Alfred Lang

University of Bern Switzerland

Unpublished Manuscript 1962

Unbemerkter Physikalismus in der Psychologie

Bemerkungen zu einem wissenschaftstheoretischen und einem wissenschaftshistorischen Irrtum

1962-02 Physikalismus 45KB

@SciTheo @SciHist

März 1962, aus Anlass eines Aufsatzes von Oskar Graefe

{Zusätze 1997 in geschweiften Klammern}

>>>1974-01SystUmwPsy
>>>1981-01GestalttheoEntw
>>>1992-02LewinGenese
 

Revisions: 1997, 1998.11.01, 2003.07.03

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In einem Aufsatz über "Notwendigkeit und Möglichkeit der psychologischen Wahrnehmungslehre" [1] lenkt Oskar GRAEFE die Aufmerksamkeit auf das psychophysische Dilemma: "nicht ohne ernste Folgen" für das Menschenbild dürfe die Analyse der Wahrnehmungsfunktion aus der psychologischen Persönlichkeitstheorie "ausgeklammert" werden. Gerade wegen der grundsätzlichen Richtigkeit und Bedeutung dieser These darf GRAEFEs erkenntnistheoretische Voraussetzung mit ihren wissenschaftstheoretischen (I) und wissenschaftshistorischen (II) Folgen nicht unwidersprochen bleiben.

 

I

Die Wissenschaftlichkeit der Psychologie wird {von Graefe} auf die Forderung gegründet, dass die Strukturidentität ihres Beobachtungegegenstandes bei seiner Analyse intra- und intersubjektiv gewährleistet ist. Darin liegt in der Tat die Voraussetzung jedes wissenschaftlichen Forschens. Immerhin könnte für eine vorsichtigere Formulierung plädiert werden, etwa in dem Sinne, dass jene Aspekte der Struktur eines Beobachtungsgegenstandes, welche die Wissenschaft im Interesse seiner Erforschung -- sei es über das Medium einer Apparatur, sei es direkt -- in die phänomenale Welt des Wissenschaftlers überführt, gegen solche Transformation(en) invariant bleiben {sollen}. Streng genommen ist auch das nur eine methodisch unumgängliche Voraus-Setzung, mithin -- wie der Energie-Impuls-Erhaltungssatz in der Physik -- eher ein Postulat oder Axiom als ein Faktum.

Wenn nun aber GRAEFE über die Voraussetzung der Strukturidentität hinaus "für den physikalischen Fall [...die] Identität hinsichtlich des Substrates, des Stoffes des Gegebenen" (264) gefordert sein lässt, so unterliegt er im günstigsten Fall einer schlichten Verwechslung: nämlich des Physikalismus eines CARNAP mit der Physik. Aus dem vorgebrachten Beispiel des physikalischen Vorgehens -- zwei Physiker beobachteten "unter bestimmten Bedingungen den Zusammenfall einer Zeigerspitze und eines Skalenstriches" (264) und kommen im günstigsten Fall zu übereinstimmenden Beobachtungsberichten -- ist schlechthin nicht einzusehen, warum "die Wirkungsketten in der Bedingungsanalyse immer wieder auf als substantiell gegeben Gedachtes zurückgeführt werden müssen" (264); denn durch seine operationalen Definitionen (lies: Anweisung, wie man das Experiment herstellt bzw. wiederholt) sichert doch das experimentelle Vorgehen generell, dass mit von der Struktur her als gleich definiertem Material unter strukturgleichen Bedingungen gleiche Ergebnisse erscheinen. Irgendwelche Materie, erfüllt sie nur die gestellten Strukturbedingungen, kann in die Versuche eingehen; die empirischen Wissenschaften befassen sich allesamt mit Eigenschafts- und nicht mit Existentialbeziehungen (vgl. LEWIN, 1922).

Beispiel: man nehme ein beliebiges Stück eines Stoffes von bestimmter chemischer Struktur (für GRAEFE der Prototyp des Strukturbegriffes), bringe es in bestimmter Temperatur in ein bestimmtes optisches System, und es wird ein bestimmtes Spektrum resultieren. Beispiele aus der Atomphysik, wo die Elementarteilchen gewissermassen nicht mehr mit sich selbst, sondern nur mit "ihrem" Zustand identisch sind, dürften sich erübrigen.

