Alfred Lang | ||
Handout at Conference Presentation 1995 | ||
Der Umzug in ein Heim - psychologische Hintergründe und Konsequenzen | 1995.01 | |
24 / 37KB Last revised 98.10.26 | ||
mit Hubert Studer, Isabel Marty, Stefanie Güggi und Kilian Bühlmann Beitrag zur Tagung der Schweiz. Gesellschaft für Gerontologie in Lausanne, 14.10.1995, Atelier der AG "Leid und Abhängigkeit -- Alters- und Pflegeheimeinweisung: Verhüten oder Vorbereiten?" | © 1998 by Alfred Lang | |
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Altern ist neben biologischen und sozialen Veränderungen, dem Wandel von Werthaltungen auch von einschneidenden Veränderungen des Umweltbezuges begleitet: Rückzug aus dem Berufsleben, Wandel der sozialen Bezüge und verminderte Mobilität reduzieren den Lebensraum hauptsächlich auf den Wohnbereich (Höpflinger, 1994; Lehr, 1991; Madörin, 1985).
Die Bedeutung der Wohnsituation Betagter und Uebergänge zwischen verschiedenen Wohnsituationen aus einer ökologischen Perspektive klären.
Die betagten Menschen und ihre (Wohn-) Umwelt werden als aufeinander bezogene, sich gegenseitig konstituierende Komponenten in einem ökologischen System betrachtet.
Die ökologischen Teilsysteme werden in die gleiche semiotisch-ökologische Begrifflichkeit gefasst: Person und Umwelt können als Zeichenstrukturen verstanden werden, die in einem dynamischen Wechselbezug zueinander stehen.
Die Umwelt hat analog zum personalen Innensystem Gedächtnisfunktion. Bei der Person -im engeren Sinn- sprechen wir vom internalen Gedächtnis eines Indivduums; analog werden Umweltstrukturen als externales Gedächtnis der Gemeinschaft wie auch der Individuen gefasst. Betagte Menschen leben in einer Wohnumgebung, die voller (externalisierter) Spuren vergangener Tätigkeiten und Ereignisse ist, welche täglich auf die Personen zurückwirken (internalisiert werden) (Fuhrer & Kaiser, 1993; Lang, 1993).
Die Dynamik des Wohngeschehens begreifen wir als Regulation zwischen individueller Eigenständigkeit und kultureller Zugehörigkeit (Lang, 1985; 1987; Slongo et al. 1995).
Ebenen der psycho-sozialen Regulation
Regulative Reichweite | ||
individuell | kollektiv | |
aktuelle Prozesse | Aktivation | Interaktion |
Entwicklungsprozesse | Selbst-Kultivation (Selbstpflege) | Kommunikative Kultivation (Selbstdarstellung) |
Eine vertraute Wohnumgebung bietet betagten Menschen die Möglichkeit, sich selber (Selbst-Kultivation) aber auch den anderen (Kommunikative Kultivation) zu zeigen, wer sie sind, wer sie waren oder sein möchten. Räume und Gegenstände, die z.T. über Jahrzehnte hinweg keine Veränderungen erfuhren, sichern gewohnte Handlungsmöglichkeiten, die im Alltag stabilisierende Wirkung haben oder als neue Dinge Anregung bringen (Aktivationsregulation). Zudem dienen sie der Vermittlung sozialer Beziehungen (Interaktionsregulation).
Beim Umzug in eine neue Wohnform und -umgebung wird das Mensch-Umwelt-System aufgebrochen. Es muss sich unter veränderten Bedingungen wieder neu stabilisieren.
Beim Einritt in eine Altersintitution wird in der Regel eine eigenständige oder klein-familiäre Wohnsituation durch das Leben in einer komplexen Anlage abgelöst. Die private Wohnumwelt reduziert sich oft auf einen einzigen Raum, viele Dinge und Einrichtungen müssen aufgegeben werden. Das verunmöglicht einige altvertraute Alltagsroutinen, erschwert andere und verlangt die Bildung neuer Lebensgewohnheiten (Kruse & Wahl, 1994; Rubinstein & Parmelee, 1992; Saup, 1993).
