| In einem Aufsatz über "Notwendigkeit und Möglichkeit der psychologischen Wahrnehmungslehre" [1]
lenkt Oskar GRAEFE die Aufmerksamkeit auf das psychophysische Dilemma:
"nicht ohne ernste Folgen" für das Menschenbild dürfe die
Analyse der Wahrnehmungsfunktion aus der psychologischen
Persönlichkeitstheorie "ausgeklammert" werden. Gerade wegen der
grundsätzlichen Richtigkeit und Bedeutung dieser These darf
GRAEFEs erkenntnistheoretische Voraussetzung mit ihren
wissenschaftstheoretischen (I) und wissenschaftshistorischen (II)
Folgen nicht unwidersprochen bleiben. I Die
Wissenschaftlichkeit der Psychologie wird {von Graefe} auf die
Forderung gegründet, dass die Strukturidentität ihres
Beobachtungegegenstandes bei seiner Analyse intra- und intersubjektiv
gewährleistet ist. Darin liegt in der Tat die Voraussetzung jedes
wissenschaftlichen Forschens. Immerhin könnte für eine
vorsichtigere Formulierung plädiert werden, etwa in dem Sinne,
dass jene Aspekte der Struktur eines Beobachtungsgegenstandes, welche
die Wissenschaft im Interesse seiner Erforschung -- sei es über
das Medium einer Apparatur, sei es direkt -- in die phänomenale
Welt des Wissenschaftlers überführt, gegen solche
Transformation(en) invariant bleiben {sollen}. Streng genommen ist auch
das nur eine methodisch unumgängliche Voraus-Setzung, mithin --
wie der Energie-Impuls-Erhaltungssatz in der Physik -- eher ein
Postulat oder Axiom als ein Faktum. Wenn nun aber GRAEFE
über die Voraussetzung der Strukturidentität hinaus "für
den physikalischen Fall [...die] Identität hinsichtlich des
Substrates, des Stoffes des Gegebenen" (264) gefordert sein lässt,
so unterliegt er im günstigsten Fall einer schlichten
Verwechslung: nämlich des Physikalismus eines CARNAP mit
der Physik. Aus dem vorgebrachten Beispiel des physikalischen Vorgehens
-- zwei Physiker beobachteten "unter bestimmten Bedingungen den
Zusammenfall einer Zeigerspitze und eines Skalenstriches" (264) und
kommen im günstigsten Fall zu übereinstimmenden
Beobachtungsberichten -- ist schlechthin nicht einzusehen, warum "die
Wirkungsketten in der Bedingungsanalyse immer wieder auf als
substantiell gegeben Gedachtes zurückgeführt werden
müssen" (264); denn durch seine operationalen Definitionen (lies:
Anweisung, wie man das Experiment herstellt bzw. wiederholt) sichert
doch das experimentelle Vorgehen generell, dass mit von der Struktur her als gleich definiertem Material unter strukturgleichen
Bedingungen gleiche Ergebnisse erscheinen. Irgendwelche Materie,
erfüllt sie nur die gestellten Strukturbedingungen, kann in die
Versuche eingehen; die empirischen Wissenschaften befassen sich
allesamt mit Eigenschafts- und nicht mit Existentialbeziehungen (vgl.
LEWIN, 1922). Beispiel: man nehme ein beliebiges Stück
eines Stoffes von bestimmter chemischer Struktur (für GRAEFE der
Prototyp des Strukturbegriffes), bringe es in bestimmter Temperatur in
ein bestimmtes optisches System, und es wird ein bestimmtes Spektrum
resultieren. Beispiele aus der Atomphysik, wo die Elementarteilchen
gewissermassen nicht mehr mit sich selbst, sondern nur mit "ihrem"
Zustand identisch sind, dürften sich erübrigen. Folgerichtig
unterläuft GRAEFE nun eine zweite, folgenreichere Verwechslung,
nämlich der physikalischen mit der physischen Welt. In der
physikalischen Welt (und nicht erst für die physikalische
Theorie!) gibt es keine "Farbe 'Rot' eines Gegenstandes" (266), sondern
ausschliesslich elektromagnetische Wellen von bestimmten Frequenzen.
