Gertrud in unserer Welt

 

Worte am Gedenkkonzert für Gertrud Lang, 25.11.1935 &emdash; 30.10.1999

(Originaltext, gesprochen am 28. November 1999)

 

Liebe Verwandte, Bekannte und Freunde!

Musik vermag sehr viel, aber nicht alles. So brauchen wir auch einige Worte: ein "Denk-Mal" eigentlich. So nennt man manchmal auch jene Worte, nicht bloss die Steine, welche von dem, was ein Mensch für andere gewesen ist, zusammenfassen und zu verstärken suchen, was dieser Mensch bewegt hat; und auch nach seinem Tod noch bewegen kann. Meine Frau war nicht eine Person des öffentlichen Lebens. Aber viele Menschen sind sich jetzt mehr als je bewusst geworden, was mit ihr zu gewinnen war und jetzt verloren ist, und haben mir das in Briefen und Gesprächen nachhaltig ausgedrückt. Unsere kleine Welt hat ihren einen Pol verloren. So liegt es vielleicht an mir, dem anderen Pol, dieses Denk-Fühl-Mal im Ganzen unserer Welt zu skizzieren.

 

"Gertrud"

Ich nenne meine Frau jetzt am besten "Gertrud". Vielleicht gewinne ich so etwas mehr Abstand. Dieser Name &emdash; "Speerträgerin" &emdash; war mir zu Lebzeiten zu kriegerisch. Ebensowenig mochte ich "Trudi"; das war mir zu nahe an "Trulla" und das stand ihr doch wohl nur zum Spass. So rief ich sie nur selten bei ihrem Namen; und auch sie rief mich "Fredi" nur hie und da und "Alfred" nur, wenn es ernst galt. Im Privaten nannten wir uns oft gegenseitig "Kugel" oder "Kügelchen". Ein seltsamer Kosename, werden Sie denken. Seine Ursprünge liegen vielleicht im Ideal der Kugelgestalt und entsprechenden gemeinsamen Sehnsüchten unserer frühen Jahre. Gertruds rundgeformter Kopf auf schlankem Hals war wohl auch ein Anlass gewesen. Doch der frühe Plan, das Wort auch in einem besonderen Schmuck zu verkörpern, blieb bis heute unausgeführt. Zwei Kugeln können einander bloss wie Gestirne umkreisen. Einander die Wege beeinflussen freilich schon. Und, wenn sie Köpfe sind, wohl auch ihr je Eigenes in Wechselwirkungen ausformen, in Angleichungen und Kontrasten. Damit verändert sich ihr Zusammenspiel und sie mögen konzertierend auch ihre weitere Umgebung bewegen.

Aber sie bleiben grundsätzlich getrennt. Die Doppelkugel gibt es, geometrisch gesehen, nicht. Es sei denn &emdash; unsinnig! &emdash;, die eine schlucke die andere auf. Waren wir denn wirklich bloss Einzelne, und Eingeschlossene, wie es unser herrschendes Menschenbild haben will? Wie liess sich in Partnerschaft Gemeinschaft verwirklichen? Leben ist doch Zusammenleben. Und Zusammenleben braucht ein Feld, eine Welt. So möchte ich jetzt ein paar Geschichten aus unserer Welt erzählen und Geschehenes verdeutlichen.

 

Herkunft

Gertrud und ich, ende und anfang 1935 geboren, lernten uns im Frühjahr 1957 über gemeinsame Freunde kennen und wir heirateten ein Jahr später. Sie hatte kurz vorher ihre Ausbildung als Kindergärtnerin abgeschlossen, ich mein definitives Studium gerade begonnen. Mein Vater starb in dieser Zeit, meine Mutter bedurfte der Pflege und starb einige Jahre später. Ich wurde nach kurzem Zögern in die Familie meiner Frau aufgenommen und gehörte dann dazu.