Ein semiotisch-ökologisches Verständnis von Psychologie hat Konsequenzen für die methodische Herangehensweise. Person-Umwelt-Systeme sind kulturell begründet und gleichzeitig in unterschiedlichem Mass individuell überformt. Eine a priori Klassifikation solcher Systeme, was von quantitativen Verfahren vorausgesetzt wird, verschliesst den Blick auf die Besonderheiten der dynamischen Wechselbezüge innerhalb der so gebildeten Klassen. In diesem Projekt kommen darum vorwiegend qualitative Verfahren zum Tragen.
Das konkrete Wohngeschehen und kritische Bereiche werden anhand von theoriegeleiteten, multimethodisch angelegten Fallanalysen in drei Teilprojekten aufgezeigt.
Als Datenquellen dienen je nach Teilprojekt schriftliche Dokumente, Interviewtranskripte, systematische Beobachtungsdaten, Feldnotizen resp. unsystematische Beobachtungsdaten und Memos.
(2) Thematische Zuordnung
Die für die jeweilige Fragestellung erhobenen Daten werden nach einem Themenkatalog geordnet.
(3) Verdichtung
Reduktion der relevanten Interviewausschnitte auf Kernaussagen und der verfügbaren Dokumente auf ihre essentiellen Inhalte.
(4) Deskription der Einzelfälle
Themenzentrierte Beschreibung der einzelnen Fälle auf der Basis der verschiedenen Datenquellen.
(5) Typisierung (Generalisierung)
Eine populationslogische Generalisierung der Ergebnisse einer bestimmten Anzahl von einzelnen Fälle auf alle Fälle ist, abgesehen von den grundsätzlichen Problemen der Populationsbestimmung, der Stichprobenwahl und -grösse bei ökologischen Systemen, im Rahmen des gewählten Untersuchungsdesigns weder vorgesehen, noch sinnvoll (Foppa, 1986, Lewin, 1927, Studer, 1993). Angestrebt wird vielmehr eine typikalitätslogische Generalisierung gründlich studierter exemplarischer Fälle auf der Grundlage semiotisch-ökologischer Regulationskonzepte.
Älterwerden heisst, sich mit Veränderungen konfrontiert zu sehen und mit diesen umzugehen. Eine wesentliche, in das Alltagsgeschehen eingreifende Veränderung, ist für einen älteren Menschen der Umzug, sei es in eine kleinere Wohnung, eine Alterswohung oder in ein Heim. Der Umzug bedeutet immer auch einen Verlust und Wiederaufbau des "Zuhause".
Kernfragen
* Welche Bedeutung hat das Zuhause für Betagte?
* Worin bestehen die Gefühle der Geborgenheit bei Betagten?
Methoden
* Autofotographie
* fotogeleitete, vertiefte Interviews
Exemplarische Ergebnisse
Fotografierte Dinge können als Repräsentanten des Gefühls des "Zuhause-Seins" und Ausdruck der "Verwurzelung" mit dem Zuhause gesehen werden.
Zwei Beispiele sollen auf exemplarische Art und Weise Einblicke in die Auseinandersetzung älterer Menschen mit ihrem "Zuhause" bieten:
(1) Frau A
Auf einem Foto ist ein Blumenarrangement abgebildet, das aus verschiedenen Pflanzen und einer kleinen Holzgiraffenstatue besteht.
"Dieses Blattgewächse hat mir eine Tochter geschenkt, die von klein auf und vor vielen Jahren in der Kinderkrippe war. Als sie einmal auf Besuch kam, hat sie mir diese Pflanze noch als ganz kleines Pflänzlein mitgebracht".
"Die Giraffe hat mir ein Arzt geschenkt, dessen Tochter ich jahrelang als Feriengast bei mir hatte...".
Frau A. drückt ihr Gefühl des "Zuhause" durch die Fotographie eines Geschenkes aus, welches ihr durch langjährige und persönlich sehr wichtige Beziehungen zukam. Durch das Blumenarrangement weiss Frau A. wer sie während langer Zeit war, wer sie sein möchte, vielleicht immer noch ist und vertritt dieses Wissen auch nach aussen hin.
