Alfred Lang

University of Bern, Switzerland

Edited Book Chapter 1975/78

Ist Psychodiagnostik verantwortbar?

Einleitung und Diskussionsbeiträge

28 KB @Ethic @SciPolPrinc @DiffPsy

 Last revised 98.10.26

Auszüge aus: Ist Psychodiagnostik verantwortbar? -Wissenschaftler und Praktiker diskutieren Anspruch, Möglichkeiten und Grenzen psychologischer Erfassungsmittel Herausgegeben von Urs Pulver, Alfred Lang & Fred W. Schmid. Verlag Hans Huber Bern Stuttgart Wien, 1978

© 1998 by Alfred Lang

info@langpapers.org

Scientific and educational use permitted

Home ||

Inhalt

 

Zur Einleitung 1975 ("Krise der Diagnostik")

Aus der Diskussion

Zur Einleitung 1978 ("Die Stellung der Psychodiagnostik in der modernen Beratung")

Aus den Diskussionen

Top of Page


ALFRED LANG, Bern (Schweiz.Z.Psychol. 34 (3) 1975 247-249)

Ich muß mich beschränken, auf einige mir besonders wichtig scheinende Diskussionsbemerkungen zu antworten.

Herrn Schmids Unterscheidung zwischen Diagnose und Prognose halte ich nicht für möglich. Erst recht im Rahmen der Beratung scheinen mir dies bloß zwei Aspekte einer jeden Aussage des Psychologen zu sein: «du könntest erwägen, dies oder jenes zu tun» oder «ich rarte dir, dieses oder jenes zu tun» sind doch offensichtlich prognostische Aussagen, die die diagnostischen Aussagen implizieren: «denn du hast die entsprechenden Voraussetzungen»; und wenn man diagnostisch sagt: «du hast diese und jene Eigenschaften», so impliziert das: «und damit kannst du dieses sinnvollerweise tun, aber jenes nicht».

Zu Herrn Schmids heftiger Zurückweisung meiner Überlegungen möchte ich bemerken, dass ich nicht die Intentionen der Diagnostiker bezüglich der Wirkungen ihrer diagnostisch-prognostischen Aussagen in Zweifel ziehe, sondern nur die Effekte bedenken möchte, die sie ohnehin erzielen, ob intendiert oder nicht, nämlich insbesondere auf Grund ihrer professionellen Position. Ich erkläre gerne meine Bereitschaft, solche

Effekte, über die ich im Referat nur meine Vermutungen äußern konnte, auch empirisch zu untersuchen, vorausgesetzt, die damit verbundenen ethischen Fragen lassen sich befriedigend regeln und die Diagnostiker vermitteln mir den Zugang zu ihren Klienten.

Herr Pulver mißversteht mich, wenn er interpretiert, daß ich glaube, Mangel an prognostischem Wissen erhöhe die Autonomie der Person. Die Autonomie ist nicht vom Umfang des prognostischen Wissens abhängig; denn prognostisches Wissen ist seiner Natur nach stets unvollständig, und Wissenserweiterung kann das Handeln sogar lähmen. Autonomie ergibt sich meiner Meinung nach aus dem Verhältnis der Person zur Informationsquelle der Prognose. Sie ist unabhängig vom Inhalt der übermittelten Information und daher auch von ihrem Umfang. Sie ist allenfalls ein Aspekt der Metakommunikation.

Herrn Pulvers Gegenüberstellung von Psychometrie und «Beobachtung» kann ich nicht folgen. Trotz seiner Vorwegnahme dieses Arguments halte ich seinen Vorschlag für eine Einladung zur Wiederholung eines Holzwegs. Ich möchte dies wie folgt begründen: Auch Herr Pulver geht davon aus, daß seine «besonderen und seltenen Ereignisse» ihren Grund haben, d. h. er arbeitet im Rahmen einer deterministischen Wissenschaftstheorie. Dieser Grund muß sich dann notwendig auch in anderen, weniger seltenen und weniger besonderen Verhaltensweisen der betreffenden Person zeigen; sonst ist er nicht erforschenswert. Dann ist dieser Grund aber auch grundsätzlich einem psychometrischen Verfahren zugänglich, und es ist nur eine Frage der Zeit und Geduld, bis das betreffende psychologische Konstrukt definiert und ein geeignetes Meßinstrument entwickelt ist. Schließlich möchte ich zu bedenken geben, daß auch die Beobachtung dieser seltenen und besonderen Ereignisse doch irgendwie anders als bloß aus der Person des Diagnostikers gerechtfertigt werden sollte, sofern dieser für sich eine wissenschaftlich fundierte Tätigkeit in Anspruch nimmt. Die Gütekriterlen der Tests sind doch nur gerade ein solcher Rechtfertigungsversuch. Will man bei den Beobachtungen darauf verzichten, so heißt das, daß man die diagnostische Tätigkeit (zumindest auch) aus der Person des Diagnostikers rechtfertigt. Die Konsequenzen davon habe ich in meinem Referat darzustellen versucht.

Bei Diagnostik an Kindern scheint mir das Autonomieproblem eigentlich eher verschärft als abgeschwächt, Hier delegieren die Eltern ihre Autonomie, zusammen mit dem Kind oder für das Kind zu entscheiden, an den Erziehungsberater usf. Das muß für das Kind wie ein Modell erscheinen, ein Vorbild dafür, wie man zur Bewältigung von Schwierigkeiten sein Leben dem Experten überantwortet. Für Eltern und andere Handlungsbevollmächtigte ist es übrigens noch viel schwerer als für unmittelbar Beratene, eine Diagnose/ Prognose des Sachverständigen nicht zu befolgen; denn schlägt man den Rat aus und es kommt schief heraus, so sind die Vorwürfe kaum zu entkräften.