Kein Mensch wird aber ernstlich bestreiten wollen, dass wir die Farbe
"Rot" eines Gegenstandes wahrnehmen können; dem Chemiker scheint
die Farbwahrnehmung sogar derart zuverlässig, dass er sie in der
Spektralanalyse statt der vielgerühmten Zeigerablesung
benützt. Der Satz: "Angesichts der Unzulänglichkeit des
"Dings an sich" für die Beobachtung kann die psychologische
Wahrnehmungslehre nur das durch eine andere Wissenschaft, etwa die
Physik, definierbare Ding als Vergleichsgegenstand nehmen" (266) bleibt
unbewiesen. Da natürlich auch der Physik das "Ding an sich"
unzugänglich ist, müsste folglich auch diese Wissenschaft
ihren Beobachtungegegenstand wieder durch eine andere Wissenschaft
definieren. Die physikalistische Ideologie, die GRAEFE ungeachtet ihrer
vorherigen Uerwerfung wieder unterstellt, führt sich somit selbst ad absurdum
Wir wollen nicht leugnen, dass es im in gewissen Fällen nicht
nützlich sein mag, in die operationale Definition des
wahrnehmungspsychologischen Vergleichsgegenstandes auch physikalische
Formulierungen aufzunehmen. Aber es ist nicht notwendig; denn eine
intraphänomenale Skalierung ist prinzipiell möglich, wie es
WITTE (1962 und 1960) nachzuweisen gelungen ist. KOFFKAs Frage: "Why do
things look as they look?" bleibt die Grundfrage jeder
Wahrnehmungspsychologie, auch wenn es kein Jota einer physikalischen
Wissenschaft gäbe. Sie bedeutet: "Wie kommt er es zu einer so und
so organisierten phänomenalen Welt?" oder: "Warum sehen die
physischen (und nicht die physikalischen) Dinge so aus, wie wir sie
wahrnehmen?" Den Sinn dieser Frage nicht einsehen hiesse die
Psychologie der Wahrnehmung mit dem Wahrnehmen selbst verwechseln. Die Frage nach dem Verhältnis zwischen der physikalischen
und der psychologischen Welt ist jedoch eine ganz andere Frage. Sie
gehört {eigentlich} in die vergleichende Wissenschaftslehre. Sie
als eine Grundfrage der Psychologie betrachten heisst den Primat der
Physik vor der Psychologie anerkennen. Jene physische Welt, wie sie die
Physik untersucht, wird dadurch als "wirklicher" deklariert als irgend
eine andere (z.B. die phänomenale) physische Welt. In die
Wissenschaft ist unbemerkt eine ideologische Voraussetzung eingegangen,
nämlich {eine} materialistische (im umgekehrten Fall wäre es
{eine} idealistische). Diese gehen aber -- wie auch das "Ding an sich"
-- allein die metaphysische Ontologie an. Unmittelbar gegeben ist uns ausschliesslich die phänomenale Welt,
oder wie der Physiker zu sagen pflegt, die Erfahrungswelt. Jede Aussage
reicht bis in sie herein. In ihr finden wir neben den physischen auch
soziale und begriffliche "Dinge" und Verhältnisse vor. Insofern
{sie solche Erfahrungen zum Ausgangspunkt ihres Forschens machen,}
unterscheiden sich Physiker und Psychologen weder voneinander noch von
andern Wissenschaftlern. Nun gilt freilich ihr bevorzugtes Interesse je
verschiedenen, wann auch teilweise sich überschneidenden
Ausschnitten dieser phänomenalen Welt. Dementsprechend "greifen"
sie mit unterschiedlichen "Werkzeugen" an unterschiedlichen Stellen
hinein und fördern unterschiedliche Ergebnisse zutage.
Entscheidend ist die Verschiedenheit der "Werkzeuge"; denn diese gehen
in das Ergebnis ein und lassen sich davon nicht wieder trennen. Unter
"Werkzeugen" verstehen wir die Voraussetzungen und die Art und Weise
der Transformation [2]
{jener Erfahrungen in "Erkenntnis"}. Die Wissenschaft fuhrt einen
Ausschnitt aus der Erfahrungswelt in ein Begriffsgefüge über,
zunächst stets innerhalb der phänomenalen Welt {der direkt
oder indirekt erfahrenden und forschenden Person} selbst; denn auch die
Begriffs münden immer in die Erlebniswelt des Begreifenden, nur
hier gewinnen sie Bedeutung. Übersteigt nun allerdings dieses
Begriffsgefüge die Kapazität der Erlebniswelt, so nimmt der
Wissenschaftler einen andern Ausschnitt der "Erfahrungs"welt zuhilfe
(z.B. ein Modell oder einen Formalismus auf dem Papier; wenn man will
auch ein Computerprogramm), welcher gewöhnlich von anderen
Wissenschaftlern bei Gelegenheit analoger Fälle, aber auch um der
Konstruktion willen (reine Mathematik!) hergestellt wurde und meistens
wenigstens teilweise übernommen, schlimmstenfalls ad hoc
konstruiert wird. Es ist prinzipiell gleichgültig, welcher
Verfahren sich eine solche Transformation bedient. Doch hofft der
Wissenschaftler, dass jene Aspekte seines Gegenstandes, die ihn
interessieren, durch alle Transformationen hindurch -- wie wir bereits
angedeutet haben -- invariant bleiben, so dass mithin
Schlussfolgerungen, die er auf Grund der Verhältnisse in seiner
konstruierten Welt zieht, auch auf die Erfahrungswelt, von der er
ausgegangen ist, Anwendung finden können, falls er seine Aussagen
-- die "Voraussagen" -- auf jene Ausschnitte und Aspekte, die er
ursprünglich berücksichtigt oder auf die hin er seine
Konstruktion richtig verallgemeinert hat, zu beschränken versteht.