Folgerichtig unterläuft GRAEFE nun eine zweite, folgenreichere Verwechslung, nämlich der physikalischen mit der physischen Welt. In der physikalischen Welt (und nicht erst für die physikalische Theorie!) gibt es keine "Farbe 'Rot' eines Gegenstandes" (266), sondern ausschliesslich elektromagnetische Wellen von bestimmten Frequenzen. Kein Mensch wird aber ernstlich bestreiten wollen, dass wir die Farbe "Rot" eines Gegenstandes wahrnehmen können; dem Chemiker scheint die Farbwahrnehmung sogar derart zuverlässig, dass er sie in der Spektralanalyse statt der vielgerühmten Zeigerablesung benützt. Der Satz: "Angesichts der Unzulänglichkeit des "Dings an sich" für die Beobachtung kann die psychologische Wahrnehmungslehre nur das durch eine andere Wissenschaft, etwa die Physik, definierbare Ding als Vergleichsgegenstand nehmen" (266) bleibt unbewiesen. Da natürlich auch der Physik das "Ding an sich" unzugänglich ist, müsste folglich auch diese Wissenschaft ihren Beobachtungegegenstand wieder durch eine andere Wissenschaft definieren. Die physikalistische Ideologie, die GRAEFE ungeachtet ihrer vorherigen Uerwerfung wieder unterstellt, führt sich somit selbst ad absurdum Wir wollen nicht leugnen, dass es im in gewissen Fällen nicht nützlich sein mag, in die operationale Definition des wahrnehmungspsychologischen Vergleichsgegenstandes auch physikalische Formulierungen aufzunehmen. Aber es ist nicht notwendig; denn eine intraphänomenale Skalierung ist prinzipiell möglich, wie es WITTE (1962 und 1960) nachzuweisen gelungen ist. KOFFKAs Frage: "Why do things look as they look?" bleibt die Grundfrage jeder Wahrnehmungspsychologie, auch wenn es kein Jota einer physikalischen Wissenschaft gäbe. Sie bedeutet: "Wie kommt er es zu einer so und so organisierten phänomenalen Welt?" oder: "Warum sehen die physischen (und nicht die physikalischen) Dinge so aus, wie wir sie wahrnehmen?" Den Sinn dieser Frage nicht einsehen hiesse die Psychologie der Wahrnehmung mit dem Wahrnehmen selbst verwechseln.

Die Frage nach dem Verhältnis zwischen der physikalischen und der psychologischen Welt ist jedoch eine ganz andere Frage. Sie gehört {eigentlich} in die vergleichende Wissenschaftslehre. Sie als eine Grundfrage der Psychologie betrachten heisst den Primat der Physik vor der Psychologie anerkennen. Jene physische Welt, wie sie die Physik untersucht, wird dadurch als "wirklicher" deklariert als irgend eine andere (z.B. die phänomenale) physische Welt. In die Wissenschaft ist unbemerkt eine ideologische Voraussetzung eingegangen, nämlich {eine} materialistische (im umgekehrten Fall wäre es {eine} idealistische). Diese gehen aber -- wie auch das "Ding an sich" -- allein die metaphysische Ontologie an.

Unmittelbar gegeben ist uns ausschliesslich die phänomenale Welt, oder wie der Physiker zu sagen pflegt, die Erfahrungswelt. Jede Aussage reicht bis in sie herein. In ihr finden wir neben den physischen auch soziale und begriffliche "Dinge" und Verhältnisse vor. Insofern {sie solche Erfahrungen zum Ausgangspunkt ihres Forschens machen,} unterscheiden sich Physiker und Psychologen weder voneinander noch von andern Wissenschaftlern. Nun gilt freilich ihr bevorzugtes Interesse je verschiedenen, wann auch teilweise sich überschneidenden Ausschnitten dieser phänomenalen Welt. Dementsprechend "greifen" sie mit unterschiedlichen "Werkzeugen" an unterschiedlichen Stellen hinein und fördern unterschiedliche Ergebnisse zutage. Entscheidend ist die Verschiedenheit der "Werkzeuge"; denn diese gehen in das Ergebnis ein und lassen sich davon nicht wieder trennen. Unter "Werkzeugen" verstehen wir die Voraussetzungen und die Art und Weise der Transformation [2] {jener Erfahrungen in "Erkenntnis"}. Die Wissenschaft fuhrt einen Ausschnitt aus der Erfahrungswelt in ein Begriffsgefüge über, zunächst stets innerhalb der phänomenalen Welt {der direkt oder indirekt erfahrenden und forschenden Person} selbst; denn auch die Begriffs münden immer in die Erlebniswelt des Begreifenden, nur hier gewinnen sie Bedeutung. Übersteigt nun allerdings dieses Begriffsgefüge die Kapazität der Erlebniswelt, so nimmt der Wissenschaftler einen andern Ausschnitt der "Erfahrungs"welt zuhilfe (z.B. ein Modell oder einen Formalismus auf dem Papier; wenn man will auch ein Computerprogramm), welcher gewöhnlich von anderen Wissenschaftlern bei Gelegenheit analoger Fälle, aber auch um der Konstruktion willen (reine Mathematik!) hergestellt wurde und meistens wenigstens teilweise übernommen, schlimmstenfalls ad hoc konstruiert wird. Es ist prinzipiell gleichgültig, welcher Verfahren sich eine solche Transformation bedient. Doch hofft der Wissenschaftler, dass jene Aspekte seines Gegenstandes, die ihn interessieren, durch alle Transformationen hindurch -- wie wir bereits angedeutet haben -- invariant bleiben, so dass mithin Schlussfolgerungen, die er auf Grund der Verhältnisse in seiner konstruierten Welt zieht, auch auf die Erfahrungswelt, von der er ausgegangen ist, Anwendung finden können, falls er seine Aussagen -- die "Voraussagen" -- auf jene Ausschnitte und Aspekte, die er ursprünglich berücksichtigt oder auf die hin er seine Konstruktion richtig verallgemeinert hat, zu beschränken versteht. Die Aussagen treffen zu, wenn drei Bedingungen erfüllt sind:

a) richtige Transformation von der Erfahrungswelt in die Konstruktion (semantisch-induktiv),

b) richtige "Manipulationen" innerhalb der Konstruktion (syntaktisch) und

c) richtige Rücktransformation von der Konstruktion in die Erfahrungswelt (semantiach-deduktiv).

"Richtig" heisst in diesem Zusammenhang nichts als systemkonsequent, logisch richtig.

Um diese Richtigkeit zu gewährleisten wendet der Wissenschaftler einen Trick an. Ginge er nämlich allein den Weg in der vorgeschlagenen Richtung, so wäre insbesondere Schritt a) eine blosse Induktion. Der Forscher wäre nie sicher, ob seine Konstruktion mit dem untersuchten Erfahrungsweltausschnitt kongruent sei. Deshalb macht er zugleich mit dieser Induktion den umgekehrten Schritt, und dieser ist nun deduktiv. M.a.W. der heutige Wissenschaftler glaubt nicht länger, wie sein Vorgänger des letzten und vorletzten Jahrhunderts, und wie manche heute noch meinen, er könne das "Wirkliche" erforschen, indem er es abbilde. Er konzipiert vielmehr ein selbständiges Bild, und zwar recht unabhängig von der sogenannten Wirklichkeit in irgendwelchem Sinn, wenngleich "mit einem Auge auf die Erfahrungswelt schielend". Dieses "Bild" ist seine theoretische Konstruktion. Durch den methodischen Primat der Theorie vermeidet er, auf Grund von Kriterien, deren Tragweite er nicht überblickt -- und oft auf Grund gar keiner Kriterien sondern von Zufällen, bestenfalls Traditionen -, gewisse Sachverhalte für "wirklicher" als andere anzunehmen, willkürlich dieses zu berücksichtigen, jenes aber nicht, usf. Ferner gelingt es ihm -- ein entscheidender Gewinn! -, die oben angeführten drei Bedingungen für richtige (Vor-)Aussagen auf zwei zu reduzieren. Die Schritte (a) spielen nun nur noch eine Rolle beim Abstecken des Gebietes für die Theoriebildung: für den eigentlichen wissenschaftlichen Gedankengang entfallen sie, d.h. sie gehen in solche vom Typus (c) Ober. Der semantische Induktionsfehler beeinflusst dadurch nicht länger richtig oder unrichtig die (Vor-)Aussagen; sondern er bewirkt schlimmstenfalls die Unanwendbarkeit der betreffenden theoretischen Konstruktion auf die vorliegende Fragestellung; eine adäquatere Theorie muss dann neu konzipiert werden. Alle semantischen Transformationen nehmen also nun die gleiche Form an. Fakten (d.h. Aussagen) sind für die Theorie nur dann von entscheidender Bedeutung, wenn sie aus der Theorie abgeleitet sind. Alle Fakten haben eine zweifache Definition: eine begriffliche in der Theorie und eine operationale in Bezug auf die Erfahrungswelt. Die Herstellung eines echten Pendants in der Erfahrungswelt für ein "Ding" oder Verhältnis in der Konstruktion wird dadurch gewährleistet, dass die operationale Definition stets in derselben Richtung erfolgt.