(2) Herr B
Auf einem Foto ist ein Büchergestell abgebildet. Es sind darin viele Bücher zu sehen aber auch einige Familienfotos, die den Büchern vorgestellt sind.
"Diese Bücher, die Roten. die erste Serie Gotthelf, hat sie mitgebracht. Sie hatte etwa 3-4 und schenkte mir einfach jedes Jahr eines...schon in der Bekanntschaftszeit...immer eines, bis ich die ganze Serie hatte (...) wenn ich bei einem sagte, das könnte interessant sein, hat sie es schon gespannt...ich hatte sie dann jeweils auf dem Geburtstagstisch".
"Die Fotos haben manchmal gewechselt, da hat sie etwas hervorgenommen und dahin gestellt".
Herrn B. bringt sein "Zuhause" hier mit Dingen (Bücher und Familienbilder) zum Ausdruck, die seinen starken Bezug zu seiner Frau verdeutlichen. Die Frau, mit der er den allergrössten Teil seines Lebens verbracht hat, ist heute schwerkrank, lebt in einem Pflegeheim und ist nur schwer ansprechbar. Mit den "Spuren", die sie in ihrem gemeinsamen Leben hinterlassen hat, erinnert er sich schmerzlich, wer sie beide früher waren und jetzt nicht mehr sein können.
Fazit
Wichtige Bedingungen von Geborgenheit sind demnach:
* starker Vergangenheitsbezug
* hohe emotionale Bedeutung
* Funktion der Aufrechterhaltung und Sicherung der Identität
Der bevorstehende Umzug bringt Unruhe in das stabile System der betagten Person einerseits und ihrer altvertrauten Wohnumgebung und Handlungsmöglichkeiten andererseits. Ein wichtiges Thema in diesem Zusammenhang stellt das Auswahlverfahren von Gegenständen und Dingen dar.
Ausgehend von der Annahme, dass Konstanz im Wohnbereich als zuverlässiger Prädiktor für erfolgreiches Altern gewertet werden kann, stellt sich die Frage, inwieweit sich die "alte" Wohnumwelt mittels vertrauter Dinge am "neuen" Ort rekonstruieren lässt. In diesem Prozess sind auch wichtige Entscheidungen zu fällen (Saup, 1993; Fischer & Fischer, 1981).
Kernfrage
Wie rekonstruieren Betagte ihr "altes Zuhause", damit sie sich in der neuen Wohnumgebung geborgen und heimisch fühlen (Lang, 1985; Lang, Bühlmann & Oberli, 1987; Madörin, 1985; Cooper Marcus, 1992)?
Methode
Mittels themenzentrierter Heiminterviews wurden die folgenden Aspekte erfasst: Wohnungsaufteilung, Einrichtung und Nutzung einzelner Wohnbereiche, Bedeutung der Dinge im Wohnbereich und die persönlichen Auswahlkriterien von Dingen im Hinblick auf einen bevorstehenden Umzug.
Bedeutung der Dinge im Wohnbereich
Frühere Untersuchungen konnten zeigen, dass die persönlichen, alltäglichen Dinge im Alter den Personen Sicherheit, Freude und Trost sowie das Gefühl von Kontinuität und Selbstsicherheit geben, sowie der Vermittlung sozialer Beziehungen (zB als Statussymbole) dienen. Betont wird auch, dass dabei dem Zuhause eine besondere Bedeutung zukommt. Nicht nur die Zimmereinrichtungen und Dinge, auch die Handlungsmöglichkeiten, die mit diesen verbunden sind, sichern den Personen eine gewohnte Alltagsgestaltung (Kamptner, 1989; Kinney et al., 1985; Kron, 1983; Lang, 1993).
Exemplarische Ergebnisse
Was würden Sie den Betroffenen raten, mitzunehmen? Was nähmen Sie selber in dieser Situation mit?