Unsere Herkunftsgeschichten zeigen verblüffende Ähnlichkeiten. Unsere Ururgrossväter sind beide fahrende Kurzwaren-Händler gewesen. Sie waren in den 1830er Jahren aus Deutschland zugewandert und hatten sich in den aargauischen Kleinstädten Lenzburg und Baden niedergelassen und in Kürze als Eisenwarenhändler bzw. als erstes Bazar-Kaufhaus in der Schweiz bestens in die Burgerschaft integriert. Sehr wohl möglich, dass sie und ihre Söhne einander gekannt haben. Die stark verzweigenden Familien brachten bald auch Ärzte, Ingenieure und andere Intellektuelle hervor. Während meine weitere Familie in den letzten Jahrzehnten sehr klein geworden ist, blühte die grosse Verwandtschaft von Gertrud noch. Unsere manchmal etwas skeptische Zurückhaltung in Verwandtschaftsdingen wurde dort mit der Zeit durchaus auch geachtet. Beide hatten wir vom 16. Altersjahr an die meiste Zeit nicht im Elternhaus gelebt, ohne Bruch zwar, doch nicht ohne eine gewisse Erleichterung.

 

Angst und Festigung

Gertrud brachte aus ihrer Kindheit einen starken Grund an Lebensformen in unsere werdende Welt, während ich als Gärender noch und als Kind meiner Zeit schon daran war, weite Teile der Traditionen über Bord zu werfen. Sie forderte und gab unserem Zusammenleben einen Halt und eine Bahn, welche es ausreichend festigen sollte, wie immer zunächst vorläufig. Das ererbte kleine Haus in Bümpliz erleichterte unsere Lage und brachte einen Boden in unser Leben. Dass sie mir durch ihre Erwerbsarbeit das Studieren ermöglichte, war ein damals noch eher ungewohnter Pakt. Für uns schon klar selbstverständlich, im Rahmen einer langfristig angelegten Gegenseitigkeit. Tiefer gegründet, ja eigentlich gesichert, wurde unsere Gemeinschaft durch die Ausweitung der eingegangenen Verantwortung füreinander auch auf unsere beiden Kinder, Tobias und Sabin, die 1960 und 1961 geboren wurden.

Die 60er Jahre sind aber, alles in allem, in unserer kleinen Welt eher eine Sturm-und-Drang-Zeit gewesen. Wir erfuhren uns und unsere Freunde in einer ringsum sich explosiv wandelnden Lebenswelt; es war die Zeit des Beginns der totalen wirtschaftlichen und technischen Expansion, der hemmungslosen Ressourcenausbeutung von Natur und Menschen und des sich verbreitenden Grössenwahns, des Wahns, dass alle alles können und haben und sein sollten. Wie war darin ein ehrliches Leben zu führen?

Zwei Jahre Weiterbildung in Kanada brachten einen reichen Schatz an Vergleichen verschiedener Lebensformen. Denn die kanadische war nicht eine multikulturell verschmolzene, sondern eine Gesellschaft, in der Angehörige von einigen Dutzend herkömmlichen Kulturen auf je eigene Weise, doch durchaus in einem gemeinsamen Rahmen nebeneinander lebten. Die dortige Berührung mit den Anfängen feministischer Expansion brachte gemischte Eindrücke und Antworten. Eine unser Leben über Jahrzehnte bestimmende Erfahrung war dieser Aufenthalt im Westen; wir zehrten Jahrzehnte davon. Erneuert, wenn nicht übertroffen wurde sie durch einen zwar kürzeren, aber von guten Freunden betreuten Aufenthalt in Japan.

Wir gewannen unser Eigenes in relativer Spezialisierung &emdash; ich war ja auch noch mit der Wissenschaft "verheiratet" &emdash; unter hoher Wertschätzung auch dessen, was das andere tat &emdash; insbesondere auch der nachhaltigen Pflege unserer kleinen Welt. Kinder aufziehen war eine unglaublich anspruchsvolle Aufgabe für viele Jahre. Und eine dankbare dazu, wenn man sie ernst nahm. Wir vier lernten mit den Jahren immer besser, einander zu achten und einander Angebote zu machen, ohne zu erwarten, der oder die andere müsse alles übernehmen oder übergeben. Und dementsprechend konnten wir auf die Angebote der anderen so neugierig wie standhaft eingehen. Gertrud hatte mich am Anfang manchmal "ihr Evangelium" genannt, was mich schrecklich dünkte. Aber diesen Glauben hat sie bald verloren und damit ermöglicht, was man dialogische Entwicklung nennen mag: ein Angebot aufnehmen, verbessert zurückgeben und wechselweise weiterführen zu beidseitigem Wandel.

