Beispiele zeigen, ist die Wissenschaft anfälliger für Kniefälle als sie selber gern möchte. Das ,gilt verstärkt für Wissenschaft, die viel Geld kostet.
3) Die dritte Variante die einzige, die mir eine Lösung zu sein scheint ist die "liberale" oder pluralistische. Da wir Menschen nicht nur Gesellschaftswesen, sondern zugleich auch Individuen sind, müssen wir es wohl als ein Grundrecht ansehen, dass jeder seine eigenen Ziele setzen kann. Natürlich finden diese Zielsetzungen ihre Grenzen an den Zielsetzungen der Andern; die gesellschaftliche Ordnung dient genau dazu, allen möglichst weitgehend ihre Ziele zu gewähren. Dass wir die meisten Ziele gemeinsam haben, und dass sie gemeinsam besser realisierbar sind, finden die Meisten bald einmal heraus.
Für das Verhältnis zwischen Sachkenntnis und Wertsetzung bedeutet die liberale Lösung, dass so weit wie immer möglich jene Wissenschaft vorzuziehen ist, welche in dem Sinne wertneutral ist, dass erst ihre Anwender darüber entscheiden, auf welche Zielsetzung hin sie davon Gebrauch machen wollen. Darin liegt aus meiner Sicht die einzige Garantie, dass eine Wissenschaft wie die Psychologie auf eine menschenwürdige Weise angewendet wird. Das ist dann der Fall, wenn die Erkenntnisse und Verfahren der Psychologie prinzipiell jedem Menschen zur Verfügung stehen anstatt einer ausgewählten Gruppe von Fachleuten und denjenigen, die sich der Fachleute für ihre Zwecke bedienen.
Das Problem mit der Psychodiagnostik
Bis vor wenigen Jahren galt die Psychodiagnostik als die Hauptanwendung der Psychologie im praktischen Bereich diese Rolle wird ihr jetzt von der Psychotherapie streitig gemacht. Meine Einwände könnten ebensogut bezüglich der eingreifenden Massnahmen vorgebracht werden; hier stehen aber die feststellenden Tätigkeiten des Psychologen im Vordergrund. Ich möchte noch einmal betonen, dass für mich Diagnose und Prognose, Entscheidung und Massnahme nur Aspekte ein und derselben psychagogischen Dienstleistung sind. So nützlich ihre getrennte Betrachtung für didaktische Zwecke sein mag, im konkreten Fall sind sie für den Betroffenen untrennbar ineinander verwoben. Ein ausgewogenes Verhältnis mögen sie in guter psychologischer Beratung bilden.
Am Beispiel der Psychodiagnostik versuche ich nun meine Argumentation in ihren wesentlichen Zügen noch einmal darzustellen.
1. Ich gehe von der Feststellung aus, dass die verschiedenen verfügbaren Hilfsmittel der Diagnostik im Rahmen psychologischer Dienstleistung zur angemessenen Beschreibung dessen, worauf es im Sinne einer neutralen Aussenansicht der Entwicklung von Individuen mutmasslich ankommt, nicht genügen. Das ist die Feststellung der "Krise der Diagnostik": an sich eine chronische Krise, in den letzten Jahren aber verdeutlicht durch die Wegwendung einer grossen Zahl früherer Diagnostiker hin zu direkter therapeutischer Intervention.
Diese These wurde kaum bestritten. Ein Kommentar ist aber angezeigt bezüglich des Ausdrucks "neutrale Aussenansicht". Auf dem Hintergrund des liberalen Lösungsmodells der Wertfrage ist es zwingend, dass der Diagnostiker die Bewertung der Feststellungen dem Auftraggeber überlässt. Das ist ein anerkannter Grundsatz im Fall der Auslese; im Fall der Beratung ist der mündige Klient der Auftraggeber. Der Auftrag besteht in jedem Fall in der "Lieferung von Material" ("Information"), sei es über den Probanden selbst, sei es über weitere relevante Umstände, sei es in Rohform, sei es mehr oder weniger weitgehend aufgearbeitet zur Vorbereitung der zu treffenden Entscheidungen. Dieses "Material" nenne ich die "Aussenansicht"; es mit der Innenansicht des Klienten, also seiner erlebten Existenz, gleichzusetzen (S.197, 209), scheint nun mir Begriffsverwirrung zu implizieren. Sicher kann diagnostisches Material zur Differenzierung der Innenansicht beitragen; so gut, wie es sie auch "verstellen" kann, dank des handlichen Angebots an Jargon.
