Alfred Lang

University of Bern, Switzerland

Edited Book Chapter 1978 (Orig. 1975)

Diagnostik und Autonomie der Person

1978.01

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27 / 42KB  Last revised 98.10.31

Pp. 17-29 in: Ist Psychodiagnostik verantwortbar? -Wissenschaftler und Praktiker diskutieren Anspruch, Möglichkeiten und Grenzen psychologischer Erfassungsmittel Herausgegeben von Urs Pulver, Alfred Lang & Fred W. Schmid. Verlag Hans Huber Bern Stuttgart Wien, 1978

© 1998 by Alfred Lang

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[Vortrag gehalten an der Jahresversammlung der Schweizerischen Gesellschaft für Psychologie in Bern am 12. April 1975 und abgedruck in Schweizerische Zeitschrift für Psychologie und ihre Anwendungen 34 (3) 221-232, sowie, leicht überarbeitet unter dem Titel: Psychodiagnostik als ethisches Dilemma, pp. 190-202 in: Johannes K. Triebe & Eberhard Ulich (Eds. 1977) Beiträge zur Eignungsdiagnostik. Bern, Huber.]

 

Man kann von einer Krise der Diagnostik sprechen, weil eine ganze Reihe von Problemen, zum Teil seit Jahrzehnten, ungelöst sind; die Krise ist also eigentlich chronisch, aber durch gewisse sozio-kulturelle Bedingungen unserer Zeit akzentuiert.

Man hat im allgemeinen diese Probleme der Diagnostik als Methodenprobleme verstanden und eine unglaublich grosse Menge Aufwand und Einsatz für Methodenentwicklungen und Testtheorie mobilisiert. In der Tat sind Methodenprobleme im Prinzip immer lösbar. Von methodologischen Schwierigkeiten will ich aber heute nicht sprechen.

Denn es gibt auch Probleme substantiellerNatur, d.h. Schwierigkeiten, die im Wesen des diagnostischen Ansatzes liegen, und deren Überwindung also möglicherweise eine fundamentale Neuorientierung erheischt.

Ich denke etwa daran, dass die Diagnostik, die wir seit 70 Jahren pflegen, doch eigentlich die am besten gesicherte Erkenntnis der modernen Psychologie verleugnet, nämlich dass Handeln stets auf inneren und äusseren Bedingungen beruht. Mit ganz wenigen Ausnahmen tut die Diagnostik -- Theorie und Praxis: -- so, wie wenn die Kenntnis der inneren Bedingungen genüge.

Oder ich denke daran, dass die Diagnostik, die wir pflegen, dem Phänomen der Entwicklung nur mit äusserst primitiven Mitteln (z.B. mit dem IQ-Konzept oder mit altersbezogenen Normentafeln) gerecht zu werden versucht und es häufig weitgehend missachtet (z.B. bei vielen Diagnosen im Rahmen klinischer Nosologien).

Für solche substantielle Probleme gibt es Lösungen sicher nur in recht ferner Zukunft. Denn sie setzen voraus, dass wir über eine psychologische Oekologie und über eine wirkliche Entwicklungspsychologie verfügen. Ich glaube, die Diagnostik ist in grandioser Verkenntnis der Realität vorgeprellt und hat die Welt glauben gemacht, sie könne Aufgaben übernehmen, für die sie nicht gerüstet ist.

Auf dem Hintergrund solcher Einsichten ist es zu begrüssen, dass sich das Bewusstsein einer Krise ausbreitet. Wenigstens so lange, als sich die Diagnostik nicht vom Ganzen der Psychologie loslöst, besteht Hoffnung, dass sie ihre übersteigerten Ansprüche reduziert. Diagnostiker könnten, statt immer wieder neue Tests nach dem alten Schema zu fordern, vermehrt versuchen, sich an den entsprechenden Entwicklungen der Grundlagenforschung zu orientieren und diese dann auch im Binblick auf ihre praktischen Bedürfnisse zu beeinflussen. Allerdings ist nicht zu übersehen, dass sich in vielen Ländern eine psychologisch-diagnostische Praxis ziemlich fest etabliert hat, die in der Regel ziemlich . unbekümmert um die genannten Schwierigkeiten weiterhin naive öffentliche Erwartungen nährt und fördert.

