Alfred Lang

University of Bern, Switzerland

Handout at Conference Presentation 1995

Grundfragen zur Semiotik -- Antworten aus generativ-semiotischer Sicht

1995.06

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Beitrag im Berner Gesprächskreis Semiotik, 6. Februar 1995

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Inhalt  

 

Die nachstehenden vier Fragen wurden an alle Mitglieder des Gesprächskreises gerichtet; einige von ihnen haben ihre Antworten vorgetragen.

1) Was ist eigentlich zeichenhaft? Und warum? Und wozu?

2) Welche Rolle wird dem menschlichen Subjekt im Zeichenprozess zugemessen?

3) Wie wird Semiotik den Tatsachen der Entwicklung (des Lebens, der Person, der Kultur) gerecht?

4) Ist eine Zeichentheorie zum Verständnis von Menschen und Welt unentbehrlich? Warum? Inwieweit?


1) Was ist eigentlich zeichenhaft? Und warum? Und wozu?

Als zeichenhaft zu begreifen schlage ich vor: alle jene Formationen (raum-zeitliche Stoff-Energie-Konstellationen), welche von (Zeichen-)Forschern unter den diesen selbst eigenen raum-zeitlichen und anderen Limitationen prinzipiell als Strukturen oder Prozesse derart spezifiziert werden können, dass ihre Wirkungen weder notwendig noch zufällig erscheinen. Ihr Wirkungspotential entfaltet sich dementsprechend in Zeichenprozessen.

Der Zeichenforscher oder seinesgleichen muss einbezogen werden, weil nur aus der Relation von Zeichenhaftem zu einem Zeichenforscher über Zeichenhaftes erfahren werden kann; trotz der Möglichkeit, im Normalfall der Tatsache realer Unabhängigkeit des Zeichenhaften vom Zeichenforscher bleibt jede Erkenntnis von Zeichenhaftem relativ zum Zeichenforscher bzw. zu einer Gemeinschaft von Zeichenforschern.

Ich halte nicht für sinnvoll anzunehmen, dass uns irgendetwas wirklich betrifft, was nicht als Formationen erscheint. Es war sehr irreführend, den Formationsaspekt vom Stoff- und vom Energieaspekt der Erscheinungen gewissermassen abzutrennen und dann anzunehmen, dass die Form aus Eigenschaften des Stoffes und der Energie selbst eindeutig und notwendig bestimmt sind.

Denn das würde heissen, dass die Natur und alles, was man so begreift, keine Geschichte haben kann; weder das Matterhorn, noch ein Seeigel, noch ein menschlicher Körper, noch sein Altern, noch seine Bewegungen, noch die neuronaen und humoralen Vorgänge in ihm, noch das was jedem von uns uns als Gedanken (intern) oder als Symbole (extern) erscheint, noch viel anderes mehr. All das ist aber weder notwendig noch nur zufällig so wie es ist, sondern es sind idR "naturgesetzlich" höchst unwahrscheinliche Gebilde. Ihr Werden ist jedoch, obwohl längerfristig nicht vorhersagbar, an keiner Stelle undeterminiert, noch unter- oder überdeterminiert; sondern eben Teil einer Geschichte, die wohl anders hätte laufen können aber eben so gelaufen ist, weil in jedem Augenblick ihres Werdens genau die den nächsten "Schritt" bedingenden Verhältnisse zustandegekommen sind.

Was wir als Naturgesetze kennen, wirkt nur unter äusserst eingeschränkten Bedingungen mit Notwendigkeit auf eine zwingende Weise. Schon die Begegnung zweier je notwendigen Gebilde kann zu unvorhersagbaren Folgen führen; dies ist das entscheidende "zufällige" Moment; und ein äusserst "fruchtbares" übrigens.

Zeichenhaft ist mithin weniger etwas, was für etwas (jemanden, ein Mind) etwas bedeutet oder bedeuten kann (das ist eine typische (triadische) Peirce-Definition des Zeichens, die aber mE zu einer dualistischen Auffassung verleitet), sondern eine Struktur, welche zusammen mit einer ihr affinen Struktur (in einem ihr affinen Milieu) andere Wirkungen entfalten kann, als man von ihr als solcher (bzw. in irgendeinem andern Milieu) erwarten kann.