Auf die Feststellung des Ungenügens der diagnostischen Hilfsmittel sind zweierlei Reaktionen möglich. Die bisher vorwiegende von der antipathischen Attitüde des Typs: "Psychisches sei grundsätzlich nicht messbar" abgesehen sind Bemühungen zur Verbesserung der Methoden. Sehr verbreitete und sehr intensive Bemühungen dieser Art haben nur einen sehr partiellen Erfolg gebracht. Mir scheint deshalb, man müsste einmal intensiver nach den Gründen dieses Misserfolgs suchen. Zweitens könnte man dann auch nach dem Sinn der entsprechenden Zielsetzung fragen.
2. Zur möglichen Begründung des Misserfolgs. Ich behaupte, dass es in der Natur der Sache liegt, dass die herkömmliche Psychodiagnostik nicht gut genug sein kann. Zwischen den geläufigen Konzeptionen der Persönlichkeit, auf denen die Diagnostik beruht, und einigen offensichtlichen, aber weitgehend vernachlässigten Eigentümlichkeiten des Individuums in der Welt besteht nämlich eine so starke Diskrepanz, dass eine viel umfassendere Methodik des Tatsachenfeststellens die übliche, auf konstante Personmerkmale zentrierte Psychodiagnostik ersetzen müsste.
Ich sehe hauptsächlich drei solcher Eigentümlichkeiten, von denen zwei in Referaten und Diskussionen der beiden Tagungen verschiedentlich genannt worden sind, während die dritte eigenartigerweise selten zur Sprache kommt. [1]
[1] Zwar hat Herr von Uslar in seinem Vortrag auf die Rolle der Situation, der objektiven und der wahrgenommen en, hingewiesen, er hat sich aber dann vor allem der diagnostischen Situation gewidmet.
Es sind dies:
a) das Problem der Individualität (auf dem Hintergrund nomothetischer Forschung über individuelle Differenzen, deren Aussagen allesamt populationsbezogen sind).b) das Problem der Entwicklung (angesichts von Methoden, die konstruiert sind, nur das Konstante zu erfassen). In diesem Zusammenhang möchte ich durchaus meine These, auf die Entwicklung des Individuums zu setzen (vgl. S.l26,137f.,206ff.) und Herrn Duponts Antithese von der konstanten Persönlichkeit (vgl. S.391) in die Synthese zusammenfliessen lassen, dass Stabilität und Wandel in angemessenem Verhältnis gelungenes Leben ausmachen.
c) das Problem des sogenannten Interaktionalismus, wie er etwa in Lewins (1963) berühmter Formel V = f (P,U)(Verhalten, Entwicklung , auch Persönlichkeit sei eine Funktion der psychologischen Person und der psychologischen Umwelt, vgl. auch Lang, im Druck) zum Ausdruck kommt. Dieses fundamentale Problem der Persönlichkeitspsychologie ist in den letzten Jahren sehr eingehend diskutiert worden (vgl. besonders Bowers, 1973; Endler & Magnusson, 1976; Magnusson & Endler, 1977). Man hat allerdings erst begonnen zu sehen, dass an der Wurzel dieses Problems die Vernachlässigung des ökologischen Aspekts der Psychologie liegt (vgl. Graumann, 1978). ZU einseitig hat man sich besonders in der Persönlichkeitsforschung und damit natürlich auch in der Diagnostik nur mit den Merkmalen und Verhaltensweisen der Person befasst und kaum eine systematische Methodologie entwickelt, die dem Umstand Rechnung trägt, dass keine Person anders als in einer Umwelt existieren kann, dass die Menschen diese Umwelt gestalten und beeinflussen; dass diese Umwelt auf die Menschen zurückwirkt.
