Alfred Lang

University of Bern, Switzerland

Newspaper Contribution 1990

Schulmodell 6/3: Analyse einer Abstimmungsvorlage

1990.11

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Vorlage und Abdruck eines Artikels für Berner Zeitung

[stark gekürzt in der Berner Zeitung Nr.18 vom 23.1.1990 S. 28]

© 1998 by Alfred Lang

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Die Diskussion um das Schullmodell 6/3 ist ein Streit um des Teufels Bart. Artikel und Leserbriefe in ihrer Widersprüchlichkeit zeigen vor allem, dass niemand weiss, was eigentlich den Unterschied ausmacht. Es werden ebenso hochgestochene Heilshoffnungen in die zwei verlagerten Schuljahre gesteckt wie Weltuntergangsbefürchtungen daran geknüpft. Als ein von den Kantonsbehörden gewählter Sachverständiger für menschliche Entwicklung im allgemeinen (so ein Teil meines Selbstverständnisses als Psychologieprofessor) bin ich durch Gesetz verpflichtet, meine einschlägigen Kenntnisse der Allgemeinheit zur Verfügung zu stellen, und ich habe also einige grundsätzliche Überlegungen, die in der Fachdiskussion kaum eine Rolle spielten, bekanntgemacht (vgl. Berner Schule 19 vom 28.9.89 und 25/26 vom 21.12.89). Vielleicht sollten wir, anstatt über zwei Schuljahre zu streiten, gründlicher darüber nachdenken, was wir denn mit der Schule eigentlich wollen.

Ich bin erklärtermassen kein Bildungsfachmann. So mag die Erziehungsdirektorin mit einem gewissen Recht meine Meinung öffentlich für irrelevant erklären. Eine andere Frage ist freilich, ob es klug ist, in einer Frage, welche die Allgemeinheit betrifft, die Sachverständigen in nützliche und störende einzuteilen, und ob zum Expertentum nicht auch Weitblick kommen sollte. Mit einer gewissen Neugier habe ich deshalb die Abstimmungsvorlage genauer gelesen und melde mich mit dem Ergebnis zum Wort.

 

Bildungspolitik?

Mich hat interessiert, welche Ziele mit der Reorganisation der Volksschule angestrebt und mit welchen Mitteln diese Ziele erreicht werden sollen. In der Vorlage finden sich pädagogische, regionalpolitische und koordinationspolitische Begründungen. In der Tat herrscht weltweit die fünf- oder sechsjährige Grundschule vor, und zwei zusätzliche Klassen werten vielleicht da und dort die Dorfschule auf. Anderseits dürfte wohl niemand allein mit regional- und koordinationspolitischen Argumenten eine Reorganisation rechtfertigen wollen, sofern nicht auch (a) bildungspolitische Zielsetzungen dafür sprechen, (b) pädagogische Mittel zu ihrer Realisierung aufgezeigt werden können und sofern nicht (c) beides in Einklang mit den psychologischen Tatsachen der menschlichen Entwicklung steht. Bislang war ja Gleichmacherei im Schulwesen zwischen den Kantonen kein hoher Wert, und die ganze Schweiz lehnt das international dominierende Einschulungsalter "Sechs" fast einhellig ab. Sollten aber die bildungspolitischen Ziele demokratisch konsensfähig sein, so dürften wir uns ein neues Schulmodell wohl auch etwas kosten lassen.

Der Gesetzestext sieht als einzigesZiel vor, "während des fünften und sechsten Schuljahres ... die Eignung des Schülers für die weitere Schulung durch besondere Massnahmen abzuklären". Dem Parlament ist es offenbar nicht nur nicht gelungen, auch über die Schülerinnen eine Aussage zu machen; sondern es hat auch darauf verzichtet, den Gedanken der Förderung der Eignungen von Kindern in Entwicklung in Betracht zu ziehen. Die Leser des Gesetzestextes könnten den vermutlich unbeabsichtigten Eindruck bekommen, man gehe davon aus, dass jemand eine Eignung ein für allemal habe oder nicht, und dies dann bloss noch in einem etwas ausgedehnteren als dem heutigen Verfahren festgestellt werden müsse? Alles andere am Gesetzestext ist rein administrativ. Ich bin enttäuscht; denn eine bildungspolitische Zielsetzung kann man das sicher nicht nennen. Der übrige Gesetzestext stammt aus dem Jahr 1951. In den 40 Jahren seither hat sich die Welt recht sehr verändert.