Die Aussagen treffen zu, wenn drei Bedingungen erfüllt sind: a) richtige Transformation von der Erfahrungswelt in die Konstruktion (semantisch-induktiv), b) richtige "Manipulationen" innerhalb der Konstruktion (syntaktisch) und
c) richtige Rücktransformation von der Konstruktion in die Erfahrungswelt (semantiach-deduktiv).
"Richtig" heisst in diesem Zusammenhang nichts als systemkonsequent, logisch richtig.
Um
diese Richtigkeit zu gewährleisten wendet der Wissenschaftler
einen Trick an. Ginge er nämlich allein den Weg in der
vorgeschlagenen Richtung, so wäre insbesondere Schritt a) eine
blosse Induktion. Der Forscher wäre nie sicher, ob seine
Konstruktion mit dem untersuchten Erfahrungsweltausschnitt kongruent
sei. Deshalb macht er zugleich mit dieser Induktion den umgekehrten
Schritt, und dieser ist nun deduktiv. M.a.W. der heutige
Wissenschaftler glaubt nicht länger, wie sein Vorgänger des
letzten und vorletzten Jahrhunderts, und wie manche heute noch meinen,
er könne das "Wirkliche" erforschen, indem er es abbilde. Er konzipiert vielmehr ein selbständiges Bild,
und zwar recht unabhängig von der sogenannten Wirklichkeit in
irgendwelchem Sinn, wenngleich "mit einem Auge auf die Erfahrungswelt
schielend". Dieses "Bild" ist seine theoretische Konstruktion. Durch
den methodischen Primat der Theorie vermeidet er, auf Grund von
Kriterien, deren Tragweite er nicht überblickt -- und oft auf
Grund gar keiner Kriterien sondern von Zufällen, bestenfalls
Traditionen -, gewisse Sachverhalte für "wirklicher" als andere
anzunehmen, willkürlich dieses zu berücksichtigen, jenes aber
nicht, usf. Ferner gelingt es ihm -- ein entscheidender Gewinn! -, die
oben angeführten drei Bedingungen für richtige (Vor-)Aussagen
auf zwei zu reduzieren. Die Schritte (a) spielen nun nur noch eine
Rolle beim Abstecken des Gebietes für die Theoriebildung: für
den eigentlichen wissenschaftlichen Gedankengang entfallen sie, d.h.
sie gehen in solche vom Typus (c) Ober. Der semantische
Induktionsfehler beeinflusst dadurch nicht länger richtig oder
unrichtig die (Vor-)Aussagen; sondern er bewirkt schlimmstenfalls die
Unanwendbarkeit der betreffenden theoretischen Konstruktion auf die
vorliegende Fragestellung; eine adäquatere Theorie muss dann neu
konzipiert werden. Alle semantischen Transformationen nehmen also nun
die gleiche Form an. Fakten (d.h. Aussagen) sind für die Theorie
nur dann von entscheidender Bedeutung, wenn sie aus der Theorie
abgeleitet sind. Alle Fakten haben eine zweifache Definition: eine
begriffliche in der Theorie und eine operationale in Bezug auf die
Erfahrungswelt. Die Herstellung eines echten Pendants in der
Erfahrungswelt für ein "Ding" oder Verhältnis in der
Konstruktion wird dadurch gewährleistet, dass die operationale
Definition stets in derselben Richtung erfolgt. Was wir hier -- notgedrungen etwas ausführlich -- als das Prinzip wissenschaftlichen Forschens
dargestellt haben, gilt für alle Wissenschaften in gleicher Weise.