Die traditionelle Psychodiagnostik missachtet meiner Meinung nach diese drei Eigentümlichkeiten psychologischer Sachverhalte weitgehend: die Testdiagnostik fast vollständig, die mehr intuitive, mit projektiven Verfahren und Gespräch operierende im günstigen Fall etwas weniger, allerdings für den Preis der aufgegebenen Kontrollierbarkeit. Sicherlich wehren sich viele Diskussionsteilnehmer in diesem Band mit Recht gegen meinen Vorwurf, man missachte diese drei Probleme auch in der Praxis. Ich anerkenne entsprechende Bemühungen durchaus; nur meine ich, dass ich so früh den Boden der Rationalität nicht aufgeben möchte.
Wieder so scheint es mir kann man auf diese Feststellungen mit zweierlei Reaktionen antworten.
3. Die eine mögliche Reaktion: eine adäquatere Psychologie anstreben; mit Approximationen zwar nie zufrieden sein, sie aber dennoch einsetzen. Man kann einmal sagen: diese Einwände mögen Prinzipiell richtig sein; aber Rom ist auch nicht an einem Tag erbaut worden. Früher oder später werden wir über eine adäquatere Psychologie verfügen, die diesen drei Problemen gerecht wird. Früher oder später werden wir die Persönlichkeitspsychologie in das Ganze der Psychologie besser integriert haben, und wir werden einmal über eine umfassende Tatsachendiagnostik verfügen, welche Person und Umwelt und ihre Transaktionen, welche Entwicklung und Individualität einschliesst. Inzwischen können wir allerdings nicht warten; es warten Klienten auf unsere Dienstleistungen, sie bedürfen unser dringend...
In diesem Zusammenhang möchte ich der Argumentation Herrn Duponts in weiten Teilen zustimmen. Was er mit viel Feinsinn schildert und was in vielen Einzelheiten auch in manchen anderen Diskussionsbeiträgen, die meine Position zu relativieren versuchten, zum Ausdruck kommt, sind in der Tat Möglichkeiten des Vorgehens, die interessant, beachtenswert und verfolgenswert erscheinen. Man kann das alles tun, um den verschiedenen Einwänden Rechnung zu tragen. Vieles davon wird tatsächlich und mit viel Einsatz getan, und es ist zweifellos respektabel. Ich wiederhole, dass ich zu keiner Zeit die guten Intentionen der meisten Diagnostiker und Berater in Zweifel gezogen habe.
Ich akzeptiere also diese erste Reaktion grundsätzlich; ich finde sie sachlich angemessen und vernünftig. Weite Bereiche meiner eigenen Forschungsund Lehrtätigkeit verstehe ich in eben diesem Sinn. Und dennoch habe ich das Gefühl, dass diese Haltung einer Ergänzung bedarf. Mir ist mit den Jahren die "Macher"-Attitüde ebenso suspekt geworden wie die Anti-Erkenntnis-Emphase. Wenn etwas möglich erscheint, so braucht es deswegen noch nicht gleich auch gut und erstrebenswert zu sein.
4. Die andere mögliche Reaktion: Infragestellung einiger Zielsetzungen. Ich möchte also auch die Frage nach dem Sinn solchen Diagnostizierens stellen und diskutieren. Und da muss ich gestehen, dass ich beim Wiederlesen der Texte dieser beiden Tagungen keine Stelle gefunden habe und es ist mir auch aus der weiteren Literatur keine bekannt -, wo mit einem besseren Argument für Diagnostik plädiert wird als mit der Beteuerung: die Entscheidungen müssten auch ohne Diagnostik getroffen werden; mit Diagnostik seien sie zumindest nicht schlechter, vielleicht aber in vielen Fällen etwas besser. (Nur für einige sehr spezielle Selektionsverfahren gibt es bisher Kosten-Nutzen-Analysen.)
Gegen Behauptungen dieser Generalität kann man schwer argumentieren, umso mehr als es sich eigentlich um eine empirische Frage handelte, falls man in der Lage wäre, sinnvolle Kriterien für das "Besser-oder-Schlechter" anzugeben. Wie schwierig diese Frage in Wirklichkeit ist, kann man nach knapp zwei Jahrzehnten ernsthafter Psychotherapie-Erfolgsforschung vielleicht ein wenig ahnen. (Ich empfehle beispielsweise die Lektüre des angekündigten Buches von Glass et al.; vgl. Smith & Glass, 1977, und aber auch Gallo, 1978.) Die Bewertung von Beratungs-Effekten dürfte nach meinem Empfinden noch um ein Vielfaches schwieriger sein.