 

"Pädagogischen Gründe"

Im Kommentar zur Abstimmungsvorlage sind dann "pädagogische Gründe" angeführt. Die ursprünglichen Initianten wollten durch das Hinausschieben des Übertrittszeitpunkts "dem Kind gerecht(er)" werden und ermöglichen, dass "die besonderen Neigungen, Fähigkeiten und Verhaltensweisen der Kinder besser erkannt und gefördert werden können" (S. 4). Die für die Vorlage verantwortliche Regierung möchte "die Zeit kindgerechten Lernens ohne Selektionsdruck" verlängern und offenbar mittels "gemeinsamer Erziehung und Bildung aller Kinder, gleich welcher Herkunft und welcher Zukunft" ... die "übertriebene Konkurrenz unter den Kindern" vermindern und "so die Zusammenarbeit, Solidarität und Kameradschaft" fördern (S. 5). Auch soll die Auslese zur weiterführenden Schule verlässlicher und gerechter werden. Denn die Schüler und Schülerinnen seien nach sechs Klassen "reifer und urteilsfähiger", hätten mehr Zeit zur "Ausbildung und Förderung ihres Abstraktionsvermögens" und anderer Fähigkeiten gehabt und könnten sich länger bewähren, könnten im Hinblick auf die "Prognose für die weitere schulische Laufbahn" länger beobachtet werden. "Die Intelligenz der Kinder entwickelt sich im Alter von zehn bis zwölf Jahren stark, so dass eine Selektion vor dem 6. Schuljahr nicht sinnvoll ist" (Zitate von S. 6 und 7).

Da ist wiederum nichts Bildungspolitisches drin und schon gar nichts Innovatives. Ich kann doch davon ausgehen, dass die Schule schon bisher einigermassen "kindgerecht" war und den Schülern ohne Rücksicht auf Herkunft die ihnen angemessenen Bildungschancen angeboten und dabei auch Zusammenarbeit etc. gepflegt und gerecht für die weiterbildenden Schulen ausgelesen hat. Nichts gegen bessere Pädagogik; aber sollte man nicht die Mittel von den Zielen unterscheiden, wenn man etwas ändern will? Also sagen, wo man hin will, und dann in jenen Zug einsteigen, der eine gute Chance bietet, dorthin zu fahren.

 

Tatsachen der Entwicklung

Obwohl Gründe mit den Zielen nicht notwendig verbunden sind, möchte ich nun prüfen, ob die gegebenen Begründungen der pädagogischen Ziele die heute bekannten Tatsachen über Entwicklung berücksichtigen. Ich kann nur einzelne Punkte herausgreifen. Die Intelligenz (und übrigens auch andere Kompetenzen!) der Kinder entwickelt sich natürlich auch vor 10 und nach 12 Jahren "stark" und kommt sicher nicht mit 12 zu einem Abschluss, welcher eine Selektion für die künftige Laufbahn besser rechtfertigen könnte als mit 10 Jahren. Mit der gleichen Begründungslogik könnte man den Übertrittszeitpunkt ebensogut zwei oder drei weitere Jahre hinausschieben, um dann auch wieder feststellen zu müssen, dass manche Kinder für definitive Entscheidungen über ihren Lebensweg noch immer nicht reif sind.