Tatsächlich zeigt eine Umfrage unter den in der Schweiz im Personenregister der Testkommission angeführten 830 Psychologen ein recht konservatives Bild der Testpraxis.[1] Geantwortet haben 237 Diagnostiker oder rund 30% der Schweizer Psychologen. Die Antwortenden sind freilich nicht repräsentativ für die Schweizer Psychologen; zu weitgehende Schlussfolgerungen müssen daher vermieden werden. Diese Diagnostiker testen immerhin nach ihren Angaben pro Monat zwischen einem und 500 Probanden, im Median 13,5 Probanden oder beinahe einen Probanden jeden Tag [2]. Für die Durchführung und Auswertung psychologischer Tests verwenden sie 27,5% ihrer Arbeitszeit; und rund drei Viertel finden dies angemessen; nur 12% meinen, das sei zuviel. Den Testresultaten messen die Antwortenden im Median ein Gewicht von rund 25% beim Zustandekommen der Diagnose bei; wichtiger ist ihnen allerdings noch das persönliche Gespräch mit 30%, während auf die Lebensgeschichte des Probanden sowie auf die Ueberlegungen und Erfahrungen des Psychologen je rund 20% fallen [3]. Die Diagnostiker beurteilen die Zukunft ihrer Tätigkeit recht zuversichtlich: fast zwei Drittel meinen, die Testdiagnostik werde in Zukunft ein ungefähr ähnliches Ansehen bewahren; ungefähr ein Achtel erwartet sogar eine Ausweitung ihrer Bedeutung. Während im allgemeinen kaum Unterschiede zwischen den Antworten aus der deutschen und der französischen Schweiz festgestellt werden, ist man in dieser Hinsicht in der Romandie doch etwas weniger optimistisch.

Fussnoten

Wenn ich dann noch die Liste der meistverwendeten Teste anschaue, dann muss ich gestehen, dass mich dieses Bild der Testpraxis mit einiger Sorge erfüllt.[4] Hat sich diese Form der Anwendung von Psychologie, die unter Laien nicht selten als ihre Hauptanwendung gilt, schon so weit von der sie fundierenden Wissenschaft losgelöst, dass sie Erkenntnisse und Kritik dieser Wissenschaft kaum noch berücksichtigt? Haben wir eine solche Trennung der Wissenschaft und ihrer Anwendung einfach resignierend hinzunehmen? Soll psychologische Dienstleistung, die sich der Diagnostik bedient, eine Art "Kunsthandwerk" sein, gegründet auf Praxis und Autoritäten? Oder erfordert solche Beschäftigung mit dem Menschen die Fundierung in einer Wissenschaft vom Menschen?

Solche Ueberlegungen veranlassen mich, hier auf einen dritten Problemkreis näher einzugehen, der zwar auch substantielle und methodische Schwierigkeiten betrifft, in erster Linie aber in die Frage mündet, ob und wie Diagnostik betrieben werden soll: also den ethischen Aspekt betrifft. Im Unterschied zu den methodischen und den substantiellen Aspekten sind hier Lösungen nicht von einer rascheren oder langsameren Weiterentwicklung der Psychologie zu erwarten, sondern diese Probleme können jederzeit diskutiert werden. Lösungen bringen hier entweder einen Wandel des vorherrschenden Menschenbildes in unserer Kultur oder aber eine Selbstbeschränkung der Diagnostik. Sozio-kulturelle Veränderungen betreffen in erster Linie Wertsetzungen; mit Wissenschaft können Lösungen sozialer Probleme zwar vorbereitet, nicht aber getroffen werden. Ich bringe also meine Gedanken zur Krise der Diagnostik nicht als Wissenschaftler vor, sondern als ein informiertes Mitglied unserer Gesellschaft, das sich fragt, ob diese Art der Anwendung von Psychologie zur Lösung von Problemen wirklich beiträgt.