Wir waren in Kanada zunächst Einwanderer, in der Schweiz also Auswanderer gewesen; unsere Heimat musste neu gewonnen werden. Dass man uns an die Berner Universität zurückbat, kam aber unseren Wünschen entgegen und wir nahmen es erfreut an. Fast zufällig hatte mich nun die Universität eingefangen. Nein, sie war nicht ein Kindergarten; Gertrud wehrte sich mit Recht gegen meine ungerechte Bezeichnung. Aber sie war schon jene Institution, der es wie kaum einer anderen gelingt, ihre vorübergehenden und besonders ihre permanenten Angehörigen kindisch zu machen, manchmal auch kindlich zu halten.

Für Gertrud war die Universität zunächst und lange eine eher fremde Welt. Sie hatte unter der Schule massiv gelitten, aber dennoch so etwas wie eine Ehrfurcht vor dem hohen Geist mitgenommen. Auch diesen Glauben hat sie bald aufgegeben. Aber wie in der amerikanischen Universität liessen sich auch hierzulande Nischen bauen. Und vielleicht sind Nischen, welche das Werden von Neuem ermöglichen können, auf die Dauer die eigentliche Stärke der Universität; man scheint dies jetzt endgültig zu unterbinden.

Nichtsdestoweniger bekam unsere kleine Welt in den 70er Jahren durch meine Stellung an der Uni auch gesellschaftlich ihren festeren Rahmen. Gertrud war berührt, als mein Lehrer Richard Meili und Gertrud Meili unsere Kinder gewissermassen zu Grosskindern adoptierten. Aber lange hat sie darunter gelitten, dass sie in diesem Milieu für nichts gehalten wurde, wenn sie Haus und Kinder betreute; bis sie lernte, ihren Stolz darauf kundzutun, und mit der Zeit auch gerade dafür geachtet wurde. Zum Kreis ihrer Kindergarten-Seminarklasse trat später der Kreis der Dozentenfrauen.

Zu Beginn dieser Jahre bauten wir unser Haus in Herrenschwanden und begannen einen grossen Bio-und-Blumen-Garten und viel anderes mehr. Gertrud folgte ihrer Mutter und begann, ihre Tätigkeiten den Rhythmen der Natur anzunähern. Vor Reisen hatte sie immer noch Angst; aber sie begann sich für romanische Klöster und für Spaziergänge am Meer wie für gewähltes Essen zu begeistern. Auch vor den Pferden hatte sie zuerst Angst, ritt aber eine Zeitlang tapfer mit. Als die Kinder weg gingen, verfeinerte sich ihre Beziehung zu den Isländern. Die Pferde waren grossartig, wie sie ihr die Angst nahmen und Vertrauen gaben. Sie waren kongeniale Erzieher nicht nur unserer Kinder, sondern auch von uns selbst.

Ich denke, Gertrud ist mit den Jahren in der Festigung meiner und dann unserer Lebensbahn die entscheidende Kraft gewesen. Wichtiger noch als die Wissenschaft; denn diese löste ja, ernst genommen, die vermeintlichen Sicherheiten immer deutlicher auf, entlarvte sie als oft leeres Sicherheitsstreben. Ähnlich wie uns auch der überkommene Glaube mit der Klärung der Willkür seiner Setzungen schon früh leer geworden war. Ich will meine Dankbarkeit für Gertruds Verlässlichkeit in unserer Welt hier ausdrücken. Denn ich halte es für wahrscheinlich, dass ich ohne einen solchen Grund zerflattert wäre und zerrissen worden wäre. Und ich habe Grund zur Vermutung, dass es Gertrud mit mir sehr ähnlich erfuhr. Das Verlässliche, auf das es ankam, war nicht fertig vorzufinden; dazu musste man selber beitragen, für andere und auf diesem Umweg auch für sich. Das in der kleinen Welt geschaffene Vertrauen nahm dem Ungewissen der grossen seine bedrohliche Macht.