Die zur Begründung angeführten Erläuterungen enthüllen und verschweigen übrigens manch Interessantes: Ist es also entgegen der sonst immer wieder ins Feld geführten "gleichmässigen Förderung von Selbst-, Sozial- und Sachkompetenz" (allg. Leitideen des Lehrplans für die Primar- und Sekundarschulen) doch vor allem die Intelligenz, die zählt? Ist nicht die Akzeleration der Entwicklung eine unbestrittene Tatsache, welche unter Umständen sogar nahelegen könnte, Schulung und Selektion eher früher als bisher üblich in die Wege zu leiten, fordern müsste, diese Möglichkeit mindestens gründlich zu prüfen? Haben denn die Väter der Berner Volkschule vor dieser Akzeleration, als die umweltlichen Anregungsbedingungen für Entwicklung noch nicht entfernt so reichhaltig waren wie die heutigen, so völlig verkehrt entschieden? Denkt man vielleicht daran, in der Schule einen geschützten Raum für Kinder zu schaffen, welcher der überreichen und im Alltag unvermeidbar auf die Kinder eindringenden Stimulation und Überforderung eine Abwehrbarriere entgegenhalten soll? Kindliche Entwicklung wird doch in Auseinandersetzung mit Realität fortwährend verwirklicht. Was für einen Entwicklungsbegriff verwenden eigentlich die Planer dieser Modellreform? Ist Entwicklung nicht etwas, was beim einen Kind in seinen besonderen Lebensumständen oft ziemlich anders verlaufen kann als beim andern? Und verläuft sie nicht sogar bei jedem einzelnen Kind ähnlich wie das Körperwachstum erstaunlich schubweise, manchmal stagnierend und dann wieder im Schuss aufholend oder im Vergleich mit den anderen vorauseilend, sei es aufgrund von problematischen oder begünstigenden Lebensumständen, sei es aus inneren, teilweise unbekannten Ursachen?

 

Pädagogische Ziele

Nun möchte ich aus dem Vorlagekommentar die pädagogischen Mittel und Ziele herauszuschälen. Ich kann vier unterschiedliche Ziele erkennen, die ich nachstehend nenne und kommentiere:

(1) Dem "Kind gerecht werden" kann wohl nicht als Ziel gelten, wenn nicht angegeben wird, was denn "kindgerecht" eigentlich sei. Ich habe Erläuterungen dazu vergeblich gesucht. Appelliert hier der staatliche Kommentator an die mütterlichen und väterlichen (Über-)Protektionsgefühle der Stimmbürger? Ich bin sehr froh darüber, dass die Vorlage nicht mehr dem für die 70er Jahre typischen Wahn der Machbarkeit des Menschen durch Bildung verfallen ist; dennoch brauchen Kinder mehr als ein geschütztes Vakuum. Und soll denn Schule wirklich nur dem Kind gerecht werden? Soll sie nicht vielmehr einen Beitrag dazu leisten, dass aus dem Kind ein lebenstauglicher und gesellschaftsfähiger erwachsener Mensch wird? Sollte sie also nicht sowohl dem Kind als auch der Gesellschaft, von der es ein Teil ist und wird, gerecht werden?