Wie immer sich der Gegenstand innerhalb der phänomenalen Welt
darstelle: seine Erforschung (d.h. das "Aussagen-machen-Können
über") ist nur dadurch möglich, dass man ihn in eine
Transformation überführt, an welcher er -- im günstigen
Fall hinsichtlich des untersuchten Aspektes invariant -- teilhat, in
die jedoch, unlösbar verknüpft, auch die Prinzipien der
betreffenden theoretischen Konstruktion eingehen. Es wird damit
einsichtig, dass zwei Wissenschaften oder zwei theoretische
Ansätze derselben Wissenschaft ein- und denselben Gegenstand
untersuchen, dabei zu verschiedenen Ergebnissen gelangen und dennoch
beide zu treffend sein können. Gemeinsam und somit
Vergleichskriterium ist diesen beiden Wissenschaften {dann} der
Gegenstand in der Form der phänomenalen Welt; verschieden sind die
Transformationen. [3] Die legitime Aufgabe jeder Wissenschaft ist die Explizierung der ihr eigenen Transformationsweise,
und nicht der Vergleich ihrer Transformationsweise mit derjenigen einer
anderen Wissenschaft. Dieses zweite Problem ist interessant und
reizvoll, sinnvoll aber erst, wenn die zu vergleichenden Wissenschaften
ihre jeweiligen Transformationsweisen bis zu einem gewissen Grad
dargestellt haben. So weit ist, nebenbei bemerkt, die Psychologie wohl
noch nicht. Natürlich reizt über den Vergleich hinaus die
Aufgabe -- besonders wenn man von einem Weltbild ausgeht, welches die
Welt als solche einheitlich auffasst -- , die verschiedenen
Transformationsweisen der verschiedenen Wissenschaften auf einen
gemeinsamen Nenner zu bringen und somit eine formale
"Einheitswissenschaft" (nicht zu verwechseln mit der
physikalistischen!) zu erreichen. Doch dürfte das ein sehr
entfernter Wunschtraum sein, da gegenwärtig und in absehbarer Zeit
diese Einheitlichkeit nicht einmal innerhalb der Physik für sich
möglich zu sein scheint. [4] Für die Psychologie besteht also, um endlich auf GRAEFEs zweite Verwechslung zurückzukommen, zu Recht ein psychophysisches,
nicht aber ein psychophysikalisches Problem. (Die Sprache weiss es
{hier} besser, als die sie sprechen{; sie haben es ja
psychophysikalisch gestellt.} Denn in der physikalischen Welt kann so
wenig von Materialidentität die Rede sein wie in der
psychologischen; wohl aber sind uns in der phänomenalen Welt
physische Dinge gegeben, die wir teilweise und unter anderem als
materielle erleben. [5]
Eine psychologische Wahrnehmungslehre hat anzugeben, wie die physischen
(und übrigens auch die sozialen und kulturellen) "Dinge" in die
psychische Organisation (die Person) eingehen und auf sie wirken; eine
psychologische Exekutivlehre erforscht den Umgang der psychischen
Organisation mit den physischen usf. "Dingen". Der "eigentliche"
Gegenstand der Psychologie ist allerdings die psychische Organisation
selbst; insofern sich die Person jedoch in der Auseinandersetzung mit
ihrer jeweiligen Umwelt im Lauf der Entwicklung erst konstituiert, geht
auch diese Umwelt mit in die psychische Organisation ein. Diese Umwelt
der Person ist eine physische, nicht eine physikalische Welt. (Man
beachte, dass die Physik nicht die physische Welt einer bestimmten
Person oder Gruppe erforschen kann, sondern nur die physische Welt
schlechthin, gewissermassen den Konsenses der
phänomenal-physischen Welten aller Personen!) Die Person, ihre
physische Welt sowie die beiden den Kreis schliessenden Wahrnehmungs-
und Exekutivfunktionen bilden mithin den Gegenstand der Psychologie im
weiteren Sinn. Eine solche Konzeption der psychologischen Person ist
weitgehend von der theoretischen Psychologie Kurt LEWINs inspiriert. II Wir
sind damit bereits bei unserem zweiten, wissenschaftshistorischen
Einwand angelangt: dieser lässt sich etwas spezifischer fassen. GRAEFE kritisiert zu Recht den Behaviorismus,
weil er das psychophysische Problem dadurch umgehe, dass er die Person
ausklammere. Streng genommen wird allerdings im Behaviorismus nur ein
von GRAEFE zu Unrecht postuliertes psychophysikalisches Dilemma dadurch
umgangen, dass alle psychologischen Aussagen hypothetisch aus den
allein untersuchungswürdigen physikalischen Fakten erschlossen
werden {sollen}. Damit setzt nicht nur jede Analyse vor der Wahrnehmung bzw. nach
der Handlung an, sondern überhaupt ausserhalb der psychischen Welt;
diese wird im extremen Fall als nichtexistent deklariert. -- Als
zweites kritisiert GRAEFE mit dem umgekehrten Argument den phänomenologischen Introspektionismus, weil seine Analyse nach jeder Wahrnehmung und vor
jeder Handlung ansetze. In Bezug auf einen Introspektionismus, der --
wie der Behaviorismus eine materialistische -- eine idealistische
Ideologie impliziert, besteht diese Kritik u.E. ebenfalls zu Recht. Es
geht jedoch nicht an, als Beispiel eines phänomenologischen
Introspektionismus die Theorie LEWINs hinzustellen, da diese Theorie
keinesfalls "die Gesetzmässigkeiten und Zusammenhänge [...]