Erstaunlicherweise sind es nicht nützliche, kostbare oder besonders liebgewonnene Möbel, die beliebig zusammengewürfelt ausgewählt werden. Eines der deutlichsten Muster von Auswahlverfahren, das sich abzeichnet ist jenes, wonach die Auskunftspersonen ganz bestimmte Ensembles von Dingen, ganze Zimmereinrichtungen mitnehmen und am neuen Ort wieder (gleich) einrichten wollen.
(1) Frau F
Bei der einen Person ist es die Schlafzimmereinrichtung, welche genau jener Möblierung entspricht, die sie bis zur Pensionierung als Kinderschwester im Heim-Logis besessen hatte. Die Erinnerungen an die Berufszeit sind für die ledige Frau noch heute von zentraler Bedeutung.
"Der Pflegeberuf bringt das einfach mit sich, man bleibt, was man gewesen ist. [..] Sie sind einfach noch als das anerkannt, was sie damals gearbeitet haben."
"Hier im Schlafzimmer sind die Möbel, die ich schon vorher hatte. Das ist also die ursprüngliche Stube, so war sie im Heimlogis auch eingerichtet, 29 Jahre lang.
"Es gehört auch noch dazu, dass die Leute einen in der Wohnung, in der man nun eben ist kennen: 'bei der ist es so, die hat so eine Wohnstube und ...-"
(2) Frau G
In einem anderen Fall ist es die Möbelgarnitur, die der verstorbene Ehemann zur Hochzeit in Raten abverdient hatte und die später in "seinem" Zimmer standen. Sie selber hält sich bis heute nicht dort auf, will aber genau dieses Ensemble als Erinnerung an ihn mitnehmen.
" [..] Nein ... hier ist meistens niemand. Einfach als der Vati noch lebte war hier sein Zimmer. Also ich will DAS Zimmer, alles, was da steht käme also mit.
DAS ist schon das Wichtigste, hier das Zimmer. Das war sein Plätzli, am Abend, wenn er noch seine Arbeit machte. Wir sind fest aneinander gehangen, fast zu fest....- dass wir einander fast nicht verlieren konnten.
Ich habe das mit der Tochter besprochen, nicht einmal wegen der Schönheit, sondern einfach weil es dem Vati seines gewesen ist. WENN es reinpasst! "
(3) Frau H
Eine dritte Person will alle Möbel aus der Stube mitnehmen: die Polstergruppengarnitur mit Wohnwand und Kommoden. Obschon sie kaum einmal Besuch hat und nie alleine in der Stube ist, besteht sie auf diese Wahl, damit sie noch weiterhin Besuch empfangen könne.
"Die Möbel reisse ich also nicht auseinander. Eh, ... wenn jemand kommt, dann brauche ich das einfach.
Ja und EIN Zimmer möchte ich also wirklich mitnehmen können, sonst lasse ich es also sein. [..] So die Möbel zusammenwürfeln? Aber das ist doch dann nicht mehr schön!! Sehen sie das nicht?!
Ich habe schon nicht gerne, wenn alles überstellt ist, aber das Heimzimmer ist doch gar nicht viel kleiner als die Stube."
Generell scheint sich in unserer Untersuchung zu bestätigen, dass einzelne Dinge die Betagten an Ereignisse im Leben, nahe Bezugspersonen, frühere Aktivitäten oder Hobbies erinnern, ebenso stellen einige Personen mit Stolz wertvolle Sammelstücke aus. Die Einrichtung und Anordnung der Dinge, die das Innere der Wohnräume prägen, wirken als komplexes Einflussfeld auf die BewohnerInnen selber als auch auf andere.
In Anbetracht des bevorstehenden Umzugs, der einen Verzicht auf mehrere Dinge verlangt, erscheinen primär weder die Bedeutung einzelner Dinge noch funktionale Überlegungen die Auswahl stark zu beeinflussen. Für jene Personen, die die gesamte Zimmereinrichtung mitnehmen und rekonstruieren wollen ist von zentraler Bedeutung, dass nur diese Einheit von Dingen die Funktion erfüllt, die Erinnerung an die eigene Lebensbiographie zu wahren, bzw. nur das Ensemble ausdrückt, was von der eigenen Persönlichkeit man - sich und anderen - kommunizieren will. Unbedeutend ist in diesen Fällen die Funktion der Einrichtungen im täglichen Handlungsvollzug, stehen die Dinge doch jeweils in jenem Zimmer, das von den Personen im Alltag kaum benutzt wird.