Es mag Sie verblüffen, zu erfahren, dass in jenen früheren Jahren Gertrud eine tiefgreifende Angst vor allem Ungewohnten lebte. Wie viele Töchter aus besseren Kreisen war sie als Kind in einer ziemlich geschlossenen Welt erzogen worden, aus der das meiste Unangenehme wie unsichere Lebenslagen oder Geld oder Niedertracht verbannt war. Unvermeidliche Begegnungen mit dem Ausgeschlossenen erzeugten dann Hilflosigkeit und lohnten Meideverhalten, auch Gefährdung war nahe. Gertrud hatte sich als Kind beigebracht, teilweise in einer Phantasiewelt schöner Ideale zu leben. Es brauchte Jahre, bis sie jenes Vertrauen in die Verhältnismässigkeiten erwarb, welches an ihr dann so bewundert wurde. Das hatte viel damit zu tun, die eigene Rolle im Getriebe, aber auch die Fährnisse, die Unsicherheiten der Welt, die eigentlich prekäre und doch so wunderbare Lage der Menschen, weder zu überschätzen, noch zu unterschätzen. Und im Prekären zu tun, was getan werden konnte.

Ein Beispiel soll für viele stehen: Wir machten beide in unseren jungen Jahren viel Musik, Gertrud spielte Flöte, ich Geige; doch konnten wir unsere eigenen Ansprüche je länger je weniger erfüllen. Das war eine sehr schmerzhafte Einsicht; doch die schrittweise erworbene Überzeugung, dass die eigene Person mit diesem Können weder zu verwirklichen noch mit dem Misslingen verloren sei, machte uns frei für Musik. Und so spielten wir halt Schallplatten und lehrten uns wechselseitig zu hören und lernten zusammen bewegt zu werden.

 

Den "Individualismus" der Zeit "ökologisch" zurechtgerückt

Wenn ich unser Werden rückblickend zusammenfassen müsste, könnte ich wohl auch sagen: wir haben zusammen passable Wege gefunden, uns aus den Moden und Zwängen der Zeit zu befreien ohne uns von der Welt abzusondern. Der gewichtigste Schritt war wohl, die Fixierung auf ein fiktives eigentliches Selbst durch eine Orientierung auf ein Gewebe von umweltweltlichen Bezügen abzulösen und unseren Bereich darin zu pflegen und vor allem das Zusammenspiel darin und hinaus und herein. Wir lernten der Welt nicht gegenüber zu stehen, um sie zu bewältigen, sondern uns selbst und einander als Teil davon zu leben. Oder in einem Bild gesagt: das Kugelideal machte einem lebendigen Geflecht von Netzen und Knoten Platz.

Es gibt manche Zeugnisse darüber, wie Gertrud schon als Kind, dann als jugendliche Frau geschätzt und wie ihre Nähe und ihre Freundschaft gesucht worden ist. Das mag zu tun gehabt haben mit ihrer kreativen Originalität, mit ihrem lebhaften Engagement in Dinge und Personen, auf die sie sich einliess, gelegentlich auch mit ihrer Redlichkeit und mit ihrem Eigensinn. Sie wurde als ein sehr sensibles Kind charakterisiert. Und so war ein unentbehrliches Mittel der eigenen und zunächst individuellen Existenzsicherung auch der Widerstand. Sich zur Wehr setzen gegen Zumutungen. Damit wurde sie oft auch als ein schwieriges Kind empfunden. Nicht nur in der Schule. Ihre Berufswahl hatte wohl viel damit zu tun, dass sie sich erhoffte, Kindern in jener sensiblen Phase vor der Schule einen Freiraum und Rahmen verschaffen zu können, dessen sie für ihre Festigung bedürfen. Sie hatte so etwas selber im Kindergarten, kaum jedoch in der Schule erfahren. Dass sie ihren Beruf nur kurze Zeit ausüben durfte und schliesslich auch nicht mehr wollte, hat damit zu tun, dass diese Zeiten gerade jene vorzeitigen Verfestigungen auf Pläne und Normen reglementarisch immer mehr durchsetzten, gegen die sie sich zur Wehr setzte.