unter Absehung von physikalischen Systemzusammenhängen auf den
Bereich der Erlebniswelt beschränkt" (279). [6] Man
darf wohl sagen, dass Kurt LEWIN der Begründer der experimentellen
Handlungspsychologie war. Abgesehen von der Psychoanalyse
(Behaviorismus und Reflexologie untersuchten nur das Lernen von
Verhaltensweisen) waren es LEWIN und seine Schüler, welche
erstmals experimentell und systematisch aus dem Handeln auf Struktur
und Dynamik der handelnden Person schlossen und damit den
Funktionskreis: Umwelt - Wahrnehmung - Person - Handeln - Umwelt nicht
nur in gedanklicher Spekulation vollzogen, sondern im Experiment
aufzeigen konnten (LEWIN, 1926; ZEIGARNIK, OVSIANKINA, DEMBO, usw.).
Vorher war die Psychologie des "Handelns" eine Willens- und damit eine
Bewusstseinspsychologie gewesen. Dieser Umstand sollte zumindest
stutzig machen, wenn man LEWIN des Introspektionismus bezichtigen will. Dass
eine solche Umdeutung denn auch nicht ohne "Gewaltanwendung" vonstatten
geht, mag der folgende Umstand zeigen. GRAEFE führt als Kronzeugen
seiner These BRUNSWIK an (279), der LEWIN in der Tat vorgeworfen hat,
sein System sei "post-perceptual, and pre-behavioral" (BRUNSWIK, 1943;
zitiert nach LEWIN, 1951, S.57). Wie hat man zu verstehen, dass G. zwar
den Aufsatz L.s, der dessen Antwort an E. enthält, kennt (LEWIN,
1943; abgedruckt in 1951, Kap.III), auf diese Antwort aber mit keinem
Wort eingeht? Das wiegt doppelt, weil L. in diesem Aufsatz nicht nur
B.s Vorwurf zurückgewiesen, sondern u.a. seine Theorie dahingehend
revidiert hat, dass Sensorium und Motorium als Grenzzone zwischen dem
Lebensraum und der äusseren Hülle der physischen und sozialen
Welt lokalisiert werden (LEWIN, 1951, 5.57; vgl. dazu auch CARTWRIGHT,
1959), während G. fortwährend auf die ursprüngliche
Konzeption (Sensorium/Motorium zwischen Person und Umwelt im
Lebensraum) bezugnimmt. Diese Revision beruht auf einem Vorschlag
LEEPERs (1943), den auch G. erwähnt; doch erwähnt er nicht
LEWINs Sanktion dieses Vorschlags im Vorwort zu LEEPERs Schrift. Mithin
"wäre LEWIN" nicht "zu korrigieren" (282); denn er hat sich
bereits selbst korrigiert. In seiner Antwort an BRUNSWIK führt
LEWIN aus, dass die Wahrnehmung "abhängig ist teils vom Zustand
der inneren Teile des psychologischen Feldes, d.h. von Charakter,
Motivation, Erkenntnisstruktur, Wahrnehmungsweise, usf. der Person, und
teils von der 'Verteilung der Reize' auf der Netzhaut oder den andern
Rezeptoren, wie sie durch die physischen Vorgänge ausserhalb des Organismus
bewirkt wird (LEWIN, 1951, S.57; Auszeichnung durch uns). Entsprechendes
gelte für die physischen und sozialen Handlungen. Damit hat LEWIN
wohl in klarer Weise dargelegt, dass er Wahrnehmung und Exekutive als
echte psychophysische Bindeglieder auffasst. Am
Übersetzungsproblem der zitierten Textstelle lässt sich
einsichtig machen, wie es bei GRAEFEs physikalistischer Voraussetzung
zu seiner Fehlauffassung des LEWINschen Systems kommen musste. Der
Schluss des zitierten Satzes lautet englisch: "... as enforced by
physical processes outside the organism." Dieses "physical" [7]
dürfte nun keinesfalls mit "physikalisch" übersetzt werden;
denn in diesem Falle wäre ja keine Möglichkeit für das
Wahrnehmen von psychischen und sozialen Gegebenheiten wie etwa den
Gefühlen und Haltungen anderer Personen, die sich doch wohl nicht
physikalisch festlegen lassen, wohl aber auf Trägern ruhen, die
wir u.a. als physisch erleben. LEWIN ist immerhin auf Grund seiner
Konzeption zum Anreger der ganzen "social perception"-Forschung und zum
Begründer der Gruppendynamik geworden, welche gerade das
wechselseitige Ineinanderspielen von Handlungen und Wahrnehmungen
mehrerer Personen in einer Situation zum Gegenstand hat (vgl. dazu
DEUTSCH, 1954). GRAEFE behauptet, LEWINs Theorie bleibe
eingekapselt in eine Welt erlebter Phänomene und Impulse" (284).