Was wir hier -- notgedrungen etwas ausführlich -- als das Prinzip wissenschaftlichen Forschens dargestellt haben, gilt für alle Wissenschaften in gleicher Weise. Wie immer sich der Gegenstand innerhalb der phänomenalen Welt darstelle: seine Erforschung (d.h. das "Aussagen-machen-Können über") ist nur dadurch möglich, dass man ihn in eine Transformation überführt, an welcher er -- im günstigen Fall hinsichtlich des untersuchten Aspektes invariant -- teilhat, in die jedoch, unlösbar verknüpft, auch die Prinzipien der betreffenden theoretischen Konstruktion eingehen. Es wird damit einsichtig, dass zwei Wissenschaften oder zwei theoretische Ansätze derselben Wissenschaft ein- und denselben Gegenstand untersuchen, dabei zu verschiedenen Ergebnissen gelangen und dennoch beide zu treffend sein können. Gemeinsam und somit Vergleichskriterium ist diesen beiden Wissenschaften {dann} der Gegenstand in der Form der phänomenalen Welt; verschieden sind die Transformationen. [3] Die legitime Aufgabe jeder Wissenschaft ist die Explizierung der ihr eigenen Transformationsweise, und nicht der Vergleich ihrer Transformationsweise mit derjenigen einer anderen Wissenschaft. Dieses zweite Problem ist interessant und reizvoll, sinnvoll aber erst, wenn die zu vergleichenden Wissenschaften ihre jeweiligen Transformationsweisen bis zu einem gewissen Grad dargestellt haben. So weit ist, nebenbei bemerkt, die Psychologie wohl noch nicht. Natürlich reizt über den Vergleich hinaus die Aufgabe -- besonders wenn man von einem Weltbild ausgeht, welches die Welt als solche einheitlich auffasst -- , die verschiedenen Transformationsweisen der verschiedenen Wissenschaften auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen und somit eine formale "Einheitswissenschaft" (nicht zu verwechseln mit der physikalistischen!) zu erreichen. Doch dürfte das ein sehr entfernter Wunschtraum sein, da gegenwärtig und in absehbarer Zeit diese Einheitlichkeit nicht einmal innerhalb der Physik für sich möglich zu sein scheint. [4]

Für die Psychologie besteht also, um endlich auf GRAEFEs zweite Verwechslung zurückzukommen, zu Recht ein psychophysisches, nicht aber ein psychophysikalisches Problem. (Die Sprache weiss es {hier} besser, als die sie sprechen{; sie haben es ja psychophysikalisch gestellt.} Denn in der physikalischen Welt kann so wenig von Materialidentität die Rede sein wie in der psychologischen; wohl aber sind uns in der phänomenalen Welt physische Dinge gegeben, die wir teilweise und unter anderem als materielle erleben. [5] Eine psychologische Wahrnehmungslehre hat anzugeben, wie die physischen (und übrigens auch die sozialen und kulturellen) "Dinge" in die psychische Organisation (die Person) eingehen und auf sie wirken; eine psychologische Exekutivlehre erforscht den Umgang der psychischen Organisation mit den physischen usf. "Dingen". Der "eigentliche" Gegenstand der Psychologie ist allerdings die psychische Organisation selbst; insofern sich die Person jedoch in der Auseinandersetzung mit ihrer jeweiligen Umwelt im Lauf der Entwicklung erst konstituiert, geht auch diese Umwelt mit in die psychische Organisation ein. Diese Umwelt der Person ist eine physische, nicht eine physikalische Welt. (Man beachte, dass die Physik nicht die physische Welt einer bestimmten Person oder Gruppe erforschen kann, sondern nur die physische Welt schlechthin, gewissermassen den Konsenses der phänomenal-physischen Welten aller Personen!) Die Person, ihre physische Welt sowie die beiden den Kreis schliessenden Wahrnehmungs- und Exekutivfunktionen bilden mithin den Gegenstand der Psychologie im weiteren Sinn. Eine solche Konzeption der psychologischen Person ist weitgehend von der theoretischen Psychologie Kurt LEWINs inspiriert.

 

II

Wir sind damit bereits bei unserem zweiten, wissenschaftshistorischen Einwand angelangt: dieser lässt sich etwas spezifischer fassen.

GRAEFE kritisiert zu Recht den Behaviorismus, weil er das psychophysische Problem dadurch umgehe, dass er die Person ausklammere. Streng genommen wird allerdings im Behaviorismus nur ein von GRAEFE zu Unrecht postuliertes psychophysikalisches Dilemma dadurch umgangen, dass alle psychologischen Aussagen hypothetisch aus den allein untersuchungswürdigen physikalischen Fakten erschlossen werden {sollen}. Damit setzt nicht nur jede Analyse vor der Wahrnehmung bzw. nach der Handlung an, sondern überhaupt ausserhalb der psychischen Welt; diese wird im extremen Fall als nichtexistent deklariert. -- Als zweites kritisiert GRAEFE mit dem umgekehrten Argument den phänomenologischen Introspektionismus, weil seine Analyse nach jeder Wahrnehmung und vor jeder Handlung ansetze. In Bezug auf einen Introspektionismus, der -- wie der Behaviorismus eine materialistische -- eine idealistische Ideologie impliziert, besteht diese Kritik u.E. ebenfalls zu Recht. Es geht jedoch nicht an, als Beispiel eines phänomenologischen Introspektionismus die Theorie LEWINs hinzustellen, da diese Theorie keinesfalls "die Gesetzmässigkeiten und Zusammenhänge [...] unter Absehung von physikalischen Systemzusammenhängen auf den Bereich der Erlebniswelt beschränkt" (279). [6]