Zur Frage der Werthierarchie, die Herr Dupont aufgreift, möchte ich wiederholen, daß meine Hochwertung der Autonomie meine persönliche Stellungnahme darstellt; selbstverständlich sind andere Wertordnungen genau so legitim, und gerade aus dem Blickpunkt der Autonomie aller Personen möchte ich andere Wertordnungen der Andern achten. Das braucht mich aber nicht zu hindern, andere Wertordnungen zu kritisieren. Und gerade der Vorschlag Duponts, psychologische Dienstleistungen zur Vermehrung des Glücks oder zur Entfaltung der Person anzubieten, wecken in mir eine Gedankenfolge, die auf den ersten Blick übertrieben scheinen mag, die zur Diskussion zu stellen mir aber wichtig scheint.

Beiträge zu vermehrtem Glück oder individuelle Entfaltungshilfen, die sich nur diejenigen leisten können, die sowieso schon privilegiert sind, sind nicht Dienstleistungen, deren Anbietung ich für besonders dringlich halte. Im Gegenteil, sie widerstreben meinem Bedürfnis nach einem gewissen Ausmaß an sozialer Gerechtigkeit; analog den materiellen Gütern sollten auch solche geistigen Gütern nicht von Partikulärinteressen verwaltet und nach Belieben dispensiert werden. Anderseits erschreckt mich die naheliegende Alternative, die ja nicht selten befürwortet wird, solche Dienstleistungen im Interesse der persönlichen Entwicklung von Staates wegen allen anzubieten, noch mehr. Denn setzt man in die Staatsverfassung ein «Recht auf psychologische Dienstleistung», so ist der dienstleistende Psychologe auch verpflichtet, im Interesse seines arbeitgebenden Staates zu beraten. Seine «Arbeit an der ganzen Person des Klienten» ist aber dann doch von ganz anderer Tragweite als die der staatlich geregelten Dienstleistungen bezüglich Einzelfunktionen wie Zivil- oder Strafrecht, Gesundheit, Elementarbildung usf. Da ist vielleicht doch mein «Recht auf weitestmögliche Autonomie für alle» eine etwas bescheidenere Zielsetzung, die eher geeignet ist, eine pluralistische Gesellschaft funktionsfähig zu erhalten.

Herrn Duponts Forderung nach einer vergleichenden Überprüfung des Nutzens psychologischer Dienstleistungen mit oder ohne Testdiagnostik schließe ich mich gerne an. Nach meinen Hinweisen auf methodische, substantielle und ethische Schwierigkeiten der Diagnostik sind die «ökonomischen» Aspekte mein vierter Punkt gewesen, unter dem ich die «Krise der Diagnostik» diskutieren wollte. Ein verläßlicher Nachweis ihres Nutzens oder ihres Schadens ist leider immer noch nicht verfügbar. Ich weiß nicht, ob der Nutzen oder Schaden in summa größer ist. Aber ich möchte für selbstverständlich halten, daß einem Angebot professioneller Dienstleistung ein Nachweis von deren Nutzen vorauszugehen hat. Diesen Standpunkt will ich niemandem aufzwingen. Aber ihn zu sagen fühle ich mich verpflichtet.

 

Alfred Lang (Pulver, Lang & Schmid 1978 S. 195

A.Lang: Ich bin eigentlich in Versuchung, dieser Frage nach dem verhältnismässigen Wert der verschiedenen diagnostischen Mittel noch auszuweichen, weil wir dann bereits auf die Details kommen, ohne uns über das Grundsätzliche genügend Gedanken gemacht zu haben. Ich habe gesagt: Wir können die Methoden zum Zweck des Entdeckens fast beliebig einsetzen, ja, ich habe diese Freiheit betont, aber natürlich habe ich da ein bisschen übertrieben. Gewiss können wir auch bessere und schlechtere Instrumente unterscheiden nach verschiedenen Gesichtspunkten. Der Punkt, der mir aber ins Auge sticht, ist der, dass sie alle den Anspruch nicht erfüllen, den wir eigentlich stellen müssten, wenn wir unsere Aussagen rechtfertigen wollen. Auch die besten nicht! Aus den genannten Gründen, erstens der Nichtübertragbarkeit der Resultate, die aus interindividuell standardisierten Messinstrumenten gewonnen sind, auf Individuen und zweitens erst recht nicht beim prospektiven Verfolgen von genetischen Gebilden, wie ich es genannt habe. Meine Neigung wäre also jetzt, die Diskussion über diese einzelnen Punkte hinauszuschieben und zunächst zu fragen: Soll denn der Berater überhaupt versuchen, Teile seiner Tätigkeiten zu rechtfertigen? Soll er nicht besser eine Alternative verfolgen und allerdings mit dieser Alternative gewisse Möglichkeiten seiner Profession in Frage stellen? Er könnte sagen: Diese Ratschläge, die ich geben kann, habe ich mit meiner Person zu verantworten und nicht durch die Objektivierung, vermeintliche Objektivierung, die eine Pseudo-Objektivierung ist.

 

Alfred Lang (Pulver, Lang & Schmid 1978 S. 195

 

Top of Page