Warum kommt aber der Begriff der psychologischen Oekologie in
seinem Aufsatz nicht vor, welchen Wissenschaftszweig LEWIN eigens dazu
postuliert und in den Grundzügen entworfen hat, die Art und Weise
der Beeinflussung des psychologischen Lebensraumes durch die physischen und sozialen Fakten der "äusseren Hülle"
(foreign hull) zu erfassen (vgl. LEWIN, 1951, Kap. III und VIII)? Es
scheint, dass der Begriff des psychologischen Lebensraumes trotz seiner
klaren Definition (Konstruktum für die Gesamtheit des zu einer
gegebenen Zeit psychisch Wirksamen) im Sinne einer subjektiven
Befindlichkeit od.dgl missverstanden wird. Mithin durfte es nicht
überflüssig sein, den LEWINschen Ansatz in seinen hier
relevanten Grundzügen kurz zu überblicken. Der externe
Beobachter findet ein Individuum in einer (physischen) Welt vor. Um
dessen Verhalten (bzw. Erlebnisberichte oder, falls er sich selbst
betrachtet, sein Erleben) erklären zu können, führt er
das Vorgefundene in eine theoretische Konstruktion über
{Transformation}; dabei wird das Individuum zum psychologischen
Lebensraum, die Welt, in der es existiert, zu dessen äusserer
Hülle. Letzteres sind die "Fakten der physisch- sozialen Welt"
(vgl. dazu CARTWRIGHT, 1959, S.65ff.). Diese sind Gegenstand
verschiedener Wissenschaften, jedoch nicht der Psychologie, da sie als
solche {einem Beobachter} nicht psychisch gegeben sind. Von ihnen sind
die meisten zu einer gegebenen Zeit ohne Einfluss auf das Individuum
(Aussenwelt = A); einige aber beeinflussen den Lebensraum, ohne jedoch
bereits psychologischen Gesetzmässigkeiten unterworfen zu sein.
Sie stellen die äussere Hülle i.e.S. (H) des Lebensraumes
dar; dessen Beeinflussung kommt über das Sensorium zustande.
Aussagen darüber zu machen, welche Teile von A zu einer bestimmten
Zeit und für ein bestimmtes Individuum (oder eine Gruppe) in H
übergehen können, ist die Aufgabe der psychologischen Oekologie
(vgl. LEWINs Antwort an BRUNSWIK in LEWIN, 1951, S.58f). Ist ein solcher
Ausschnitt der äusseren Hülle einmal in den Lebensraum
eingegangen, dann -- und erst dann! -- wird er zum Gegenstand der
Psychologie. Erst dann ist er psychisch gegeben: nämlich entweder
direkt im Erleben (d.h. als Wahrnehmung) oder aus Erleben und Verhalten
als der psychischen Organisation zugehörig erschliessbar. [8]
Das Gegenteil der phänomenologischen Einkapselung ist also der
Fall, da das Wahrnehmen zum Spezialfall des Aufnehmens in die
psychische Organisation überhaupt erklärt wird. Der
Gegenstand der Wahrnehmungspsychologie ist ausschliesslich die Art und
Weise, wie es zum Phänomen {und anderen Wirkungen aus (A) in die
psychische Organisation} kommt; in die psychische Organisation geht
aber auch anderes und mehr ein, wie sich leicht am Beispiel der
sogenannten "subliminal stimulation" erkennen lässt. Man kann
natürlich solche Vorgänge, die sich nur indirekt ins
Phänomenale "heben" lassen, in den Bereich der Physiologie
verweisen; es ist dann aber nicht einzusehen, wie eine geschlossene und
auch auf solche Fälle anwendbare psychologische Theorie
möglich sein soll. [9] Im
Lebensraum zu einer gegebenen Zeit -- alle Lebensräume LEWINs sind
Darstellungen zu einer gegebenen Zeit -- ist die physisch-soziale
Situation des betreffenden Individuums repräsentiert; für das
Geschehen im Lebensraum im betreffenden Zeitdifferential ist mithin das
Aufnehmen (und also die Wahrnehmung) irrelevant, da es bereits
stattgefunden hat. BRUNSWIK hat recht, wenn er sagt, der Lebensraum sei
"post-perceptual, and pre-behavioral" (so LEWIN, 1951, S.57); aber der
Lebensraum ist nicht die ganze Psychologie LEWINs. man darf die
Unterteilung des Lebensraumes in psychologische Person und