Lassen Sie mich meine Kritik in die folgende These zusammenfassen: Professionell betriebene psychologische Diagnostik und Autonomie der Person sind antagonistisch.

Diese These möchte ich zunächst als eine wertfreie Feststellung eines Sachverhalts verstanden wissen. Sobald man allerdinge konkrete Vorstellungen über die Autonomie der Person entwickelt und einen hohen Grad an Autonomie für wertvoll erachtet, so stellt sich die Frage nach der Bewertung der Diagnostik. Lassen Sie mich im Folgenden zunächst also von solchen Wertungen abstrahieren. Darauf ist am Schluss zurückzukommen. Vielmehr möchte ich versuchen, meine These zu differenzieren und damit natürlich auch zu relativieren. Gilt die Feststellung für jede Art Diagnostik, oder kann man verschiedene Arten von Diagnostik unterscheiden, für die der Widerspruch zur Autonomie der Person unterschiedlicher Natur oder Stärke ist?

Zur Beantwortung muss ich zunächst mein Verständnis von psychologischer Diagnostik darstellen.

Der Ausdruck Diagnostik bezeichnet eine Hauptmethode der angewandten Differentialpsychologie. Der Ansatz der psychologischen Diagnostik ist in Analogie zur medizinischen Diagnostik entstanden; der Begriff wurde daher wohl immer etwas enger gefasst als von den Erfordernissen angewandter Psychologie her nötig wäre. Denn allgemein heisst Diagnostik zunächst einfach: Feststellen eines Sachverhaltes; nicht notwendig eines Sachverhaltes über Personen. Ferner ist Diagnostik natürlich nicht Selbstzweck, sondern man diagnostiziert stets im Hinblick auf etwas, insofern man je nach dem festgestellten Sachverhalt unterschiedlich mit diesem Sachverhalt umgehen wird. Psychologische Diagnostik bereitet Entscheidungen über Interventionen, Massnahmen, Beratungen, Therapie usf. vor.

Ich würde also etwa definieren: Als angewandte Differentialpsychologie meint Diagnostik das geregelte Sammeln von Daten über Individuen derart, dass Entscheidungen gerechtfertigt sind, welche den Lebenslauf, die Entwicklung dieser Individuen, in intendierter Art beeinflussen.

In dieser Definition stecken wenigstens vier Fragen, auf die ich nun näher eingehen will:

1. Wer intendiert die Beeinflussung des Lebenslaufs7

2. Welche Art Daten werden gesammelt?

3. Wie werden die Entscheidungen gerechtfertigt?

4. Wer trifft die Entscheidungen?

Im Bewusstsein schrecklicher Vereinfachung versuche ich, jede dieser Fragen mit zwei oder drei idealtypischen Antworten zu versehen. Ich weiss, dass der konkrete Fall nie ausschliesslich im einen oder im andern Typus untergebracht werden kann; nichtsdestoweniger scheinen mir die Unterscheidungen geeignet, gewisse grundlegende Paradigmata von Diagnostik herauszuarbeiten, welche unterschiedliche ethische Implikationen haben.

 