So übernahm sie in den Jahrzehnten, seit unsere Kinder ausgeflogen sind, gerne Aufgaben, wie man sie vielleicht in Grossmutter- und verwandten Rollen erkennen kann. Davon zu erzählen bräuchte sehr viel Zeit. Sie nahm unterschiedliche Gelegenheiten dazu auf oder schuf sich Anlässe dazu. Mit kleinen und grossen Kindern aller Art. Nachbarkinder, zum Beispiel, liebten sie heiss. Machten Zeichnungen für sie und schrieben Briefe. Der trefflichste vielleicht, der uns so sehr rührte, als sie im vergangenen Frühjahr nur noch selten im Garten anzutreffen war, suchte sie und die Schreiberin und Zeichnerin selbst auf das nächste, bessere, wieder gesunde Jahr zu vertrösten. Der Brief begann mit der Anrede: mein lieber Gartenzwerg, und war unterschrieben mit: Dein Gartenzwerg. Dazwischen hiess es zum Beispiel: "nur wir zwei können mit den Blumen sprechen".

 

Haus und Garten, Familie und Freunde

Ein vielschichtig aktives Gartenzwerg-und Hausgeist-Leben, zweifellos. Ein anspruchsvolles, ein dankbares auch, ein freudebringendes und ein bescheiden-machendes, und so weiter. Eines das nur mit diesen Welten, nicht gegen sie gelebt werden kann. Und mit der Einsicht, dass solche Umwelten nie fertig, nie endgültig, sondern immer im Werden sind und im Wandel, auch im Vergehen.

Es ist vertrackt ähnlich, mit dem Zusammenleben von Menschen. Von uns beiden war Gertrud zweifellos nicht nur die bessere Gärtnerin, sondern auch die bessere Psychologin, wenn man darunter jemanden verstehen will, der Menschen zu verstehen und mit ihnen umzugehen weiss. Im Lauf der Jahre haben immer mehr Personen sich ihr anvertraut, manche darunter, die zu mir, dem vermeintlichen Fachmann, lieber Distanz hielten. Auf Spaziergängen, beim Tee, oder am Gartenzaun &emdash; sie verstand sich auf die Kunst des Zuhörens. Meist sagte sie nicht viel. Und wenn sie etwas sagte, konnte es manchmal so unerbittlich sein, wie wenn ich es in meiner direkteren Art gesagt hätte; aber offenbar sagte sie es mit Charme. Ich bin oft und wiederholt bereit gewesen, jemandem, der mich enttäuscht hatte, zu verzeihen; Gertrud erwies sich je länger je mehr als die strengere, beinahe festlegende. Sie fühlte sich und uns im immer irrsinniger werdenden Lauf der Welt immer weniger wohl und sie begann es auf weniger subtile Weise als früher kundzutun. Zu leben wurde ihr wieder, aber auf eine andere Weise und aus anderen Gründen, schwieriger als es in jungen Jahren gewesen war.

 

Krankheit und Sterben

So gehört zu diesen Einblicken in den Lauf eines Lebens in unserer Welt unter den gegebenen Umständen auch ein Wort zum Sterben und zu dessen Vorgeschichte.

