Alfred Lang

University of Bern, Switzerland

Conference Presentation 1994

Grenzbereiche und Experimentieren:Fakten und Experimente im Wohnbereich

1994.10

@DwellPrax @DwellTheo

16 / 22KB  Last revised 98.10.26

Kurzvortrag am 14.2.1994 zum 15. interdisziplinären Kontaktseminar des Collegium Generale der Universität Bern zum Thema "Grenzbereiche"

© 1998 by Alfred Lang

info@langpapers.org

Scientific and educational use permitted

Home ||

 

Meine verehrten Damen und Herren

Das Collegium Generale hat für uns eine Hierarchie von Titeln erfunden, die uns vielleicht eine Annäherung an unser Thema ermöglichen.

(1) Fragen wir nach dem Sinn von Grenzbereichen, so scheint mir die Antwort darin zu liegen, dass es jene Bereiche sind, wo Systeme sich sowohl erhalten wie auch erneuern. Wenn die Unterscheidungüberhaupt trägt, scheinen sie mir eigentlich wichtiger als die sogenannten Kernbereiche.

Wenn wir Grenzbereiche zu Grenzen degenerieren lassen, wie bei den Grenzen zwischen unseren Grundstücken durch eine Entweder-Oder-Logik, geschehen manchmal seltsame Dinge, wie in dem Bild, das Grenzen auch als verbindende Kräfte demonstriert. Aber sie geschehen eben leider normalerweise nicht.

Grenzbereiche sind zugleich Risiken und Chancen. Die Membranen von Zellen, die Häute von Organismen, die Ränder von Territorien aller Art, die brüchigen Dammbauten der Moralsysteme, die Laufgitter, in welche die wissenschaftlichen Disziplinen ihre Studierenden setzen. Kein System kann gedeihen, das die Risiken zur Gänze scheut und damit die Chancen verpasst. Kein System kann auch bestehen, das die Risiken zur Gänze missachtet und damit die Chancen überdehnt.

(2) Damit sind wir, betrachten wir Systeme in ihrer Entwicklung, bei den Bedingungen für Wege und Irrwege für Daseinsformen. Was ist ein Irrweg, was ein gangbarer und erwünschter Weg? Wie kann man zwischen ihnen unterscheiden, bevor sie stattfinden? Verstehen wir ein System, wenn wir eingreifen? Kennen wir die relevanten Tatsachen und ihre Zusammenhänge? Haben wir eine gute Theorie, nämlich eine, die unser Handeln Irrwege vermeiden und Wege finden lässt? Damit sind wir bei Fakten und beim Experiment.

(3) Über das Experiment gibt es meines Erachtens oft seltsam einschränkende Vorstellungen. Manche Wissenschaftler behaupten, dass Experiment sei als die ideale Form wissenschaftlicher Forschung die wiederholbare Beobachtung von in einer Modellwelt arrangierten Wirkungen von kontrollierten Ursachen. Sein Zweck sei die Entscheidung über Hypothesen, mithin die Klärung von Theorien, mit denen man anschliessend in der wirklichen Welt operieren könne.

Nun bin ich freilich nicht so sicher, ob sich zwischen Modellwelten und Realwelten so einfach und klar unterscheiden lässt. Immer dann, wenn ein System durch beobachtenden Eingriff potentiell verändert wird, geht es ja nicht an, von der experimentellen Modellwelt, die genau solche Veränderungen um jeden Preis zu verhindern trachtet, auf eine allgemeinere Welt zu generalisieren, in der solches genau einen wesentlichen Sinn ausmacht.

Wir brauchen also für evolutive und historische Welten einen weiteren Experiment-Begriff. Ich denke wir müssen einsehen, dass solche evolutiven Welten selber auch experimentieren. Das ist für biotische Systeme, die Evolution der Arten heute allgemein anerkannt. Der Grenzbereich ist dann der Ort und die Zeit, oder jene Rahmenbedingungen, unter welchen neue Arten entstehen. Hier geht die Natur, anthropomorphisierend beschrieben, Risiken ein und gibt sich Chancen zu Innovation. Man weiss heute mit einiger Sicherheit, dass dies bevorzugt oder fast ausschliesslich in relativ abgeschlossenen ökologischen Nischen geschehen muss. Natürlich entstehen Abarten laufend im normalen Lebensbereich einer Art; aber unter dem Konkurrenzdruck der dort bewährten Art haben sie kaum Überlebenschancen. Unter geringerem Konkurrenzdruck können sie sich jedoch stabilisieren und gegebenenfalls etwas später ihre Ursprungsart aus dem Felde drängen. MaW, die "Natur" experimentiert hier, nicht im Labor, sondern in einer Nische; und das Resultat ist nicht eine Modellwelt an der die Realwelt Mass nimmt, sondern es wird, im Erfolgsfall, zur Realwelt selbst.