Auf dem Hintergrund der oben skizzierten liberalen Lösung des Theorie-Praxis-Problems ist es jedoch unangemessen, die Frage nach dem Sinn so allgemein zu stellen. Denn es sind natürlich verschiedene Anwendungsweisen der Diagnostik zu unterscheiden. Ich bedaure sehr, dass ich in den verschiedenen Diskussionen nicht auf einer differenzierteren Sicht der Dinge beharrt und gelegentlich sogar zur Verwischung der Begriffe beigetragen habe; ich hatte den Eindruck, dass man sich nicht SO wenig wie übrigens die einschlägige Literatur auf eine alles umfassende Einteilung einigen könnte, da jeder Teilnehmer begreiflicherweise dazu neigte, die Dinge vor allem aus seiner Sicht zu sehen. Ueber der Diskussion der Autonomie-Problematik kam der mögliche Nutzen der in meinem Berner Vortrag vorgeschlagenen Einteilung gar nicht zur Sprache. Es blieb bei den ad hoc Gegenüberstellungen von "objektiv vs. subjektiv", "Selektion vs. Beratung", Aussenansicht vs. Innenansicht" usw. Keine dieser Polaritäten kann wirklich befriedigen; ich füge eine weitere bei, um meine Argumentation in plakativer Thesenform weiterführen zu können: Diagnostik über vs. Diagnostik für das Individuum.[2]
[2] Diese Gegenüberstellung erinnert an Schallbergers (S.82ff.) Formulierung vom "interindividuellen Vergleichen" vs. der Erfassung der "intraindividuellen Organisation"; sie ist aber damit nicht identisch, weil auch interindividuelle Vergleichsbefunde für das Individuum bedeutungsvoll sein können.
5. Wird Diagnostik über Individuen gemacht in dem Sinne, dass eine Institution auf Grund von einigen ausgewählten Merkmalen der Person Selektions- oder Klassifikationsentscheidungen trifft, so ist gegen die Anwendung partieller Persondiagnostik wenig einzuwenden sofern allerdings die entscheidende Institution nicht über eine umfassende Machtposition verfügt. Ich wehre mich dementsprechend dagegen, dass z.B. der Staat und seine Institutionen psychodiagnostisch unterstützte Entscheidungen treffen, betrachte es R aber als ein gutes Recht von untereinander in echter Konkurrenz stehenden Institutionen aller Art, dass sie mit Hilfe von Wahrscheinlichkeitsentscheidungen beispielsweise Besten- oder Schlechtesten-Auslese von Anwärtern oder Personal usw. betreiben. Niemand muss sich diesen Verfahren unterziehen, es sei denn, der damit verbundene Nutzen ist es ihm wert.
6. Etwas anderes sind Feststellungen für das Individuum, d.h. Beiträge zur Bereicherung seiner Innenansicht. Wie ich im Berner Vortrag dargelegt habe, scheint es mir wesentlich auf die Art des Kontraktes zwischen Klient und Berater anzukommen, ob man dem Klienten diese partiellen Erkenntnisse über seine Person, die man mit der herkömmlichen Diagnostik gewinnen kann, zumuten darf. Die Gefahr, dass dieser sie trotz bester gegenteiliger Intention des Beraters für mehr als eine partielle und ungenaue und mit Irrtumsmöglichkeiten gespickte Aussenansicht nimmt, scheint mir beträchtlich. Immer dann, wenn der Klient schlecht oder überhaupt nicht imstande ist, zwischen den beiden Paradigmen (über vs. für Individuen) zu unterscheiden man denke besonders an Kinder: und also dazu neigt, den Berater mit einer Instanz zu verwechseln, sollte der beratende Diagnostiker alarmiert sein.