Gertrud war ihr Leben lang nie ernsthaft krank gewesen. Während sie mich in den 42 Jahren unseres Zusammenlebens doch einige Male ernsthaft gesundgepflegt hat. Als sich bei ihr im Sommer 1998 einige Unterleibssymptome intensivierten, die im Herbst eine Hysterektomie nahelegten, war kein Grund zu Beunruhigung gegeben. Die Operation Anfang November, als Operation erfolgreich, brachte dann Anzeichen eines degenerativen Prozesses zu Tage, der nach dem gegenwärtigen Standard der Onkologie vorbeugende Massnahmen verlangte. Eine Bestrahlung des Unterleibs wurde im Januar und Februar vorgenommen und brachte rasch massive Beschwerden, auf die im Behandlungsprotokoll nicht Rücksicht genommen wurde. Die Ärzte hatten uns einseitig informiert und versuchten dann uns zu beruhigen: solche Nachwehen könnten halt länger dauern. Auch ein fortschreitender Wandel der Symptome im April vermochte sie nicht zu beeindrucken.

Im März hatten wir noch, mit einigen Einschränkungen, eine letzte unserer Reisen in Frankreich, in die schon frühlingshafte Bretagne, machen und anschliessend zu Ostern die Kinder in Hamburg besuchen können. Anfang Mai sahen wir eine beglückende Ausstellung ostasiatischer Malerei in Frankfurt. Aber ich begann, meine Besuche von wissenschaftlichen Tagungen nicht mehr nur zu verkürzen, sondern abzusagen.

Ende Mai weckte eine Stimmbandlähmung den Verdacht auf eine andere Ursache der Beschwerden. Die Untersuchungen bestätigten, dass Wucherungen das Lymphsystem schon weitgehend durchwachsen hatten. Heilung war nicht unmöglich. Wir unternahmen jene Massnahmen &emdash; unter Leitung eines ebenso verständigen wie engagierten Arztes &emdash;, welche unter diesen Umständen sinnvoll sein konnten. Aber wir verweigerten das Pendeln zwischen Hoffnung und Angst. Und wir mochten nicht gegen den eigenen Körper noch einen zweiten Krieg führen.

Es wurde eine Haushalthilfe nötig, die Gertrud selber noch einführte. Eine Kusine und unsere Tochter konnten zunächst helfen. Auch mich hat sie in diesen Monaten beim Kochen und Haushalten angeleitet. Sie stand täglich auf bis zwei Wochen vor ihrem Tod. Nicht selten war sie es, welche ihre Besucher tröstete. War es bis dahin nicht angezeigt gewesen, die Nachricht von der Krankheit zu verbreiten, weil kein Anlass zu Besorgnis bestand, so hielten wir uns jetzt zurück, weil der Ernst der Lage hätte erschrecken müssen.

Im Juli und August kamen die Kinder und Grosskinder wie jeden Sommer zu Besuch. Die Schmerzen liessen sich in Grenzen halten, der Krankheitsfortschritt war vorübergehend wie aufgehalten. Es war eine ebenso harte wie wunderbare Zeit. Denn aufs Wesentliche zurückgeworfen konnten wir sie nutzen, im Wesentlichen zu leben. Wir erlebten Monate, die ich schwerlich vergessen kann, obwohl sie sehr unscheinbar gewesen sind. Es kam uns zu gut, dass ich kaum mehr Amtspflichten hatte und meine Projekte aufschieben konnte.

Eine kleine Episode möge den Grund unseres Zusammenlebens beleuchten. Relativ bald nachdem die Schwere von Gertruds Krankheit uns klar geworden war und wir unsere geänderten Perspektiven zu verstehen begannen, dankte sie mir wie so oft für eine kleine Handreichung. Vielleicht etwas intensiver als sonst, so dass ich antwortete: "aber das ist doch selbstverständlich". Worauf sie entgegnete: "ich habe es nicht anders erwartet". So bekommt dieses seltsame Wort "Selbstverständnis" einen tieferen als den üblichen psychologischen Sinn. Einen, der nicht vereinzelnd errungen werden soll; vielmehr einen, der im Gemeinsamen trägt.

Die Untersuchungsbefunde anfang September zeigten dann, dass sich das Immunsystem überhaupt nicht erholte. Ich pflegte Gertrud allein in unserem Haus. Nachbarn und Freunde waren ungemein hilfsbereit und mittragend. Anderen als den engsten Vertrauten verweigerte sie jetzt immer häufiger den Zutritt. Ihre Ersatz-Grosskinder brachten ihr eine Rose; aber sie liess ihren Dank nur mehr ausrichten.