Es scheint, dass wir im kulturellen Feld, das heisst jener Daseinsformen, die unter zusammenlebenden Menschen gebildet und tradiert werden, solche Mechanismen der Innovation, solches Experimentieren in vivo kennen. Beispiel: das Modell der Marktwirtschaft. Und während einige sich um geschützte Nischen bemühen, drängen andere auf deren Vermeidung oder Abschaffung, weil sie in ihrer Meinung zu wenig innovativ sind. Aber ich will nicht das bioevolutive Geschehen zum Modell für kulturelle Evolution nehmen, sondern nur als Denkhintergrund, weil wir es beträchtlich besser verstehen als die Entwicklung von Gesellschaften. Es kann uns als Heuristik dienen.

Vielmehr will ich Ihnen nun zwei "Experimente" aus dem Wohnbereich schildern. Zwei eher problematische, dafür wirkliche Experimente. Sie sollen zeigen, dass wir mit der Idee des Experimentieren in vivo in unserer Kultur vermutlich doch eher seltsam umgehen. Urteilen Sie selbst.

 

Ein verzerrtes und ein blindes Experiment

ein verzerrtes "Experiment": "Karthago", ein Abkömmling von Bolo-Bolo

Der Zürcher Gemeinderat, also das Stadtparlament, hat letzte Woche und vorausgehend eine heftige Auseinandersetzung "die Geister geschieden", "ein Testfall", wie die NZZ ihren ausführlichen Lokalteil-Leitartikel titelte, der sogar den 10-Millionen-Postraub vom Ehrenplatz verdrängte. Es handelt sich auch, aber durchaus nicht nur, um einen Teil des Wahlkampfes zwischen bürgerlich und rot-grün, da der Fall schon letztes Jahr und früher Schlagzeilen produzierte.

"Karthago", so nennt sich eine Gruppe entfernter Abkömmlinge der Jugendbewegung von 1980, als unter anderem am Stauffacher unbelegte Häuser besetzt und neben einigen gewaltsamen realen Begegnungen mit der Obrigkeit auch Projekte für eine menschlichere Gesellschaft geträumt worden sind. Rund 20 Personen, die inzwischen in die Jahre gekommen sind, haben vor einigen Jahren eine Genossenschaft gegründet und planen seither die Errichtung einer Wohngemeinschaft im Sinne eines Grosshaushaltes für rund 40 Personen. Mit ihrem Projekt wollen sie der Vereinzelung der Menschen entgegenwirken und, durchaus im Sinne eines eingangs beschriebenen Realexperiments Lebensformen, die andern im Sinne von Vorbild oder Antivorbild zugute kommen können.

Mit ihrer Realutopie haben sie es nicht leicht. Einerseits geniessen sie eine gewisse Unterstützung der Stadtbehörden, welche sie beraten und ihnen ein Grundstück in einer Vorstadt im Baurecht angeboten und die Durchführung eines Architekturwettbewerbs organisiert haben. Aber genau das hat vielleicht den politischen Widerstand gestärkt. Unter allerlei unschönen Begleiterscheinungen werden die "Karthager" mit der Hausbesetzer- und Drogenszene in Verbindung gebracht. Und ob die grosszügig bemessenen Gemeinschaftsräume nicht vielleicht für für im Quartier unerwünschte Veranstaltungen benützt werden könnten. Ein eilends ausgearbeitetes Gegenprojekt nach dem Fam iliensiedlungsmuster von rechter Seite ist dann freilich im Parlament nicht zu Zuge gekommen.

Die "Karthago"-Gruppe hat also in gewisser Hinsicht die Chance ihre alt-neuen Ideen menschlicher Formen des Zusammenlebens in einer kleinen Wirklichkeit auf die Probe zu stellen. Freilich ist es ein Experiment unter beträchtlich eingeschränkten, wenn nicht verzerrten Bedingungen. Es wird schwer sein, für Beobachter, zu entscheiden, ob eine bestimmte Leistung oder Dysfunktion später im Alltag des Projekt seine ihm gemässen Rahmenbedingungen gefunden haben wird, oder ob es unter alle den Kompromissen sich selbst längst widerlegen musste.