Die Annahme scheint mir nicht sinnvoll, dass etwas erst durch seine tatsächliche Wirkung in einem Zeichenprozess zum Zeichen wird, sondern interessant ist das Begreifen der Dinge oder Geschehnisse als potential zeichenhaft. Die erste, heute immer noch vorherrschende Auffassung ist einfach eine Folge einer dualistischen Zeichendefinition, welche den Zeichenträger als etwas Objektives von der Zeichenbedeutung als etwas Subjektivem oder Objektiv-Geistigen abtrennt. In diesem Begriff vom Zeichen kann die Bedeutung, die damit eine Bedeutungszuweisung ist, natürlich nicht unabhängig davon wirken, dass eine Instanz das Zeichen interpretiert.

Anderseits ist nicht übersehbar, dass manchen Zeichenstrukturen im kulturellen Zusammenhang als Zeichen geschaffen werden. Und das gilt nicht minder für manche Zeichenstrukturen, welche im Bereich einfacher Lebensformen erzeugt werden und wirken, ohne dass ein hochkomplexer Zeicheninterpret aktiv werden müsste. Ich denke dabei etwa an Signalwirkungen in Organismen aller Art oder an instinktgetragene Zeichenwirkungen in tierischen Sozialsystemen, die zB über zeichenhafte Pheromone laufen. Während solche Zeichen meist verhältnismässig eindeutige, freilich durch Umstände modifizierbare Wirkungen zeitigen, sind die meisten zeichenhaften Dinge im kulturellen Zusammenhang 'polyvalent', insofern verschiedene affine Milieus (Interpretanzen) sie zu oft je erstaunlich unterschiedlichen Wirkungen entfalten können.

Durch den Übergang von der üblichen interpretativen Auffassung von Semiose zu einer generativen -- einer bestimmten Konzeption davon, wie es zu Zeichen kommt; nämlich dass die Interpretation von Zeichenhaftem nichts anderes sein kann, als die Generation neuen oder die Aktualisation von schon bestehendem Zeichenhaftem -- ist erst eine evolutive Semiotik möglich.

Es scheint mir, dass Peirce, eigentlich ein gründlicher Erzevolutionist, in seiner Semiotik merkwürdigerweise im wesentlichen bei einer interpretativen Auffassung geblieben ist. Seine Auffassung kann aber mE ohne Schwierigkeiten zu einer generativen Konzeption ausgearbeitet werden.

Zeichenhaftes sollte nach meiner Meinung als eine Sachverhalts- und Sachverhaltswandels-Logik verstanden werden. Irgendwelche Gebilde oder Dinge aus ihrem Zusammenhang zu nehmen und sie entweder als Zeichen oder Nichtzeichen zu deklarieren und weiterhin entsprechend zu klassifizieren und zu interpretieren, ohne dass der Wirkungszusammenhang, in dem sie ihre unter naturwissenschaftlicen Gesichtspunkten oft erstaunlichen Wirkungen manifestieren können, scheint mir wenig ergiebig. Wir sollten über das Feuer-Wasser-Luft-und-Erde-Stadium der Semiotik hinausgelangen.

Dh der Zeichenprozess (Semiose) wird verstanden als der allgemeine (triadische) Verursachungs- oder Bedingungs-Wirkungs-Zusammenhang. Der (dyadische) Notwendigkeits-Zusammenhang stellt einen Spezialfall davon dar, nicht umgekehrt, da sich triadische und höherstellige Zusammenhänge nicht aus dyadischen ableiten lassen, wohl aber dyadische und monadische aus triadischen.

Nur triadische Wirkungszusammenhänge vermögen wirkliche (dh in die Zukunft offene) Evolution zu begründen; dyadische müssen von der logischen Eigenart notwendiger Kausation her zu Wiederholung führen, wieviele Zwischenstadien immer bis zur Wiederkehr durchlaufen werden. Typisch dafür sind schwingende Felder, die meisten kosmischen Bewegungen, chemische Reaktionen zwischen elementaren Komponenten. Echte Evolution beginnt mit chemischen Reaktionen zwischen grossen Molekülen, deren Aufbau nicht nur durch Eigenschaften der Moleküle selbst und des akuellen Mileus der Reaktion bestimmt, sondern auch durch die von den Vorläufern der Moleküle gewonnenen Eigenschaften und durch Eigenschaften des Milieus, welche das Wirken solcher Vorläufer mitbestimmt ist. Mit anderen Worten auch durch historisch-singuläre Vorbedingungen, welche die Reaktionen sperzifischer machen, als sie durch die Eigenschaften der Moleküle allein sein könnten.