Ich weiss, dass der gewissenhafte Berater diese Problematik sieht und Einiges tut, um ihr zu begegnen, sei es in der Art der Kontrakte, die er abschliesst, sei es durch Aufklärung des Klienten. Er kann auf die Fehlerbehaftetheit aller Feststellungen hinweisen. Er wird auch die Partialität der Feststellungen betonen und die härteren Daten explizit durch weichere Impressionen ergänzen. Als guter Berater wird er auch seine Rolle als blosser Förderer einer eigenen Innenansicht des Klienten herausstellen, und so weiter. Ich halte das alles für sehr erfreulich, kann mich aber des Eindrucks nicht erwehren, dass der Berater bei der Wahl solcher Massnahmen leicht selber in Schwierigkeiten gerät: er kann seine Leistungen nicht in beliebigem Ausmass relativieren -- auch im Interesse des Klienten nicht -- und zugleich erwarten, dass sie von seiner Klientele gebührend geschätzt wird. Unter diesen Umständen ist der Berater ständig auf einer Gratwanderung; natürlicherweise wird er dazu tendieren, die Rolle des Diagnostikers über das Individuum anzunehmen.
Dennoch bin ich der Meinung -- und man gestatte mir die Bemerkung, dass ich zu keinem Zeitpunkt eine weitergehende Meinung geäussert habe --, dass im Rahmen der Beratung auch Psychodiagnostik für das Individuum manchmal wertvoll ist und unter Beachtung aller erdenklichen Sorgfalt und Vorsicht eingesetzt werden kann. Es scheint mir jedoch angesichts der geschilderten Schwierigkeiten, man sollte diese Anwendung auf die Nothelferfunktion begrenzen.
Damit weitet sich die Perspektive. Psychodiagnostik ist bloss das besondere Beispiel, anhand dessen eine allgemeinere Problematik diskutiert werden kann. Ich komme damit zu meiner zentralen These:
Vorsicht mit der Professionalisierung der psychologischen Beratung!
Ich frage mich also, ob es wünschbar ist, die Verbesserung der Innenansichten von Menschen einer speziellen Profession von Fachleuten anheimzustellen. Leider ist hier nicht der Platz, dieser Frage ausführlich nachzugehen, noch was ich viel lieber täte über konstruktive Alternativen nachzudenken.
Man wird mir entgegenhalten, in meiner privilegierten Position sei ich nicht legitimiert, so zu argumentieren. Hierzu muss ich zu bedenken geben, dass wohl privilegierte Positionen wie die meine ursprünglich heutige Praxis könnte das häufig vergessen lassen unter anderem zu dem Zweck eingerichtet wurden, Gesichtspunkte jenseits von Interessenvertretung geltend zu machen.
Der erste Teil meines Gleichnisses vom "In-der-Suppe-Rühren" wurde durchaus meiner Intention entsprechend recht positiv aufgenommen. Nachdenklich stimmt mich, dass kein Diskussionsredner den zweiten Teil, um dessentwillen das Sprichwort eigentlich bemüht worden ist, der Erwähnung wert gehalten hat: nämlich, dass ein anderer als der Berater in der Regel die Suppe auslöffelt...
Ich glaube, dass das Zusammenleben von Menschen ganz wesentlich vom gegenseitigen Übernehmen von Verantwortung füreinander getragen wird. Mich schreckt das Wachstum der anonymen Institutionen, von Recht und Regeln in unserer Gesellschaft. Ganz besonders starke Bedenken habe ich dagegen, den professionellen Berater, d.h. ein gesellschaftliches "Institut", in die Entwicklung der Persönlichkeit einzubeziehen. Wie man seit einiger Zeit immer deutlicher sieht, sind auch ältere und etabliertere Professionen hoch überfordert, wenn sie die Verantwortung "für das Leben" ihrer eigentlich autonomen "Klienten" Menschen, Nationen, Kulturen übernehmen sollten. Mir scheint, die Frage der Verantwortung müsste von den Psychologen eingehend diskutiert werden, und nicht nur am Beispiel der Diagnostik.