Es erfüllt mich schon mit seltsamen Gefühlen der Unverhältnismässigkeit, wenn ich bedenke, wie leicht unser angeblich doch so schwerfälliges politisches System bereit ist, durch einen Gesetzesbeschluss die Lebensvoraussetzungen von 7 Millionen Menschen manchmal sehr massiv zu beeinflussen und sich den selbstbezahlten Bemühungen von 40 Freiwilligen so massiv zu widersetzen versucht.

 

ein "blindes" "Experiment": Alleinwohnen, die jungen wollen es so

Das ist umso bedenklicher, als wir gleichzeit in grandiosem Masstab "experimentieren" freilich blind, indem wir unserere Lebensformen ändern, mit massiven Folgen, und so tun, wie wenn das wie ein Erdbeden über unsere Machtlosigkeit hereinbräche. Bestenfalls erfassen wir das Phänomen statistisch und starren wie gebannt auf deren Gang.

Vom Einzelfall "Karthago" wenden wir den Blick auf Entwicklungen der Lebensformen in unserer Gesellschaft insgesamt. Folie Haushaltgrösse 1900-1990. Von 1900 bis nach dem 2. Weltkrieg zählten zwei Drittel der privaten Haushalte drei oder mehr Personen und nur ein Drittel zwei oder eine, überwiegend ältere Menschen. Heute ist die Situation genau umgekehrt: nur ein Drittel der Haushalte zählt drei oder mehr Personen und je ein Drittel sind etweder Ein- oder Zweipersonenhaushalte. Wie Sie der Grafik entnehmen können, haben die sehr grossen Wophngruppen oder Familien verhältnismässig kontinuierlich abgenommen, die Zunahme der Ein- und Zweipersonenhaushalte aber eigentlich erst in den 60er und 70er Jahren. Der Trend hat sich seit 1980 relativ abgeflacht, absolut aber geht er weiter. Den sogenannten Normalhaushalt, Eltern mit Kind oder Kindern, gibt es gerade auch noch zu einem guten Drittel aller Haushalte.

Das Bild wäre noch dahin zu ergänzen, dass sie die durchschnittliche Netto-Wohnfläche pro Person seit 1950 von rund 25 auf rund 50 qm verdoppelt hat. Natürlich ist sie verhältnismässig ungleich verteilt.

Ich habe Grund anzunehmen, dass ich mit solchen Statistiken Ihre Gemüter in zwei Gruppen dividiere.

Die einen werden sich sagen: so what? That's the ways it is. Wir sind jung und unabhängig; warum sollen wir uns selbst in die Zwangskisten der Familien verurteilen; und bitte, wir können und wollen es uns leisten. Es ist unsere freie Entscheidung.

Die andern werden mehr oder weniger sorgenvoll Bedenken hin- und herwiegen und vielleicht etwas von traditionellen Familienwerten murmeln. Sie werden an den unsinnigen Resourcenverschleiss denken, der nicht nur hektische Arbeit geschafft, sondern auch die Städte chaotisch und das Land zur Vorstadt gemacht hat. Zu schweigen von der Isolierung der Individuen, der Vorstufe zu ihrer Vereinsamung.

Wir sind nicht vereinsamt, sagen die jungen Alleinwohnenden. Nicht ohne Recht. Zwar fehlen die entsprechenden demographischen Daten. Die ersten Einzelbefunde, die wir sammeln konnten, legen die Vermutung nahe, dass Alleinwohnende nicht selten einen Teil ihrer Wohnzeit in den Wohnungen anderer Alleinwohnenden verbringen.

Wozu denn das Alleinwohnen, werden die Konservativen fragen. Das macht ja den Ressourcenverschleiss nur noch absurder.

Aber es geht mir nicht um das Gegeneinanderausspielen von Bewertungen. Vielmehr interessiert mich, an diesen Beispielen zu bedenken, ob und wie unsere Gesellschaft real experimentieren kann und will. Und ob auch die Voraussetzungen zum Experimentieren bestehen, nämlich eine einigermassen umfassende Kenntnis der Sachlage einerseits und und eine neugierige Beobachtungshaltung anderseits, welche bereit ist, dem Experiment seinen Nischenraum zuzugestehen und die Resultate frei zu würdigen und nicht nach Interessenlage auf die eine oder andere Weise vorwegzunehmen.