Man darf wohl sagen, dass Kurt LEWIN der Begründer der experimentellen Handlungspsychologie war. Abgesehen von der Psychoanalyse (Behaviorismus und Reflexologie untersuchten nur das Lernen von Verhaltensweisen) waren es LEWIN und seine Schüler, welche erstmals experimentell und systematisch aus dem Handeln auf Struktur und Dynamik der handelnden Person schlossen und damit den Funktionskreis: Umwelt - Wahrnehmung - Person - Handeln - Umwelt nicht nur in gedanklicher Spekulation vollzogen, sondern im Experiment aufzeigen konnten (LEWIN, 1926; ZEIGARNIK, OVSIANKINA, DEMBO, usw.). Vorher war die Psychologie des "Handelns" eine Willens- und damit eine Bewusstseinspsychologie gewesen. Dieser Umstand sollte zumindest stutzig machen, wenn man LEWIN des Introspektionismus bezichtigen will.

Dass eine solche Umdeutung denn auch nicht ohne "Gewaltanwendung" vonstatten geht, mag der folgende Umstand zeigen. GRAEFE führt als Kronzeugen seiner These BRUNSWIK an (279), der LEWIN in der Tat vorgeworfen hat, sein System sei "post-perceptual, and pre-behavioral" (BRUNSWIK, 1943; zitiert nach LEWIN, 1951, S.57). Wie hat man zu verstehen, dass G. zwar den Aufsatz L.s, der dessen Antwort an E. enthält, kennt (LEWIN, 1943; abgedruckt in 1951, Kap.III), auf diese Antwort aber mit keinem Wort eingeht? Das wiegt doppelt, weil L. in diesem Aufsatz nicht nur B.s Vorwurf zurückgewiesen, sondern u.a. seine Theorie dahingehend revidiert hat, dass Sensorium und Motorium als Grenzzone zwischen dem Lebensraum und der äusseren Hülle der physischen und sozialen Welt lokalisiert werden (LEWIN, 1951, 5.57; vgl. dazu auch CARTWRIGHT, 1959), während G. fortwährend auf die ursprüngliche Konzeption (Sensorium/Motorium zwischen Person und Umwelt im Lebensraum) bezugnimmt. Diese Revision beruht auf einem Vorschlag LEEPERs (1943), den auch G. erwähnt; doch erwähnt er nicht LEWINs Sanktion dieses Vorschlags im Vorwort zu LEEPERs Schrift. Mithin "wäre LEWIN" nicht "zu korrigieren" (282); denn er hat sich bereits selbst korrigiert. In seiner Antwort an BRUNSWIK führt LEWIN aus, dass die Wahrnehmung "abhängig ist teils vom Zustand der inneren Teile des psychologischen Feldes, d.h. von Charakter, Motivation, Erkenntnisstruktur, Wahrnehmungsweise, usf. der Person, und teils von der 'Verteilung der Reize' auf der Netzhaut oder den andern Rezeptoren, wie sie durch die physischen Vorgänge ausserhalb des Organismus bewirkt wird (LEWIN, 1951, S.57; Auszeichnung durch uns). Entsprechendes gelte für die physischen und sozialen Handlungen. Damit hat LEWIN wohl in klarer Weise dargelegt, dass er Wahrnehmung und Exekutive als echte psychophysische Bindeglieder auffasst.

Am Übersetzungsproblem der zitierten Textstelle lässt sich einsichtig machen, wie es bei GRAEFEs physikalistischer Voraussetzung zu seiner Fehlauffassung des LEWINschen Systems kommen musste. Der Schluss des zitierten Satzes lautet englisch: "... as enforced by physical processes outside the organism." Dieses "physical" [7] dürfte nun keinesfalls mit "physikalisch" übersetzt werden; denn in diesem Falle wäre ja keine Möglichkeit für das Wahrnehmen von psychischen und sozialen Gegebenheiten wie etwa den Gefühlen und Haltungen anderer Personen, die sich doch wohl nicht physikalisch festlegen lassen, wohl aber auf Trägern ruhen, die wir u.a. als physisch erleben. LEWIN ist immerhin auf Grund seiner Konzeption zum Anreger der ganzen "social perception"-Forschung und zum Begründer der Gruppendynamik geworden, welche gerade das wechselseitige Ineinanderspielen von Handlungen und Wahrnehmungen mehrerer Personen in einer Situation zum Gegenstand hat (vgl. dazu DEUTSCH, 1954).