psychologische Umwelt nicht verwechseln mit dem vorgefundenen
Individuum (der {eigenen oder fremden} phänomenalen Person) in
einer physischen Welt. Es gibt, so weit wir sehen körnen, keine
andere Möglichkeit als die einer begrifflichen Konstruktion von
der Art des Lebensraumes, will man, wie sich das mehr und mehr
durchsetzt (vgl. z.B. NUTTIN, 1959), die Persönlichkeit als durch
die physisch-soziale Welt, in der sie lebt, mit-konstituiert und die
jeweilige phänomenale Welt einer gegebenen Person als durch diese
Person mit- konstituiert auffassen. Es gibt u.E. auch keine
befriedigende andere Lösung des Motivationsproblems; erst wenn man
Person und Umwelt als relativ einheitlich und relativ gesondert in ein
System aufnimmt, kann man über einen entweder
umweltunabhängigen Triebbegriff bzw. einen personunabhängigen
Reizbegriff hinwegkommen. [10]
Nur wenn man, wie das im Begriff des Lebensraumes geschieht' die
aktuelle Person-Umwelt-Einheit jedes Zeitmoments als ein (relativ)
geschlossenes System auffasst, darf man überhaupt von
Persönlichkeit sprechen; [11]
und nur dann ist man in der Lage, wie das in der psychologischen
Oekologie im Sinne LEWINs geschieht, diese Person-Umwelt- Einheit
innerhalb einer physischen Welt zu lokalisieren, mit der sie
wahrnehmend und handelnd kommuniziert und sich zur Persönlichkeit
ausformt. Fussnoten [1] Psychol. Forsch. 26 1961 262-298 [2]
Diese {Transformation von Erfahrungen in Begriffe und Theorien} ist von
der daraus abgeleiteten {besser: sie begleitenden, sie stützenden}
Untersuchungsmethodik, Apparatur, Messtechnik, usf. wohl zu
unterscheiden. Innerhalb derselben Theorie können mehrere Methoden
zum selben Befund führen; wir verkennen nicht die
Methodeninvarianz gemeint war wohl: wir können und sollen die
Methodeninvarianz solcher Transformationen nicht hoch genug
schätzen}. Doch führen {anderseits} verschiedene Theorien
notwendig zu verschiedenen Befunden über die gleiche
{Erfahrungs-}Gegebenheit; eine sie vereinende Transformationsformel
stellt im Prinzip eine übergeordnete Theorie dar. [3] Vgl. die Exemplifizierung in der Fussnote auf Seite 9. [4]
Diese Tatsache steht im Gegensatz zu GRAEFEs Bemerkung, "das System
physikalischer Zusammenhänge [sei] grenzenlos in sich geschlossen"
(283), was seinen Physikalismus, seine Verabsolutierung der Physik
deutlich belegt. [5] Es liegt nahe, analog zu MICHOTTEs Nachweis der Kausalität als einer "phänomenalen Gegebenheit sui generis"
(1946) auch den Substanzbegriff als eine rein phänomenale
Kategorie zu statuieren; von einer durchaus möglichen Graduierung
der Substanzhaftigkeit wäre zu einem eigentlichen Bezugssystem
(vorderhand unbekannter Dimensionalität) der Substanz vorzustossen. [6] GRAEFEs
Behauptung ("dass im Theoriesystem LEWINs für die Wahrnehmungs-
und Exekutivfunktion kein Platz ist, und die Versuche, sie
einzugliedern, das System sprengen" (282)) kann nur stimmen, wenn man
Wahrnehmung und Exekutive, wie es G. tut, als Bindeglieder zwischen
Physik und Psychologie auffasst; dass aber das psychophysische Problem
nicht mit einem psychophysikalischen verwechselt werden darf, haben wir
oben (I) dargelegt. [7] Die englische
Sprache macht keine Unterscheidung zwischen "physisch" und
"physikalisch": beidemale heisst es "physical"; kaum {mehr}
gebräuchlich ist die entsprechende Unterscheidung zwischen
"psychisch" = "psychic(al)" und "psychologisch" = "psychological",
besonders da "psychical" auch einen spiritistischen Beiklang hat;
"social" und "sociological" werden jedoch bereits recht deutlich
unterschieden. Das ist aus dem Vorherrschen der empiristischen
Grundhaltung im englischer Sprachbereich durchaus verständlich.