Beide Kinder besuchten sie im Oktober noch einmal und wir konnten alles Nötige besprechen. Ihre Ruhe strahlte immer stärker aus. Nach Mitte Oktober hörte sie fast auf zu essen; es war zu mühsam geworden. Die Schmerzmittel mussten gesteigert werden. Im Einvernehmen mit sich und der Welt war sie zum Sterben bereit. Dass sie vor mir gehen konnte, war immer ihr Wunsch gewesen. Dass es früher war als erwartet, schmerzte sie auch. Am Ende von zwei sehr schweren Tagen und Nächten konnte sie dann friedlich einschlafen und am Tag darauf ganz sterben.

 

Savoir Vivre

Ich weiss nicht, ob wir ernstlich versprechen sollten: wir werden Gertrud nie vergessen. Ich wüsste nicht, wem ausser mir selber ich das zumuten dürfte. Können wir das auch einhalten? Und ist es auf die Dauer wichtig? In der Erinnerung werden wir Gertrud ja auch entstellen: verklären vielleicht, und zerstückeln in was uns passt und was uns nicht passt; und dann Teile verdrängen, andere neu erfinden. Auch ich bin dagegen nicht gefeit. Viel wichtiger scheint mir deshalb, die Aufmerksamkeit darauf zu richten, wie sie in unserem Tun weiterlebt, nicht so sehr in unserem Erleben. Was sie in uns und unsere Welt gebracht hat und wie das &emdash; und damit auch sie &emdash; dort weiterwirken kann. Was sie in unsere Welt eingebracht hat, war sehr viel Redliches; aber ich kann hier nicht einmal anfangen mit Aufzählen. Lassen Sie mich jetzt nur erwähnen, dass ich unseren Garten weiterführen und ihrer Kochkunst nacheifern werde. Ich wollte, ich könnte den chinesischen Tusche-Pinsel führen, wie sie es ein paar Jahre lang getan hatte, obwohl sie es dann zu meinem Bedauern wieder aufgab &emdash; vermutlich ehrlicherweise, oder um nicht am Ungenügen zu verzweifeln. Ob ich mit dem gleichen Geschick wie sie unser Beziehungsnetz weiterpflegen kann, wage ich nicht zu hoffen; aber den guten Willen dazu habe ich.

Ich habe in den letzten Wochen eine grosse Zahl von Briefen bekommen, die mir und den Kindern die hohe Wertschätzung ausdrücken, die Gertrud entgegengebracht worden ist. Besser spät als nie, habe ich hie und da beim Lesen geseufzt. Und ich denke, es wäre in Gertruds Sinn, wenn ich hier die Bitte äusserte, dass wir allgemein vermehrt ein Savoir Vivre pflegen, welches an zentraler Stelle setzt, dass wir jene anderen, die wir wirklich schätzen, das auch immer wieder merken lassen. Deutlich genug, wenn auch nicht aufdringlich, merken lassen. Und vielleicht nicht nur oder nicht bevorzugt mit Worten, die so leicht in Formeln erstarren, sondern in Taten. Manchmal mag es angezeigt sein, unser Tun auch mit Worten zu erläutern.

Manche haben mir geschrieben, Gertrud sei etwas Besonderes gewesen. Ich kann dem nicht gut widersprechen, habe ich es doch selber vor über 40 Jahren Jahren schon so befunden. Aber lieber würde ich jetzt sagen, Gertrud sei, jedenfalls in ihren reiferen Jahren, das Selbstverständlichste von der Welt gewesen. Wenn nur das Selbstverständliche üblicher würde!

Ich danke Ihnen, dass Sie in dieser Stunde hierhergekommen sind.

Aber zu viel der Worte schon. Jetzt soll wieder Musik das Unsagbare tragen.

Alfred Lang

Herrenschwanden, am 25. November 1999, Gertruds 64. Geburtstag


Zum erweiterten Text mit Bildern Last revised 00.11.28

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