GRAEFE behauptet, LEWINs Theorie bleibe eingekapselt in eine Welt erlebter Phänomene und Impulse" (284). Warum kommt aber der Begriff der psychologischen Oekologie in seinem Aufsatz nicht vor, welchen Wissenschaftszweig LEWIN eigens dazu postuliert und in den Grundzügen entworfen hat, die Art und Weise der Beeinflussung des psychologischen Lebensraumes durch die physischen und sozialen Fakten der "äusseren Hülle" (foreign hull) zu erfassen (vgl. LEWIN, 1951, Kap. III und VIII)? Es scheint, dass der Begriff des psychologischen Lebensraumes trotz seiner klaren Definition (Konstruktum für die Gesamtheit des zu einer gegebenen Zeit psychisch Wirksamen) im Sinne einer subjektiven Befindlichkeit od.dgl missverstanden wird. Mithin durfte es nicht überflüssig sein, den LEWINschen Ansatz in seinen hier relevanten Grundzügen kurz zu überblicken.

Der externe Beobachter findet ein Individuum in einer (physischen) Welt vor. Um dessen Verhalten (bzw. Erlebnisberichte oder, falls er sich selbst betrachtet, sein Erleben) erklären zu können, führt er das Vorgefundene in eine theoretische Konstruktion über {Transformation}; dabei wird das Individuum zum psychologischen Lebensraum, die Welt, in der es existiert, zu dessen äusserer Hülle. Letzteres sind die "Fakten der physisch- sozialen Welt" (vgl. dazu CARTWRIGHT, 1959, S.65ff.). Diese sind Gegenstand verschiedener Wissenschaften, jedoch nicht der Psychologie, da sie als solche {einem Beobachter} nicht psychisch gegeben sind. Von ihnen sind die meisten zu einer gegebenen Zeit ohne Einfluss auf das Individuum (Aussenwelt = A); einige aber beeinflussen den Lebensraum, ohne jedoch bereits psychologischen Gesetzmässigkeiten unterworfen zu sein. Sie stellen die äussere Hülle i.e.S. (H) des Lebensraumes dar; dessen Beeinflussung kommt über das Sensorium zustande. Aussagen darüber zu machen, welche Teile von A zu einer bestimmten Zeit und für ein bestimmtes Individuum (oder eine Gruppe) in H übergehen können, ist die Aufgabe der psychologischen Oekologie (vgl. LEWINs Antwort an BRUNSWIK in LEWIN, 1951, S.58f). Ist ein solcher Ausschnitt der äusseren Hülle einmal in den Lebensraum eingegangen, dann -- und erst dann! -- wird er zum Gegenstand der Psychologie. Erst dann ist er psychisch gegeben: nämlich entweder direkt im Erleben (d.h. als Wahrnehmung) oder aus Erleben und Verhalten als der psychischen Organisation zugehörig erschliessbar. [8] Das Gegenteil der phänomenologischen Einkapselung ist also der Fall, da das Wahrnehmen zum Spezialfall des Aufnehmens in die psychische Organisation überhaupt erklärt wird. Der Gegenstand der Wahrnehmungspsychologie ist ausschliesslich die Art und Weise, wie es zum Phänomen {und anderen Wirkungen aus (A) in die psychische Organisation} kommt; in die psychische Organisation geht aber auch anderes und mehr ein, wie sich leicht am Beispiel der sogenannten "subliminal stimulation" erkennen lässt. Man kann natürlich solche Vorgänge, die sich nur indirekt ins Phänomenale "heben" lassen, in den Bereich der Physiologie verweisen; es ist dann aber nicht einzusehen, wie eine geschlossene und auch auf solche Fälle anwendbare psychologische Theorie möglich sein soll. [9]

Im Lebensraum zu einer gegebenen Zeit -- alle Lebensräume LEWINs sind Darstellungen zu einer gegebenen Zeit -- ist die physisch-soziale Situation des betreffenden Individuums repräsentiert; für das Geschehen im Lebensraum im betreffenden Zeitdifferential ist mithin das Aufnehmen (und also die Wahrnehmung) irrelevant, da es bereits stattgefunden hat. BRUNSWIK hat recht, wenn er sagt, der Lebensraum sei "post-perceptual, and pre-behavioral" (so LEWIN, 1951, S.57); aber der Lebensraum ist nicht die ganze Psychologie LEWINs. man darf die Unterteilung des Lebensraumes in psychologische Person und psychologische Umwelt nicht verwechseln mit dem vorgefundenen Individuum (der {eigenen oder fremden} phänomenalen Person) in einer physischen Welt. Es gibt, so weit wir sehen körnen, keine andere Möglichkeit als die einer begrifflichen Konstruktion von der Art des Lebensraumes, will man, wie sich das mehr und mehr durchsetzt (vgl. z.B. NUTTIN, 1959), die Persönlichkeit als durch die physisch-soziale Welt, in der sie lebt, mit-konstituiert und die jeweilige phänomenale Welt einer gegebenen Person als durch diese Person mit- konstituiert auffassen.