Was wir Zufallswirkung nennen ist, aufs Wesentliche abstrahiert, ein triadischer Vorgang: eine Struktur wird unter dem Einfluss einer nicht-affinen Bedingung zu einer anderen -- unvorherbestimmten, aber eben durch den Zufallsfaktor mitbestimmten -- neuen Struktur. Zufall begründet aber nur weitere, in sich wieder notwendig weitergehende Determinationssequenzen. Erst die die Aufbewahrung solcher Strukturen und ihre Wirkung auf affine Strukturen führt zu systematischem und noch nicht vorherbestimmtem Wandel, also zu Evolution.Ohne die zweite, durch die Affinitätsakumulation bedingte Selektivität der Reaktionen müsste durch Zufall eine unendliche Menge von Neuem produziert werden. Unter Affunitätsbedingungen sind die Kontingenzen des Geschehens eingescdhränkt und es entsteht systematischer Wandel ausschliesslich auf Grund der Vorgänger, eben, was wir Evolution nennen.

Die wiederholte Wirkung von aufbewahrten Strukturen im gleichen Affinitätsgewebe führt zu Verzweigungen von Strukturmerkamlen, d.i. Variation. Der Umstand, dass die Wahrscheinlichkeit der Interaktion von Strukturen, die in einem Affinitätsgewebe einander näherstehen, grösser ist als von beliebigen Strukturen, führt zu Verschmelzungen von Gewebelinien, d.i. Selektion, welche übrigens dem Vorgang der Bewertung entspricht

Eine scharfe begriffliche oder gar reale Trennung zwischen Struktur (Semion) und Prozess (Semiose) halte ich für eher "oberflächlich", da sie von den zeitlichen Limitationen der Beobachter bestimmt ist; sie ist als relative Unterscheidung aber sehr bedeutsam, ja für das evolutive Geschehen unentbehrlich, weil Prozesse näher am Wirken, Strukturen näher am Aufbewahren (in der Zeit) und Vervielfachen (als Replikate über den Raum) von Wirkungsmöglichkeiten ihr zeichenhaftes Potential entfalten.

Damit ist Semiose für mich ein generativer, nämlich der strukturbildende oder strukturaktualisierende Vorgang. Semiose ist nicht nur der Vorgang des Verstehens von Systmen, sondern auch der fundamentale systemkonstitutive und -regulative Vorgang selbst. Zeichenhaft sind alle dabei beteiligten Strukturen, ob aufzeigbar oder erschlossen.

Zeicheninterpretation ist also, mit den Worten von Peirce, die Generation von neuen oder weiteren Zeichen. Zeichenaktualisierung ist ein Grenzfall von Zeichengeneration, insofern sie auf geringfügige Modifikationen bestehender Zeichen verweist.

Palingenesie (Herder und Vorgänger) das Werden von Neuem setzt Vergehen von älterem voraus.

Pansemiotismus-Kritik-Abwehr: alles Lebende und was es hervorbringt semiotisch zu begreifen ist in der Tat äusserst fruchtbar. Es ist eine wirklich Möglichkeit, den Dualismen zu entgehen.

 

2) Welche Rolle wird dem menschlichen Subjekt im Zeichenprozess zugemessen?

Peirce begreift Menschen, was sie verbindet und was sie hervorbringen, als zeichenhaft: "man is a sign" (1868, Some consequences ...). Ich interpretiere dies in dem Sinne, dass Menschen in erster Linie als Ergebnisse, und in der Folge ebenso als Voraussetzungen von Zeichenprozessen verstanden werden sollen.