Mithin stimme ich der These zu (vgl. S.56 und 74f.) die Krise der Diagnostik sei eigentlich eine Krise der Diagnostiker, sofern dies heissen soll, dass hier eine Profession in einer Existenzkrise oder richtiger wohl: in einer Geburtskrise steckt. (Die These war natürlich von ihren Urhebern viel "psychologischer" gemeint.) Das Instrumentarium, "die" Diagnostik, ist für gewisse Zwecke schon recht; man hat es aber für viel weitergehende Ziele einsetzen und zudem darauf die Existenz einer Profession begründen wollen. Das wurde eine unbefriedigende Existenz, und Viele sind ausgebrochen und aufgebrochen, sich ein neues Tätigkeitsfeld zu erobern (um die gleiche Erfahrung noch einmal zu machen?!). Ich glaube, es sind die Schwierigkeiten beim Versuch der Etablierung einer Profession, die den Inhalt des vorliegenden Buches ausmachen. Meine These ist, dass sich Psychodiagnostik und psychodiagnostisch unterstützte Beratung schlecht dazu eignen.
Zur Ausbildung
Wenn die Krise der Diagnostik eine solche Krise der Diagnostiker ist, dann kann sie natürlich nicht durch eine Veränderung oder Verbesserung der Ausbildung in Psychodiagnostik überwunden werden. Eine naheliegende Aktion, aber der grösste Fehler, den wir in dieser Situation begehen könnten, wäre meiner Ansicht nach, die psychodiagnostische Ausbildung noch weitergehend, als dies heute schon der Fall ist, von der allgemeinen psychologischen Ausbildung abzutrennen und ihr Eigenleben zu fördern. Und dasselbe gilt natürlich für die beraterische oder die psychotherapeutische Ausbildung. Die Krise wurde vielleicht dadurch erst möglich, dass die Diagnostik in vielen Instituten tatsächlich ein Eigenleben geführt hat und immer noch führt.
Auch derjenige Psychologe, der als Berater tätig sein will, soll sich so viel wie nur möglich "Psychologie" schlechthin aneignen: Allgemeine Psychologie, Entwicklungspsychologie, Sozialpsychologie und auch Persönlichkeits- und Differentialpsychologie. Gewiss soll jeder auch Verfahren des Tatsachenfeststellens verstehen und "handhaben" lernen; aber die personbezogenen Verfahren der traditionellen Psychodiagnostik sollten vermehrt noch in die allgemeine Methodologie integriert werden (beide Seiten könnten übrigens davon gewinnen, vgl. Cronbach, 1957 und 1975). Man sollte das Psychologiestudium verstehen als eine Auseinandersetzung mit einer lebendigen Wissenschaft auf dem Hintergrund einer lebendigen Praxis. Aber auch das beste Psychologiestudium kann niemals die ganze Vorbereitung für eine psychologisch fundierte Tätigkeit abgeben.
Wenn "Validierung des Diagnostikers" heissen soll, dass ein Psychologe mit gründlichen Grundlagenkenntnissen unter Anleitung von Praktikern und Wissenschaftlern in eine berufliche Tätigkeit wie das psychagogische Beraten eingeübt wird, dann kann ich dieser Formel zustimmen. Die intensive Auseinandersetzung auch mit konkreten Menschen in ihren Lebenssituationen muss unter Rückbezug auf das allgemeine Wissen und die Methodenkritik einen wesentlichen Teil schon des Psychologiestudiums und mehr noch der anschliessenden Berufseinmündung (Aufbaustudium) ausmachen. Und natürlich muss dieser kontrollierte Vorgang der "Brauchbarer-Machung" (wenn ich die aktive Begriffskomponente des Ausdrucks "Validierung" so übersetzen darf) während der ganzen Berufslaufbahn fortgesetzt werden.
Wenn aber "Validierung des Diagnostikers" die Überprüfung seiner "Güte" und das Etikettieren der akzeptablen Exemplare mit einer entsprechenden Marke heissen sollte, dann müsste ich angesichts der nicht belegbaren "Brauchbarkeit" solcher Marken mein Veto einlegen. Die psychologischen Universitätsinstitute sind keine Berufsschulen sie können und sollen es nicht werden, solange psychologische Tätigkeiten so grundsätzlichen Schwierigkeiten begegnen, wie sie in diesem Buch diskutiert worden sind.