Es gibt u.E. auch keine befriedigende andere Lösung des Motivationsproblems; erst wenn man Person und Umwelt als relativ einheitlich und relativ gesondert in ein System aufnimmt, kann man über einen entweder umweltunabhängigen Triebbegriff bzw. einen personunabhängigen Reizbegriff hinwegkommen. [10] Nur wenn man, wie das im Begriff des Lebensraumes geschieht' die aktuelle Person-Umwelt-Einheit jedes Zeitmoments als ein (relativ) geschlossenes System auffasst, darf man überhaupt von Persönlichkeit sprechen; [11] und nur dann ist man in der Lage, wie das in der psychologischen Oekologie im Sinne LEWINs geschieht, diese Person-Umwelt- Einheit innerhalb einer physischen Welt zu lokalisieren, mit der sie wahrnehmend und handelnd kommuniziert und sich zur Persönlichkeit ausformt.

 

Fussnoten

[1] Psychol. Forsch. 26 1961 262-298

[2] Diese {Transformation von Erfahrungen in Begriffe und Theorien} ist von der daraus abgeleiteten {besser: sie begleitenden, sie stützenden} Untersuchungsmethodik, Apparatur, Messtechnik, usf. wohl zu unterscheiden. Innerhalb derselben Theorie können mehrere Methoden zum selben Befund führen; wir verkennen nicht die Methodeninvarianz gemeint war wohl: wir können und sollen die Methodeninvarianz solcher Transformationen nicht hoch genug schätzen}. Doch führen {anderseits} verschiedene Theorien notwendig zu verschiedenen Befunden über die gleiche {Erfahrungs-}Gegebenheit; eine sie vereinende Transformationsformel stellt im Prinzip eine übergeordnete Theorie dar.

[3] Vgl. die Exemplifizierung in der Fussnote auf Seite 9.

[4] Diese Tatsache steht im Gegensatz zu GRAEFEs Bemerkung, "das System physikalischer Zusammenhänge [sei] grenzenlos in sich geschlossen" (283), was seinen Physikalismus, seine Verabsolutierung der Physik deutlich belegt.

[5] Es liegt nahe, analog zu MICHOTTEs Nachweis der Kausalität als einer "phänomenalen Gegebenheit sui generis" (1946) auch den Substanzbegriff als eine rein phänomenale Kategorie zu statuieren; von einer durchaus möglichen Graduierung der Substanzhaftigkeit wäre zu einem eigentlichen Bezugssystem (vorderhand unbekannter Dimensionalität) der Substanz vorzustossen.

[6] GRAEFEs Behauptung ("dass im Theoriesystem LEWINs für die Wahrnehmungs- und Exekutivfunktion kein Platz ist, und die Versuche, sie einzugliedern, das System sprengen" (282)) kann nur stimmen, wenn man Wahrnehmung und Exekutive, wie es G. tut, als Bindeglieder zwischen Physik und Psychologie auffasst; dass aber das psychophysische Problem nicht mit einem psychophysikalischen verwechselt werden darf, haben wir oben (I) dargelegt.

[7] Die englische Sprache macht keine Unterscheidung zwischen "physisch" und "physikalisch": beidemale heisst es "physical"; kaum {mehr} gebräuchlich ist die entsprechende Unterscheidung zwischen "psychisch" = "psychic(al)" und "psychologisch" = "psychological", besonders da "psychical" auch einen spiritistischen Beiklang hat; "social" und "sociological" werden jedoch bereits recht deutlich unterschieden. Das ist aus dem Vorherrschen der empiristischen Grundhaltung im englischer Sprachbereich durchaus verständlich. Hat man aber einmal (vielleicht als ein später Schüler KANTs) eingesehen, dass ein wissenschaftliches Begreifen der unmittelbar oder im Gedächtnis erfahrenen, d.h. der phänomenalen Welt -- sei sie physisch, sozial oder psychisch -- nur durch Transformation in eine begriffliche Konstruktion, in welche jeweils bestimmte theoretische Voraussetzungen untrennbar mit eingehen, möglich ist: dann wird, konstruieren wir eine Wissenschaft, die physische Welt unter bestimmten Voraussetzungen eben zur physikalischen, unter anderen Voraussetzungen zur chemischen Welt, usf.; ein besonderer Ausschnitt aus der physischen Welt, nämlich was lebt, wird je nach der zugrundegelegten Theorie zur biologischen, anatomischen, ethologischen, usf. Wissenschaft; die physische Welt kann aber nicht als solche in eine Psychologie transformiert werden, sondern nur insofern sie zunächst zu einer psychischen geworden, d.h. in die psychische Organisation aufgenommen und dort repräsentiert ist; parallel dazu geht sie auch in den Organismus ein und kann somit auch in eine Physiologie transformiert werden.