Diese Einsicht war zentral für die Entwicklung der semiotischen Ökologie. Jahrelang habe ich am Problem der Einbettung der menschlichen Systeme (Gewohnheiten, Attitüden, Person, Gruppe etc.) "gekaut" bis ich die kopernikanische Wende vollziehen konnte, solche System nicht voraus-zu-setzen, sondern sich ergeben zu lassen. (--> Entwicklung)

So möchte ich den Subjektbegriff oder den Personbegriff, insbesondere deren gängigen exklusive Reservation für den menschlichen Agenten (Peirce hat auch Entitäten wie einer Amöbe einen Mind-Character zuschreiben wollen) oder deren Verbindung mit Autonomie, mit Vernunft, mit einer bestimmten Logik etc., nicht als eine Setzung in das Verständnis von Welt und Menschen einbringen, sondern die Frage stellen, wie denn solche besonderen Gebilde zustandekommen. D.h. allfällige besondere Eigenschaften semiosisch aktiver Gebilde, ein allfälliger Gegensatz zu passiven Gebilden und die Art und Weise von deren Interaktion sind mir empirische Fragen. Es gibt keine Gründe dafür ausser Anthropozentrismus, allfällig besondere Charaktere durch apriorische Setzungen festzulegen, hingegen viele Gegengründe.

Morris hat durch die Wiedereinführung des Interpreten als vierte Instanz in den Zeichenprozess ein fundamentales Missverständnis eingeleitet und so eigentlich die triadische Semiotik in eine dyadisch-dualistische zurückgewendet.

Ich kann mich des Eindruck nicht erwehren, dass die meiste Semiotik dualistisch ist. Keine Antwort auf Fragen hat, wie denn Glauben Berge versetzen könne, wie Bedeutungen die Welt verändern, ja, nicht einmal, wie es denn zu Bedeutungen überhaupt kommen kann.

Auch Peirceanische Semiotik ist seltsamerweise nicht wirklich evolutiv, da sie von einem Zeichen ausgeht, das erst durch seine Interpretation als Zeichen konstituiert wird, und den Zeicheninterpretationsprozess als einen quasi-linearen denkt, der zwar am Anfang auf ein Objekt bezugnimmt, aber aus der Linie des dadurch in Gang gekommenen Interpretationsprozesses nicht ausbrechen kann, da weder Verzweigung von Verschmelzung vorgesehen sind.

Vermutlich ist Peirceanische Semiotik auch nicht radikal nicht-dualistisch. Das Verhältnis zwischen dynamischem und unmittelbarem Objekt ist jedenfalls so, dass das dynamische Objekt nicht direkt Teil des Zeichenprozesses ist, sondern im unmittelbaren Objekt indirekt konstituiert wird. Die Uneinigkeit der Peirce-Spezialisten zum Verhältnis zwischen Drittheit und Zweitheit lässt auch einige Fragen offen.

 

3) Wie wird Semiotik den Tatsachen der Entwicklung (des Lebens, der Person, der Kultur) gerecht?

Zuwendung zu den generativen Aspekten der Zeichenprozesse erschliesst erst deren Explikationspotential für evolutive Systeme biotisch-phylogenetischen, organismisch-ontogenetischen und sozial-kulturgenetischen Charakters.

So weit ich sehe, verfügen wir bisher über keine Systemtheorie, welche zugleich die Konstitution und die Regulation von Systemen in offener Entwicklung aus den gleichen Prinzipien begreifen kann.

Kybernetische Theorien setzen fixierte Strukturen voraus. Homöostatische Regulative erklären den Stillstand, nicht die Entwicklung des Systems. Die Unentbehrlichkeit von Sollwerten steht im Widerspruch zur Offenheit der Geschichte.

Selbstorganisationstheorien wie die Synergetik können wohl Strukturbildung und -wandel erklären; doch bleibt der Wandel ein bloss zufalls- und dann "gewohnheits"bestimmter. Es ist nicht zu sehen, wie einmal gewonnene Strukturen für künftiges Geschehen mehr als bloss eine Rahmenbedingung abgeben, nämlich wie der Wandel nicht nur den späteren Wandel, sondern auch die Bedingungen des Wandels in rekursiven Prozessen bestimmen kann.