Die Zeit erlaubt nicht, die Voraussetzungen und möglichen Konsequenzen dieses epochalen Vorgangs hier zu erörtern. Ich denke aber, er hat und wird tiefer in unser Leben und in das der kommenden Generationen eingreifen als hunderte von Erscheinungen, denen wir umfangreiche Medienaktionen und aufwendige Forschungsprogramme widmen.

 

Bauen und Wohnen im psychosozialen System -- drei Thesen

Lassen Sie m ich vielmehr in drei Thesen etwas von dem zusammenfassen, was unser Verständnis des Wohnens charakterisiert, seit wir uns gesagt haben, es muss gründlichere Gründe dafür geben, dass Menschen auf der ganzen Welt bauen und wohnen, und dies in sehr unterschiedlichen Formen.

1. Wir sollten Wohneinheiten und Wohnanlagen nicht länger nur als Instrumente zur Befriedigung von sog. Grundbedürfnissen von Individuen auffassen, sondern vielmehr sehen und nutzen lernen, in welcher Weise Gebautes und Gestaltetes im Raum analog zum Skelett die eigentliche Grundstruktur des sozialen Körpers ist.

Die gängige Vorstellung ist, dass uns Bauten und Wohnungen dienen, und zwar rein funktionell, allenfalls ästhetisch. Sie schützen uns vor schlechtem Wetter, versammeln unserene Besitz, und zeigen allenfalls, wer wir sind oder sein möchten.

Leider haben sich wissenschaftliche Zugänge zum Wohnen, sofern sie überhaupt den Bereich der Wohnung als funktionsfähige technische Einrichtung und als Investitionsobjekt überstiegen haben, diese Auffassung zu eigen gemacht. Wenn Soziologen oder Psychologen sich um Wohnen kümmern, fragen sie die Bewohner, ob sie mit der Wohnung zufrieden sind oder was sie gerne hätten.

Es ist kaum zur Kenntnis genommen worden, dass die Instrumentalisierung der Wohnungen zur Befriedigung von Grundbedürfnissen nicht nur widersprüchlich -- wenn die Wohnung zugleich die Grundbedürfnisse nach Geselligkeit und nach Rückzug auf sich selbst erfüllen soll -- sondern vor allem auch zirkulär ist. Denn es kann ja wohl nicht um biologische Grundbedürfnisse gehen wie Hunger und Durst, die man unabhängig von ihren Verhaltensmanifestationen zB physiologisch dingfestmachen kann. Vielmehr müssen es abgeleitete, sog. Sekundärbedürfnisse sei, die aber -- wie im prinzipö jede Sucht -- auf Grund von Gewohnheitsbildung zustande kommen. Damit erklärt man alles und nichts. Und wenn es, wie unser Verhalten zeigt, ein Bedürfnis nach immer mehr Wohnfläche wirklich geben sollte, dann werden halt die Wohnungen immer grösser solange bis die ganze Erdoberfläche überbaut ist oder es sonst nicht mehr weitergeht.

Der positive Aspekte der These führt tief in anthropologische Fragen. -->Diskussion

2. Demnach bauen und wohnen wir nicht (oder jedenfalls nicht in erster Linie), weil es uns das Leben angenehmer und sicherer macht (es macht es ja wohl auch komplizierter und gefährdeter); vielmehr könnten wir mit unserer flexibilisierten Instinktausstattung wohl kaum ohne diese kulturelle Zeichensysteme im Verband zusammenleben. Von diesen sind Raumstrukturierung und Herstellung, Auswahl und Umgang mit Dingen im zwischen-menschlichen Geschehen das Grundlegende; die Sprache und andere spezialisiertere Symbolsysteme setzen es voraus, verfeinern es und stören aber nicht selten auch sein Wirken, indem sie es in einschränkenden Hinsichten umdeuten.

3. Mit den in unseren Gesellschaften oder Kulturen "gewohnten" Raumstrukturen, mit den "vertrauten" Rollen der Dinge als Angebote und Aufforderungen zu erwartungserfüllenden oder -versagenden Handlungen, mit dem in solchen Gewohnheitensystemen ebenfalls angelegten Freiraum zu Alternativen und Entwicklungen gehen wir wohl heutzutage wenig förderlich für die Qualität des Zusammenlebens um. Durch ihre weitgehende Funktionalisierung, Ökonomisierung und gelegentliche Ästhetisierung haben wir sie vielmehr zu äusserst effektiven Herrschaftsmitteln verkommen lassen, welche das soziale Interaktionsgeschehen höchst einseitig bestimmen.

Top of Page