1. Wer intendiert die Beeinflussung des Lebenslaufs?

In Frage kommen der Proband selbst, der Diagnostiker oder ein Dritter als Auftraggeber. In jedem Fall wird zwischen Proband und Diagnostiker eine Art Kontrakt geschlossen, in den meisten Fällen mehr implizit als explizit. Den Probanden interessiert dabei wenig, in welch heiklem Verhältnis manchmal Auftraggeber und Diagnostiker zueinander stehen. Für den Probanden ist vielmehr entscheidend, ob er den Kontrakt mit dem Diagnostiker frei von sich aus eingeht, oder ob ihm ein solcher Kontrakt von aussen aufgezwungen wird. Es gibt völlig freie Kontrakte: der Proband sucht den Berater auf und unterzieht sich dem von diesem vorgeschlagenen diagnostischen Verfahren. Es gibt aber auch völlig aufgezwungene Kontrakte. Legalistisch gesehen mögen sie nicht allzu häufig sein (z.B. gerichtlich angeordnete Begutachtung); im Erleben des Probanden sind sie aber wohl nicht so selten, sei es in der klinisch-psychologischen Diagnostik, in erziehungsberaterischen Abklärungen oder in schulischen und betrieblichen Selektionsfragen. Immerhin dürfte es angezeigt sein, eine dritte Kontraktform zu unterscheiden, den bedingt freien Kontrakt, bei welchem der Proband freiwillig ein bestimmtes Ziel anstrebt, zu dessen Erreichung er aber gezwungenermassen die Bedingung einer diagnostischen Abklärung eingehen muss.

 

2. Welche Art Daten werden gesammelt?

Selbstverständlich entscheidet der Diagnostiker auf Grund der Fragestellung des Kontrakts darüber, was für Daten er über den Probanden braucht und wie er sie erhebt. Es scheint mir aber für das Verhältnis zwischen Proband und Diagnostiker von entscheidender Bedeutung, ob der Diagnostiker seine Daten ad hoc, d.h. aus seiner persönlichen Perspektive, sammelt, oder ob der Diagnostiker seine Daten über den Probanden zu rechtfertigen versucht, indem er Methoden verwendet, deren Ergebnisse von seiner Person unabhängig sind. Also entweder Daten über den Probanden, die dieser Diagnostiker allein durch seine Person rechtfertigt, oder Daten, die objektiv, d.h. soweit reliabel sind, als irgendein anderer Diagnostiker sie auch erheben könnte.

Pulver (Kap.3) plädiert für Sowohl-als-Auch, und, wenn ich ihn richtig verstehe, für eine nicht wieder auflösbare Vermengung der beiden Arten von Daten. Ohne zunächst dafür oder dagegen Stellung nehmen zu wollen, möchte ich zu bedenken geben, dass nach Vermengung die Gesamtdaten nur den Charakter von ad hoc-Daten haben und mithin nur Schlüsse zulassen, die dieser Diagnostiker allein durch seine Person rechtfertigen kann.

 

3. Wie werden die Entscheidungen gerechtfertigt?

In der Praxis sind oft Daten und Entscheidungen nicht sauber zu trennen; manchmal werden auch mehrere zyklische Phasen des Datensammelns und des Entscheidens durchlaufen (vgl. etwa Kaminski, 1970), was die Situation kompliziert. Aber zumindest begrifflich, vielleicht besser auch praktisch, ist die Unterscheidung wichtig, weil auf Grund derselben Daten verschiedenartige Entscheidungen oder dieselben Entscheidungen auf unterschiedliche Weise oder durch unterschiedliche Entscheidungsträger getroffen werden können. Beispielsweise kann ein knappes Schulreifetestresultat verbunden mit der Feststellung einer eher schwächlichen Konstitution und verhältnismassig günstigen familiären Verhältnissen zu durchaus unterschiedlichen Einschulungsentscheiden führen: bei den Eltern, bei der Kindergärtnerin, beim Schulpsychologen, bei verschiedenen Schulpsychologen oder sogar beim selben Schulpsychologien, der im Rahmen unterschiedlicher Tendenzen zweier Beratungsstellen arbeitet. Aehnlich wie die Daten können auch die Entscheidungen nach dem Grad der intersubjektiven Invarianz, mit der sie aus den Daten hervorgehen, charakterisiert werden. Entweder sind die Entscheidungen in den Daten als solchen enthalten und müssen nur unter Beizug allgemeiner oder differentieller psychologischer Gesetzmässigkeiten (z.B. in der Form von Validitätsgleichungen) expliziert werden: man spricht dann von aktuarischen Entscheidungen. Oder jemand muss die Daten zusammen mit seinen persönlichen Erfahrungen in einem intuitiv-klinischen Verfahren verarbeiten und so zu einer hier und jetzt einmaligen Entscheidung kommen.