Weitere Untersuchungsschwerpunkte
In Anbetracht des Umzug sprechen viele Personen erwartete Veränderungen im Alltag, bei den sozialen Kontakten und in der eigenständigen Lebensführung an. Ein weiteres Ziel dieser Untersuchung soll deshalb sein, die Diskrepanzen zwischen den Vorstellungen, Erwartungen der HeimanwärterInnen und den Zielen und Anforderunge der Heimorganisationen aufzuzeigen.
Teil III. Betagte in der Institution
Beim Umzug in eine Alterseinrichtung (deren Spektrum von privaten Altenwohnheimen bis zu öffentlichen Alten- und Pflegeheimen reicht) offenbart sich immer wieder der Grundkonflikt institutionellen Wohnens: Die Institution ist Wohnort der Betagten und zugleich Arbeitsort des Personals.
Jede Alterseinrichtung ist durch eine bestimmte Organisationsform und Raumsyntax gekennzeichnet, in denen sich Vorstellungen vom Wohnen, Arbeiten und Aelterwerden widerspiegeln. Ausgehend vom Postulat, dass sich die Gefühle von Geborgenheit und Zuhause in einer Alterseinrichtung dann einstellen, wenn die Betagten ihre Eigenheit und Zugehörigkeit angemessen regulieren können, werden die räumlichen und organisatorischen Gegebenheiten auf ihr Regulationspotential hin untersucht.
Kernfrage
Welches sind die Möglichkeiten und Grenzen der Regulation von Eigenheit und Zugehörigkeit der Betagten im institutionellen Kontext?
Methoden
* Dokumentenanalyse
* Halbstrukturierte, themenzentrierte Interviews
* Verhaltenskartographien
* Feldnotizen/unsystematische Beobachtungen
Themenbereiche
Aus dem institutionellen Ganzen werden Bereiche herausgegriffen, an denen sich die unterschiedlichen Regulationspotentiale exemplarisch aufzeigen lassen. Dabei wird jeweils ein besonderer institutioneller Aspekt herovrgehoben:
* Verpflegung (organisationale Aspekte)
* Raumgestaltung, und -nutzung (räumliche Aspekte)
* Ein-, und Umzug (Entwicklung)
* Aussenbezug (interinstitutionelle Bezüge)
* Institutionskultur (Menschenbilder, Werte)
Exemplarische Ergebnisse
(1) Individuelle Entwicklungsverläufe und -potentiale vs. Gleichberechtigung
Typischerweise haben Betagte in Institutionen alle dieselben Rechte und Pflichten. Dies vereinfacht die Arbeitsabläufe, steht aber auch im Widerspruch zum Konzept der "differentiellen Dienstleistungen", das wohl jedem modernen Leitbild für Alterseinrichtungen zugrunde liegt.
Der Leiter Y einer Seniorenresidenz (eines privaten Altenwohnheims):
"Wir hatten auch den Fall eines Mannes, der sich eingesperrt fühlte. Abends, wenn hier geschlossen ist, kann man über die Sonnerie zwar mit Besuchern reden, muss aber selbst hinuntergehen und aufmachen, das kann nicht von oben gesteuert werden. So kann man durch die Glaswand nochmals schauen, ob man den Besuch wirklich hereinlassen will. Das andere wäre technisch möglich, die Leitungen sind eingezogen. Doch das geht nur für keinen oder für alle. Der Mann behauptete, er sei noch gut beieinander und brauche dies nicht. Doch wie wäre das für ihn, wenn man plötzlich käme und sagte, man müsse nun auch bei ihm den Türöffner wieder abhängen?"