[8] WITTE (1962) meint, wenn wir recht verstehen, es sei unumgänglich, hier auf den physiologischen Prozess zu rekurrieren, Das muss natürlich möglich sein (vgl. unsere Fussnote auf Seite 9); bei einem höheren Entwicklungstand der Physiologie dürfte es sich wahrscheinlich oft als praktisch erweisen. Nicht notwendig, und für die psychologische Theoriebildung u.E. im Augenblick sogar eher schädlich, ist es jedoch deshalb, weil die physische Tatsache mit ihrer Aufnahme in die psychische Organisation bereits zu einer psychischen (oder quasi-psychischen) geworden ist und mithin in einer vollständigen psychologischen Konstruktion ihre Stelle finden können muss -- parallel dazu allerdings im Nervensystem auch zu einem (andersartigen, aber transformierten) Sachverhalt geworden ist und als solcher ebenfalls einer physiologischen Konstruktion angehören kann. Die beiden theoretischen Konstruktionen sind zwar isomorph zu denken, doch muss jede in sich als ein System vollständig sein.

[9] Uebrigens befindet sich auch die Physik in derselben Lage wie die Psychologie, da dort die phänomenal-physische wie hier die phänomenal-psychische Welt den Gegenstand der Wissenschaft nicht vollständig ausmachen. Beispielsweise ist eine Vorstellung der Atomstruktur theorieunabhängig nicht möglich; solche Vorstellungen sind somit als quasi-physisch zu kennzeichnen{, da sie denkende und/oder öffentlich symbolisierende Forscher und Rezipienten voraussetzen bzw. einschliessen müssen}. Dadurch wird die eminente Bedeutung eines Konstruktum sichtbar, welches alles Psychische zusammen mit dem Quasi-Psychischen einschliesst.

[10] Dass LEWINs System "fertig" sei, wird niemand ernstlich behaupten wollen. Gerade das Verhältnis zwischen der unter dem Begriff der Spannung konzipierten Struktur der psychologischen Person und der unter dem Begriff des Kraftfeldes konzipierten Struktur der psychologischen Umwelt bleibt zwiespältig, worauf übrigens auch GRAEFE hinweist (Text S. 286 und Fussnote S.288). Hier bedarf die Konzeption wesentlicher Modifikationen.

[11] Es ist nur logisch, dass der Ansatz -- gerade durch die systematische Darstellung der Verhältnisse im Lebensraum für jedes Zeitdifferential -- grosse Chancen zur Lösung des Entwicklungsproblems enthält (vgl. LEWIN, 1951, Kapitel V).
 

Literatur

BRUNSWIK, E., Organismic achievement and environmental probability. Psychol.Rev. 50 1943 255-272.

CARTWRIGHT, Dorwin, Lewinian theory as a contemporary systematic framework. In: KOCH (Ed.), Psychology Vol.II, New York, McGraw-Hill, 1959 7-91.

DEUTSCH, Morton, Field theory in social psychology. In: LINDZEY (Ed.), Handbook of social psychology, Cambridge Mass., Addison-Wesley, 1954 181- 222.

LEEPER, R.W., Lewin's topological and vector psychology. Eugene Or., University of Oregon Press, 1943.

LEWIN, Kurt, Vorsatz, Wille und Bedürfnis. Mit Vorbemerkungen über die psychischen Kräfte und Energien und die Struktur der Seele. Berlin, Springer, 1926 (ebenfalls: Psychol.Forsch. 7 1926 294-385.

ders., Defining the "field at a given time". Psychol.Rev. 50 1943 292-310. (abgedruckt in LEWIN, 1951, Kapitel III).

ders., Field theory in social science. Selected theoretical papers. (ed. D. Cartwright) New York, Harper & Brothers, 1951 (deutsche Uebersetzung im Druck, Bern, Huber, 1963).

MICHOTTE, A., La perception de la causalité. Louvain, Inst.Sup.Philos., 1946.

NUTTIN, Joseph, Ueber den dynamischen Aspekt der Persönlichkeit. In: v. BRACKEN & DAVID (Eds.), Perspektiven der Persönlichkeitstheorie. Bern, Huber, 1959 153-162.

WITTE, Wilhelm, Ueber Phänomenskalen. Psychol.Beitr. 4 1960 445-472.

ders., Zur Wissenschaftsstruktur der psychologischen Optik. Psychol. Beitr. 6 1962 451-462.

 

Alfred Lang, Psychol. Inst. d. Universität, Falkenplatz 16, B E R N / Schweiz