 

4. Wer trifft die Entscheidungen?

In Frage kommen der Proband selbst, der Diagnostiker, ein Dritter oder ein automatisches Verfahren. Wieder ist es für den Probanden von geringer Bedeutung, ob der Andere, der über ihn entscheidet, der Diagnostiker selbst oder eine Drittperson ist.

Man kann also drei Antworten geben:

a) Der Proband bleibt autonom: es wird ihm vom Diagnostiker Information vorgelegt, die gesammelten Daten in ursprünglicher oder in verarbeiteter Form zusammen mit weiterem relevanten Material wie Bezugsnormen oder Erfahrungen anderer Personen; aber der Proband selber ist es, der daraus die Schlussfolgerungen zieht.

b) Bei heteronomer Entscheidung ist zu unterscheiden zwischen einem institutionalisierten und einem personalisierten Verfahren. Im heteronom-institutionellen Fall geht die Entscheidung aus den Daten und dem beigezogenen Bezugsmaterial automatisch hervor, wenn ein im voraus festgelegtes Entscheidungsverfahren durchgespielt wird. Beispielsweise sind Schulnoten Daten; der Schiiler wird nicht promoviert, wenn sein nach Vorschrift gewichteter Durchschnitt nicht 4,0 erreicht. Eine multiple Regressionsgleichung aus mehreren Testprädiktoren auf ein Selektionskriterium bringt ebenfalls heteronom-institutionelle Entscheidungen hervor.

c) Weitaus die meisten Institutionen delegieren jedoch die Aufgabe des Entscheidens an Personen, die angesichts eines Datenmaterials, sei es ad hoc oder objektiv oder gemischt, in einem intuitiven oder quasi-aktuarischen Prozedere die Entscheidung treffen.

Die vier Fragen und ihre 10 Antworten sind natürlich nicht unabhängig voneinander. Es ergeben sich prinzipiell 36 Paradigmata von Diagnostik; aber etwa die Hälfte davon sind sinnlos, weil beispielsweise intuitives Vorgehen in heteronom-institutionellen Entscheiden unmöglich oder aktuarisches Vorgehen bei ad hoc-Daten unsinnig sind (vgl. Tabelle 1). Dennoch wird gerade Letzteres recht häufig praktiziert, etwa bei Selektion auf Grund von Schulnoten.

 

Tab. 1: Übersicht über die 36 Paradigmata der Diagnostik (vgl. Text)

VD = Validitätsdilemma, MD = Machtdilemma

Kontrakt

Entscheidungsträger

Datensammlung

ad hoc

"objektiv"

Entscheidungsweise

Entscheidungsweise

intuitiv

aktuarisch

intuitiv

aktuarisch

frei

autonom

Ideal pers. Ber.
--
fundierte Beratung
VD

heteronom-persönl.

Vertrauens-Verhältnis
--
VD
VD

heteronom-institut.

--
--
--
--

bedingt frei

autonom

Machtgefälle
--
VD+MD
VD

heteronom-persönl.

Machtgefälle
(Selektions-Praxis)
VD+MD
VD

heteronom-institut.

--
--
--
VD verschärft

aufgezwungen

autonom

--
--
--
--

heteronom-persönl.

Expertenurteile
(z.B. Schulpromotion)
Expertenmacht
Totalitarismus

heteronom-institut.