Semiose wird in der generativen Konzeption nicht nur zum Grundtypus historischer Strukturbildung in konstitutiver und regulativer Hinsicht, sondern leistet zugleich die beiden unentbehrlichen Grundfunktionen genuiner Evolution: die Verzweigungsfunktion oder das Variationsprinzip und die Verschmelzungsfunktion oder das Selektionsprinzip.

Strukturbildung

Verzweigung

Verschmelzung

Generative Semiotik scheint damit als einzige mir bekannte Systemtheorie ein genuines Regulationsprinzip anzubieten (wie es übrigens Herder in seiner Geschichtsphilosophie bzw. Theorie der Kulturevolution vielleicht erstmals in einem fundamentalen Gegenentwurf zu Platos Entgegensetzung von Sein und Werden entworfen hat).

Denn nach dem triadisch-semiotischen Konstitutionsprinzip kann es stets nur zu systemaffinen Strukturbildungen kommen. In der weiteren Interaktion zwischen den überdauernden Strukturen wird deren Affinität zu einem Selektionskriterium. Damit wirkt der Zufall nicht mehr wirklich blind, sondern bloss im Bereich von einander affinen Strukturen.

Nach meiner Meinung sind alle echt evolutiven Vorgänge aus Begriffen der Notwendigkeits-mit-Zufall-Kausation nicht aufklärbar, weil nach der zweistelligen Notwendigkeitslogik nicht genuin Neues, sondern nur (implizit) Vorprogrammiertes möglich ist und ein absoluter Zufallseinfluss zwar Neues hervorbringen aber nur eine je eigene Linie notwendiger Geschichte auslöst, bis zum nächsten Zufall das Geschehen erneut spaltet oder verzweigt. Es braucht vielmehr eine dreistellige Logik, welche rekursive Wirkungen des zufallsbedingten Neuen in den alten Strom hinein, also Verschmelzung, ermöglicht, und damit der Möglichkeit unendlichen Verzweigung die selektive Kohärenz und relative Konsistenz von Traditionsströmen entgegensetzt. Die Zufallswirkung wird aufgrund der Affinitätsverhältnisse zu einer relativen, von einer einmal gebildeten Tradition selbst geregelten.

 

4) Ist eine Zeichentheorie zum Verständnis von Menschen und Welt unentbehrlich? Warum? Inwieweit?

Derzeit übersehe ich den Vergleich der verschiedenen Evolutionsdomänen nicht ausreichend, neige aber dazu, kosmisch-chemisch-mineralischen Systemwandel nicht im gleichen Sinn für evolutiv zu halten wie biotischen und darauf aufbauenden individual- und kulturgenetischen Wandel. Denn nur bei den drei letzteren scheinen sich durch die Entwicklungen selbst auch die Entwicklungsbedingungen zu ändern.

MaW ich sehe den tieferen Schnitt in der Stufenfolge der Erscheinungen beim Ursprung des Lebens, nicht beim Ursprung des sog. Geistes. Individual- und Kulturgenese sind undenkbar ohne Biogenese und bauen darauf auf; Individual- und Kulturgenese sind aber intensiver untereinander verschränkt als beide mit der Bioevolution; denn in aller Regel werden erst die einen jeweiligen kulturellen Stand sich angeeignet habenden Individuen durch ihr Handeln den Kulturwandel massgeblich beeinflussen können.

Ein gründlicher Vergleich der drei Envolutionsdomänen scheint mir äusserst fruchtbar, wenn er auf der Grundlage ein- und derselben Begrifflichkeit -- und genau das soll die semiotische Ökologie leisten -- durchgeführt werden kann. Stukturbildung und -wandel aufgrund variativer und selektiver Interaktion ist offenbar in allen drei Fällen das Prinzip.