Aus dem Prospekt derselben Institution:
"Dieses Konzept gestattet es älteren und anspruchsvollen Bewohnern, den dritten Lebensabschnitt unabhängig, selbstverantwortlich und im gewohnten Lebensstil zu führen, ohne auf umfangreiche Dienstleistungen fast wie im Hotel verzichten zu müssen, die nach Bedarf in Anspruch genommen werden können. Ihre Unabhängigkeit ist uns wichtig."
Institutionelle Regeln, die sich nicht an aktuell vorhandenen individuellen Kompetenzen, sondern am worst case" orientieren, am Zustand der Verwirrtheit und Unselbständigkeit, führen in Kombination mit dem Ideal einer Gleichbehandlung aller Betagten zu einer Beeinträchtigung individueller Entwicklungsverläufe und -potentiale.
(2) Handlungsfreiräume vs. organisationale Effizienz
Im folgenden Beispiel offenbart der Vergleich von systematischen Beobachtungen und Aussagen des Personals und der Bewohnerschaft, wie sich bestimmte Handlungserwartungen und Verhaltensweisen wechselseitig bedingen können.
In den nischenartigen Aufenthaltsbereichen eines öffentlichen Alten- und Pflegeheims, um die jeweils rund ein Dutzend Betagtenzimmer angeordnet sind, essen diejenigen Betagten, deren Essverhalten aufgrund von Kompetenzeinbussen die anderen im zentralen Speisesaal stören würden oder die beim Essen Hilfe benötigen.
Der Heimleiter L zur Nutzung dieser Bereiche:
"Die Aufenthaltsräume, die werden vom Personal gebraucht. Von unseren Leuten sind es vielleicht zwei oder drei Frauen auf 93, die sie ab und zu benützen."
"Unsere Aufenthaltsräume werden bis auf einen fast nicht genutzt. Sie kommen lieber in die grosse Halle, wo etwas läuft. Oder oben hat es Räume, Ecken, wo man sich aufhalten kann. Es gibt nur gerade unten einem, wo man die Leute sieht. Sonst ist das so eine Art Speisesälchen geworden. Oben hat es noch einen Raum und da ist die Empore und die Leute kommen nach vorne, dann sieht man etwas oder sie wollen lieber vor dem Haus sitzen, wo man etwas sieht - als in diesen Aufenthaltsräumen. Man kann also ruhig sagen, dass aus ihnen Essäle geworden sind."
Aus den Beobachtungdaten geht unter anderem hervor:
Im Aufenthaltsbereich einer der Wohngruppen steht ein grosser Tisch. Er wird schon relativ kurze Zeit nach den Mahlzeiten für die jeweils nächste Mahlzeit oder Zwischenmahlzeit gedeckt, die frühestens eine bis zwei Stunden später stattfindet.
Dinge und Einrichtungen sind Handlungsangebote, legen bestimmte Handlungen nahe, behindern andere. Das Personal, das in den Zeiten, in denen von den Betagten keine Hilfestellungen beansprucht werden, den Tisch deckt, erwartet offenbar keine anderen Tätigkeiten an diesem Tisch als solche, die im Zusammenhang mit der Verpflegung stehen. Ein gedeckter Tisch behindert die meisten anderen Tätigkeiten, die sonst üblicherweise an einem Tisch auch noch ausgeführt werden. Der Handlungsfreiraum der Betagten wird eingeschränkt. Die Folge: Der Tisch und damit der ganze Aufenthaltsbereich wird nicht oder kaum für andere Tätigkeiten genutzt, was im Sinne einer positiven Rückkoppelung wiederum das frühzeitige Decken des Tisches begünstigt.
Unser Ziel sind nicht allgemeine und oft schwer nutzbare Aussagen über das Wohnen im Alter, sondern exemplarische Einsichten in das Zusammenpiel von Dingen, Räumen, Umgebungen und den betagten Menschen, die sich darin und damit ihr Leben machen. Wir möchten eine Reihe von für das Gelingen würdigen Alters kritische Stellen in diesem Mensch-Umwelt-Gewebe aufzeigen. Die Ergebnisse dieser Untersuchung werden in einem Praxishandbuch für Betagte, Betreuer, Planer und Leiter von Betagtenwohnanlagen publiziert.