--
--
--
Totalitarismus

Einige weitere Fälle möchte ich herausgreifen:

Wenn der Gerichtsgutachten um sein Expertenurteil gebeten wird, so diagnostiziert er in der Regel in einem aufgezwungenen Kontrakt auf Grund von ad hoc-Daten in intuitiver Weise, und er repräsentiert in seiner Person die entscheidende Institution weitgehend. Hier entsteht ein ausgesprochenes Machtgefälle zwischen Diagnostiker und Proband, das im analogen Fall beim bedingt freien und sogar beim freien Kontrakt nur wenig gemildert ist. Denn der Diagnostiker kann Willkür üben sowohl beim Datensammeln wie auch beim Verarbeiten. Der Proband kann wenig mehr tun als sich diesem "Besserwisser" anvertrauen. Der Diagnostiker rechtfertigt seine Empfehlungen oder Entscheidungen letztlich aus seiner persönlichen Autorität, ohne allerdings dafür persönliche Verantwortung zu übernehmen. Der Proband kann nie wissen, wie weit die Entscheidungen des Diagnostikers durch dessen Interessen bestimmt sind. Ausweichen kann er seinen Empfehlungen nur im freien Kontrakt. Aber auch da muss ihn das Gefühl des Ausgeliefertseins an einen unkontrollierbaren Mehrwisser plagen. Eine Einbusse in seinem Selbstwertgefühl ist in vielen Fällen für den Probanden die Folge: denn befolgt er den Rat des Diagnostikers, so hat er gewissermassen "aus der Hand des Experten" gelebt; schlägt er ihn aus und die Entwicklung gibt dem Diagnostiker recht, so ist erst recht sein Selbstwertgefühl angeschlagen und seine Unfähigkeit, aus sich selbst heraus zu leben, demonstriert.

Bei ad hoc-Daten ist eigentlich nur der Fall der intuitiven und autonomen Entscheidung im freien Kontrakt vertretbar. Man könnte ihn als Idealfall persönlicher Beratung darstellen. Etwas problematisch macht ihn bloss die Möglichkeit von Widersprüchen zwischen der Datenaufbereitung verschiedener Diagnostiker.

Alle übrigen Fälle bei ad hoc-Daten -- und das gilt auch bei objektiven Daten, sobald die Entscheidung intuitiv ist! -- führen grundsätzlich in ein bedenkliches Dilemma zwischen Zufall und Willkür. Ich nenne es das Machtdilemma, weil der Proband dem Diagnostiker ausgeliefert ist und/oder keine Möglichkeit hat herauszufinden, ob die Entscheidung oder Empfehlung bloss zufällig so herauskommt oder ob sie der Diagnostiker im Hinblick auf seine eigenen Interessen und Ziele so steuert. Man muss dabei dem Diagnostiker durchaus nicht notwendig Manipulation unterstellen; aber auch der Diagnostiker ist ein Mensch, auch er unterliegt den Mechanismen der Sozialwahrnehmung und der Dissonanzreduktion; häufig ist er Angestellter einer interessierten Institution, oft sogar des Staates. Aus der Sicht des Diagnostikers stellt sich eigentlich das Machtdilemma sogar verschärft: er ist versucht, die Datensammlung, die Datenauslese, die Datenverarbeitung genau so anzulegen, dass die Dinge gerade zueinander und zu seinen Zielsetzungen passen; er kann leicht sagen und die meisten Diagnostiker werden das durchaus mit gutem Gewissen tun! -, er handle im besten Interesse seines Probanden. Aber genau das ist der Kern des ethischen Problems: was der Diagnostiker ad hoc zusammenstellt und/oder intuitiv entscheidet ist von niemandem, und insbesondere nicht vom Probanden selbst, nachprüfbar, weil es bloss aus der Person dieses Diagnostikers gerechtfertigt ist.

Sie werden nun einwenden, das sei doch schliesslich bei allen Dienstleistungen von Professionen wie Aerzten, Anwälten, Architekten usf. genau so der Fall. Die arbeitsteilige Gesellschaft beruht ja darauf, dass es Leute gibt, die über gewisse Dinge besser Bescheid wissen als alle andern. Mir scheint, dieser Einwand übersieht einen fundamentalen Unterschied zwischen Dienstleistungen bezüglich Einzelfunktionen und solchen, die gewissermassen die ganze Person betreffen. Es ist sinnvoll, Einzelentscheide an Experten zu delegieren; in der Regel ist der Erfolg solcher Entscheidungen hinterher beurteilbar und leider mit einigen Ausnahmen! sind die professionellen Experten flir Fehlentscheide haftbar. Nicht so bei typischen psychologischen Dienstleistungen: betroffen ist in der Regel die gesamte Persönlichkeitsentwicklung des Probanden; bis ein allfälliger Schaden erkennbar wird, ist eine Wiedergutmachung schwer oder unmöglich und jedenfalls sind Lebensabschnitte "vertan". Eine Uebernahme der Verantwortung durch den Psychologen ist rhetorisch.