Hat man aber einmal (vielleicht als ein später Schüler KANTs)
eingesehen, dass ein wissenschaftliches Begreifen der unmittelbar oder
im Gedächtnis erfahrenen, d.h. der phänomenalen Welt -- sei
sie physisch, sozial oder psychisch -- nur durch Transformation in eine
begriffliche Konstruktion, in welche jeweils bestimmte theoretische
Voraussetzungen untrennbar mit eingehen, möglich ist: dann wird,
konstruieren wir eine Wissenschaft, die physische Welt unter bestimmten
Voraussetzungen eben zur physikalischen, unter anderen Voraussetzungen
zur chemischen Welt, usf.; ein besonderer Ausschnitt aus der physischen
Welt, nämlich was lebt, wird je nach der zugrundegelegten Theorie
zur biologischen, anatomischen, ethologischen, usf. Wissenschaft; die physische Welt kann aber nicht als solche in eine Psychologie transformiert werden, sondern nur insofern sie zunächst zu einer psychischen
geworden, d.h. in die psychische Organisation aufgenommen und dort
repräsentiert ist; parallel dazu geht sie auch in den Organismus
ein und kann somit auch in eine Physiologie transformiert werden. [8]
WITTE (1962) meint, wenn wir recht verstehen, es sei unumgänglich,
hier auf den physiologischen Prozess zu rekurrieren, Das muss
natürlich möglich sein (vgl. unsere Fussnote auf Seite 9);
bei einem höheren Entwicklungstand der Physiologie dürfte es
sich wahrscheinlich oft als praktisch erweisen. Nicht notwendig, und
für die psychologische Theoriebildung u.E. im Augenblick sogar
eher schädlich, ist es jedoch deshalb, weil die physische Tatsache
mit ihrer Aufnahme in die psychische Organisation bereits zu einer
psychischen (oder quasi-psychischen) geworden ist und mithin in einer
vollständigen psychologischen Konstruktion ihre Stelle finden
können muss -- parallel dazu allerdings im Nervensystem auch zu
einem (andersartigen, aber transformierten) Sachverhalt geworden ist
und als solcher ebenfalls einer physiologischen Konstruktion
angehören kann. Die beiden theoretischen Konstruktionen sind zwar
isomorph zu denken, doch muss jede in sich als ein System
vollständig sein. [9] Uebrigens
befindet sich auch die Physik in derselben Lage wie die Psychologie, da
dort die phänomenal-physische wie hier die
phänomenal-psychische Welt den Gegenstand der Wissenschaft nicht
vollständig ausmachen. Beispielsweise ist eine Vorstellung der
Atomstruktur theorieunabhängig nicht möglich; solche
Vorstellungen sind somit als quasi-physisch zu kennzeichnen{, da sie
denkende und/oder öffentlich symbolisierende Forscher und
Rezipienten voraussetzen bzw. einschliessen müssen}. Dadurch wird
die eminente Bedeutung eines Konstruktum sichtbar, welches alles Psychische zusammen mit dem Quasi-Psychischen einschliesst. [10]
Dass LEWINs System "fertig" sei, wird niemand ernstlich behaupten
wollen. Gerade das Verhältnis zwischen der unter dem Begriff der
Spannung konzipierten Struktur der psychologischen Person und der unter
dem Begriff des Kraftfeldes konzipierten Struktur der psychologischen
Umwelt bleibt zwiespältig, worauf übrigens auch GRAEFE
hinweist (Text S. 286 und Fussnote S.288). Hier bedarf die Konzeption
wesentlicher Modifikationen. [11] Es ist
nur logisch, dass der Ansatz -- gerade durch die systematische
Darstellung der Verhältnisse im Lebensraum für jedes
Zeitdifferential -- grosse Chancen zur Lösung des
Entwicklungsproblems enthält (vgl. LEWIN, 1951, Kapitel V). Literatur BRUNSWIK, E., Organismic achievement and environmental probability. Psychol.Rev. 50 1943 255-272. CARTWRIGHT, Dorwin, Lewinian theory as a contemporary systematic framework. In: KOCH (Ed.), Psychology Vol.II, New York, McGraw-Hill, 1959 7-91. DEUTSCH, Morton, Field theory in social psychology. In: LINDZEY (Ed.), Handbook of social psychology, Cambridge Mass., Addison-Wesley, 1954 181- 222. LEEPER, R.W., Lewin's topological and vector psychology. Eugene Or., University of Oregon Press, 1943. LEWIN, Kurt, Vorsatz,
Wille und Bedürfnis. Mit Vorbemerkungen über die psychischen
Kräfte und Energien und die Struktur der Seele. Berlin, Springer, 1926 (ebenfalls: Psychol.Forsch. 7 1926 294-385. ders., Defining the "field at a given time". Psychol.Rev. 50 1943 292-310. (abgedruckt in LEWIN, 1951, Kapitel III). ders., Field theory in social science. Selected theoretical papers. (ed. D. Cartwright) New York, Harper & Brothers, 1951 (deutsche Uebersetzung im Druck, Bern, Huber, 1963). MICHOTTE, A., La perception de la causalité. Louvain, Inst.Sup.Philos., 1946. NUTTIN, Joseph, Ueber den dynamischen Aspekt der Persönlichkeit. In: v. BRACKEN & DAVID (Eds.), Perspektiven der Persönlichkeitstheorie. Bern, Huber, 1959 153-162. WITTE, Wilhelm, Ueber Phänomenskalen. Psychol.Beitr. 4 1960 445-472. ders., Zur Wissenschaftsstruktur der psychologischen Optik. Psychol. Beitr. 6 1962 451-462. Alfred Lang, Psychol. Inst. d. Universität, Falkenplatz 16, B E R N / Schweiz
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