Cooper Marcus, C. (1992). Environmental memories. In I. Altman & S.M. Low (Hrsg), Place Attachement. New York: Plenum Press, 87-113.
Csikszentmihalyi, M. & Rochberg-Halton, E. (1989). Der Sinn der Dinge: Das Selbst und die Symbole des Wohnbereichs. München: Psychologie-Verlags-Union.
Fischer, M. & Fischer, U. (1981). Wohnortswechsel und Verlust der Ortsidentität als nichtnormative Lebenskrisen. In S.H. Filipp (Hrsg.), Kritische Lebensereignisse. München: Urban & Schwarzenberg, 139-153.
Foppa, K. (1986). "Typische Fälle" und der Geltungsbereich empirischer Befunde. Schweizerische Zeitschrift für Psychologie und ihre Anwendungen, 45(3), 151-163.
Fuhrer, U. & Kaiser, F. G. (1993). Ortsbindung: Ursachen und deren Implikationen für die Wohnungs- und Siedlungsgestaltung. In H.-J. Harloff & E. Laage (Hrsg.), Psychologie des Wohnungs- und Siedlungsbau - Psychologie im Dienste der Architektur und Stadtplanung (S. 57-73). Göttingen: Hogrefe.
Kamptner, N.L. (1989). Personal possessions and their meanings in old age. In Spacapan, S. & Oskamp, S. (Hrsg.), The social psychology of aging. London: Sage, 165-196.
Kinney, J.M.; Parris Stephens, M.A.; McNeer, A.E. & Murphy, M.R. (1985). Personalization of private spaces in congregate housing for older people. In Klein, S.; Werner, R. & Lehmann, S. (Hrsg.), Environmental change/social change. Washington, DC: EDRA, 194-200.
Kron, J. (1983). Home-psych: The social psychology of home and decoration. New York: Clarkson N. Potter.
Kruse, A. und Wahl, H.-W. (Hrsg.)(1994). Altern und Wohnen im Heim: Endstation oder Lebensort? Bern: Huber.
Lang, A. (1988). Das Ökosystem Wohnen - Familie und Wohnung. In Lüscher, K., Schultheiss, F. & Wehrspaun, M. (Hrsg.), Die 'postmoderne' Familie: Familiale Strategien und Familienpolitik in einer Übergangszeit. Konstanz: Universitätsverlag, 252-265.
Lang, A. (1993). Non-Cartesian Artefacts in Dwelling Activities: Steps towards a Semiotic Ecology. Schweizerische Zeitschrift für Psychologie, 2, 138-147.
Lang, A., Bühlmann, K. & Oberli, E. (1987). Gemeinschaft und Vereinsamung im strukturierten Raum: psychologische Architekturkritik am Beispiel Altersheim. Schweizerische Zeitschrift für Psychologie, 46(3/4), 277-289.
Lehr, U. (1991). Psychologie des Alterns. Wiesbaden: Quelle und Meyer.
Lewin, K. (1927/1981). Gesetz und Experiment in der Psychologie. In C.-F. Graumann (Hrsg.), Kurt Lewin Werkausgabe, Bd. 1 (S. 279-320). Bern: Huber.
Madörin, E. (1985). Wohnformen im Alter. Bern: Haupt.
Saup, W. (1993). Alter und Umwelt. Stuttgart: W. Kohlhammer.
Slongo, D.; Schär Moser, M.; Richner, M; Billaud, Ch., Schläppi Schreiber, S. und Lang, A. (1995). Ueber die Regulation psycho-sozialer Systeme durch architektonische und alltagsdingliche Kultur. Ansatz, Methodik und erste Ergebnisse deskriptiver Wohnpsychologie (Forschungsberichte, Nr. 1995-2). Institut für Psychologie der Universität Bern.
Studer, H. (1993). Individuelle und kollektive Wohnformen. Eine explorative Untersuchung ihrer sozialen Implikationen. Diplomarbeit. Bern, Universität, Institut für Psychologie.