Die Fälle von Diagnostik auf Grund von objektiven Daten sind In der heutigen Praxis sehr viel seltener. Auf die Forderung dieser Paradigmata zielen die Methodenvorbesserungsvorschläge der meisten Testtheoretiker ab. Sie führen jedoch in ein zweites Dilemma zwischen dem Zufall und dem Schicksal, das ich das Validitätsdilemma nennen möchte.

Verfügten wir über psychodiagnostische Verfahren mit vollständiger Validität, so wäre dies aus dem Gesichtspunkt des testtheoretisch orientierten Diagnostikers ideal, für den Probanden jedoch unerträglich, da ihm jede Wahlfreiheit entzogen wäre. Die diagnostischen Verfahren, über die wir tatsächlich verfügen, eröffnen andererseits wieder dem Zufall das Feld. Das ist aus der Sicht des Diagnostikers, insbesondere bei institutionellen, aber auch bei persönlich-heteronomen Entscheidungen im Rahmen von Wahrscheinlichkeitsüberlegungen durchaus sinnvoll. Aus der Sicht des Probanden stellt sich das Problem anders! Eine Entscheidung, die im Sinne einer Prädiktion mit der Wahrscheinlichkeit p getroffen wird, ist für den Probanden nicht zu p% richtig; sondern sie wird sich einmal als entweder 100% richtig oder 100% falsch herausstellen. Das Dilemma besteht für alle Prädiktionen, die mit Validität irgendwo zwischen r = 0 und r = 1 gemacht werden. Je kleiner die Validität, desto weniger sinnvoll ist es für den Probanden, die Prädiktion zu berücksichtigen, obwohl für die entscheidende Institution beispielsweise durchaus noch ein Selektionsgewinn gegeben sein kann. Je grösser andererseits die Validität, desto weniger sinnvoll ist es für den Probanden, die Prädiktion nicht zu berücksichtigen. Denn eine valide Prädiktion zu missachten hiesse doch eigentlich das Schicksal herausfordern. Eine valide Prädiktion zu beachten heisst jedoch wiederum seine Autonomie aufzugeben, aus dritter Hand zu leben. Das Validitätsdilemma stellt sich nicht grundsätzlich anders, ob die Entscheidungsweise nun heteronom oder autonom ist und der Kontrakt aufgezwungen oder frei.

Versucht man nun, dem Validitätsdilemma auszuweichen, indem man wie dies auch von Pulver (Kap.3) vorgeschlagen wird bewusst die unvollständige Validität des Verfahrens in Kauf nimmt und die Lücke zur Rechtfertigung der Entscheidung von Seiten des Diagnostikers durch ein intuitives und also heteronom-persönliches Verfahren oder durch den Beizug von ad hoc-Daten überbrückt, so fällt man notwendig wieder ins Machtdilemma.

Die psychodiagnostische Praxis führt also in manchen Fällen in ein Dilemma zwischen zwei Dilemmata.

 

Schlussbemerkung

Ich bin kein Kulturphilosoph. Aber ich kann nicht umhin, die Frage der Autonomie der Person als die mutmassliche zentrale Frage unserer Zeit zu betrachten. Dafür zeugen nicht nur die Entwicklung in der Frage der Partizipation oder die weltweiten Autarkiebestrebungen oder Anarchismus und Drogensucht (wenn ich nicht befriedigend autonom leben kann, kann ich ebensogut mein Leben wegwerfen), sondern ganz besonders auch eine fundamentale Gegensätzlichkeit zwischen der sozialistischen und der im Westen vorherrschenden Weltanschauung: nämlich ob letzten Endes das Individuum für die Gemeinschaft oder die Gemeinschaft für das Individuum da sein soll.