Aber während bei der Biogenese ein Strukturtyp Träger der Strukturkontinuität wie der Variation ist (Genomstruktur) und das Selektionsprinzip an einem davon abhängigen Sekundärstrukturtyp (dem Organismus) im jeweiligen umweltlichen Rahmen erfolgt, sind die Verhältnisse bei Onto- und Kulturgenese anders und stärker miteinander verquickt. Individualgenetisch ist das Gehirn zusammen mit den biochemischen Agentien primärer Träger sowohl der Strukturbildung wie der Variation (Einfälle etc.) und der Selektion (Bewertung etc.); aber die bei Menschen erreichte Differenzierung und lebensläufliche Anreicherung der individuellen "Gedächtnisse" wäre undenkbar, ohne ein in bestimmter Weise entwickeltes kulturelles Umfeld, aus dem nicht nur Variationsanregungen, sondern auch Selektionsregulative stammen. Beim kulturellem Wandel anderseits lösen sich erstmals die gebildten Trägerstrukturen in der Form gestalteten Dingen, Räumen, Ereignissen, Texte aller Art von den Organismen weitgehend ab und werden zugleich zu den Zielobjekten der Variation wie der Selektion. Bei allen drei Funktionen sind aber Personen nahezu unentbehrlich. Man könnte geradezu Kultur als jenen evolutiven Strom definieren, dessen Trägerstrukturen von Variation und Selektion sich von den Organismen abgelöst haben.

Alle drei Evultivdomänen oder -formen haben demnach einen ökologischen Charakter, dh sie emergieren als solche und tragen dialogische Prozesse zwischen leicht unterschiedlichen Strukturtypen wie organismisch-chromosomalen Strukturen und ihrer Umwelt, cerebralen Strukturen und der Umwelt der sie tragenden Organismen und kulturalen Strukturen und der sie kultivierenden Menschen und Menschengruppen

Menschen selbst und ihre selbstgenerierte Welt zur Gänze als zeichenhaft aufzufassen und sie in emergierender Folge zu biotischer Evolution allgemein zu sehen hat sich mir derart folgenreich für die Klärung einer Menge von Problemen der abendländischen Ideengeschichte zu Pseudoproblemen erwiesen, dass ich darauf nicht mehr verzichten möchte. Ich sehe keine auch nur entfernt ähnlich fruchtbare Alternative zur generativen Semiotik.

Es scheint mir insbesondere, dass jede allgemeine Darstellungsform der Wirklichkeit (dessen, was wirkt oder wirken kann) sich am Evolutiven zu bewähren hat. Eine solche muss daher generativ angelegt sein. Genau das hat dualistische Denkmodel der Wirklichkeit verpasst, indem es die Erscheinungen des Wandels von einem ewigen Sein (nicht nur in Form einer fiktiven Metaphysik, sondern besonders folgenreich auch in Form von Natur- oder Vernunft-Gesetzen) abtrennt und damit nicht wirklich ernst nimmt.

Hier könnte man allerlei Interaktions-, Kommunikations- oder Systemtheorien erwägen und prüfen, inwiefern sie in der Lage sind, Struktubildung und -wandel gleichzeitig zu konzeptualisieren. Ich vermute, dass die üblichen Kommunikations- und die kybernetischen Systemtheorien die Strukturen fixieren und damit dem beobachtbaren Wandel auch der Strukturen selbst nicht gerecht werden. Reine Interaktionstheorien (etwa die Synergetik) scheinen anderseits dem Wandel begründen zu können, verpassen aber den Umstand, dass von offener Entwicklung nur dann die Rede sein kann, wenn jeder Wandel zur unvorhersehbaren Grundlage weiteren Wandels werden kann.

Generativ-semiotische Welt- und Menschenverständnis hat Relevanz für Ethik, Ästhetik und Logik. Durch Ernstnehmen offener Evolution bekommen Verantwortlichkeitsvorstellungen betreffend Gutes, Schönes und Wahres einen wesentlich intensiveren Charakter und mithin einen grösseren Stellenwert als ihnen in Gesetzlichkeitsvorstellungen (mit oder ohne Zufallsanteile) zugestanden werden können.

zB lassen sich auf diese Weise etwa Prinzipethiken (religiös begründete medizinische Prioritätssetzungen, formale Prinzipien wie der kategorische Imperativ, etc.) ablösen durch Konsequenzethiken. Die Folgen einer solchen Verlagerung scheinen zunächst für unser Rechtssystem verheerend, möglicherweise aber der einzige Ausweg aus der imminenten Selbsterledigung emanzipativer Anstrengungen.

Verlagerung von individualisierenden zu gemeinschaftlichen Absicherungen.

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