Meine persönliche Wertung ist eindeutig für eine starke Autonomie der Person. Ich weiss, dass ich nicht ohne Gemeinschaft leben kann; immerhin kann ich es in einer reduzierten Gemeinschaft. Eine umfassende und mehr oder weniger durchorganisierte Gemeinschaft, der ich in keiner Weise ausweichen kann, macht mir aber Angst, legt mir soviel Sachzwang und/oder durch andere Personen verkörperte Macht auf, dass mir wenig Spass am Leben bleibt. Mancher versucht, wenn er der Macht nicht ausweichen kann, nach Möglichkeit selber über solche Macht zu verfügen. Setzt er sich über den Machtanspruch des Andern hinweg, so wird sich erweisen, welcher Anspruch stärker ist. Ich zweifle, dass auf diesem Weg eine lebenswerte Gemeinschaft möglich ist.

Meine Alternative: ich werte die Autonomie der Person hoch und sehe ihre Begrenzung im Autonomieanspruch des Andern, den ich achten muss, wenn ich meinen eigenen Autonomieanspruch erfüllt haben will. Jede Einschränkung der Autonomie in einem angeblich überindividuellen Interesse bedarf der Rechtfertigung durch einen interindividuellen Konsens.

Auf die Diagnostik bezogen heisst das, dass ich all jene Paradigmata, wo entweder der Kontrakt oder die Entscheidung autonom erfolgen, für verhältnismässig unproblematisch halte; es bleibt allenfalls abzuklären, inwieweit solche diagnostischen Praktiken ihren Aufwand wert sind. Bei allen andern Paradigmata jedoch, d.h. sobald der Kontrakt eingeschränkt oder gar unausweichlich ist oder die Entscheidungsträger andere Personen sind, ergibt sich ein unlösbares doppeltes Dilemma: Entweder erfolgt die Datensammlung objektiv und die Entscheidung aktuarisch: dann bin ich entweder meinem Schicksal (im Falle vollständiger Validität des Verfahrens) oder dem Zufall (im Falle unvollständiger Validität) ausgeliefert; oder die Entscheidungsgrundlage, also die Daten, oder die Entscheidung selbst, sind bloss durch Personen gerechtfertigt: dann bin ich wieder entweder dem Zufall oder dem Machtanspruch des Diagnostikers bzw. dessen der hinter ihm steht ausgeliefert.

Entweder dem Machtdilemma oder dem Validitätsdilemma ist nicht auszuweichen. Allemal sind das Welten -- Schicksal, Zufall oder Willkür --, die ich nicht für anstrebenswert halte. Insofern die diagnostische Praxis dazu beiträgt, solche Welten zu fördern, möchte ich dafür plädieren, dass man Diagnostik nicht als ein hauptsächliches Anwendungsgebiet der Psychologie pflegt.

 

Fussnoten <<<<

[1] Umfrage zur Anwendung psychologischer Tests in der Schweiz, durchgeführt von K.Belser und Th.Pfäffli unter der Leitung von F.Stoll und A.Lang im Januar 1975. Vgl. Kurzbericht von A.Lang und F.Stoll (1976). Der ausführliche Bericht ist vergriffen.

[2] Falls etwa 600 Diagnostiker in der Schweiz in ähnlicher Weise arbeiten, so ergabe das 600 x 13,s x 12 oder rund 100'000 Getestete pro Jahr, d.h. ungefähr einen ganzen Jahrgang der Schweizer Bevölkerung.

[3] Man kann also sagen, dass zumindest im Selbsturteil der Diagnostiker die Forderung Pulvers nach nicht blindem Testen durchaus erfüllt ist.

[4] Vgl. den Beitrag von F.Stoll in diesem Band (Kap.18).

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