(2) Man kann die Formel von der "Kindgerechtigkeit" auch im Sinne der Angemessenheit an das Individuum verstehen. Das wird bei den pädagogischen Gründen zwar merkwürdigerweise überhaupt nicht ausdrücklich erwähnt, ist aber offenbar das zentrale Anliegen der "besonderen Massnahmen" (S. 9). Der Punkt verdiente eine besonders ausführliche Reflexion, von welcher, falls sie in den Planungsgremien oder im Parlament stattgefunden haben sollte, in der Vorlage nichts zu spüren ist. Ich muss mich hier auf die Frage beschränken, ob wir wirklich jetzt eine Schulreform in die Wege leiten wollen, welche die Individualisierung unserer Gesellschaft ausdrücklich noch weiter fördert? Die prinzipielle Anerkennung der Einmaligkeit, der Würde, der relativen Eigenständigkeit und der vergleichbaren Startchancen jedes einzelnen Individuums ist zweifellos eine der grossen Errungenschaften der abendländischen Zivilisation. In den letzten zwei bis drei Jahrzehnten ist aber erkennbar geworden, dass der tatsächliche Vollzug der Einmaligkeit jedes Individuums (sprich: die uneingeschränkte "Selbstverwirklichung") unter den Voraussetzungen der Industriegesellschaft zur Zerstörung der Lebensgrundlagen aller zu führen droht. Schule war zweifellos nicht zur Förderung der Individualisierung, sondern zur Stärkung des sozialen Verbands erfunden worden. Erreicht man das dadurch, dass man Kinder, die längst unterschiedliche Interessen, Kompetenzen und Mitteilungsweisen entwickelt haben, zwangsweise zwei Jahre länger zusammensperrt und dort individualisiert unterrichtet? Der 6/3-Modellvorschlag, wie er als kindgerechte Individualisierungsförderung begründet wird, ist seinen Mitteln nach ein recht problematischer Sozialisierungsversuch. Eine Entscheidung von so grundsätzlicher Tragweite sollte aber in einer Demokratie als bildungspolitische Zielsetzung klargestellt und nicht in einer Schulorganisationsfrage verpackt und versteckt werden.

(3) In welchem Verhältnis dazu steht das dritte Ziel, eine verlässlichere und gerechtere Auslese? Hier sind wir näher am Gesetzestext. Was heisst verlässlich? -- Endgültig, nicht mehr der Korrektur bedürftig? Aber das kann doch im Ernst nicht ein Ziel sein für eine offene Gesellschaft, welche die Einmaligkeit jeden Individuums über fast alles andere zu stellen gewillt ist und mit der gleichen Vorlage seiner Individualität gerechter werden will. Sortiert man denn Kinder nach ihrer schulischen Bewertung wie Kartoffeln nach ihrer Grösse, wenn sie ausgewachsen sind? Sind denn Menschen nicht Wesen in ständiger, lebenslanger Entwicklung, die aus einem je eigenen Keim in einer gegebenen sozialen und kulturellen Umwelt fortwährend ihre eigene Gestalt finden wollen müssen? Dann darf man doch in allen heiklen Phasen -- und dazu muss man wohl unter anderem die Pubertät zählen -- nicht einmalige Verzweigungs-Entscheidungen treffen! Eher angezeigt scheint dann ein Angebot eines relativ klaren Gefüges von verschiedenen Wegen zu verschiedenen Zielen, wobei man Wege, ohne schon das Ziel zu kennen, ausprobierend gehen und bei Erfahrung von akuter Überforderung oder Unterforderung, bei Einsicht von unpassender Richtung, ganz selbstverständlich ein oder zwei Mal mit angemesseneren vertauschen, aus gegebenen Anlass auch mal eine Schlaufe wiederholen oder eine Wegstrecke voraushüpfen kann. Wir haben doch in den letzten Jahrzehnten eine Arbeitswelt herausgebildet, in der kein Mensch mehr mit einer einmaligen und definitiven Berufsausbildung existieren kann. Und gerade jetzt sollen wir die Schule so reorganisieren, dass Selektionsentscheidungen "verlässlicher und gerechter", das heisst einmaliger und definitiver werden.

Mir kommt das Projekt je länger je merkwürdiger vor. Oder ist vielleicht alles harmlos, weil Begründungen mit der Wirklichkeit von Schule meist wenig zu tun haben. Schule ist eine komplexe Sache und verträgt einige Widersprüche. Doch das Misstrauen des denkenden Bürgers ist geweckt: Die Vorlage scheint unklare oder einseitige Ziele zu verfolgen ("Kindgerechtigkeit"); und dort, wo Ziele fassbarer sind (Individualisierung und Ausleseverbesserung), sind sie sachlich und politisch fragwürdig und stehen untereinander im Gegensatz.

(4) Man wird nicht vergessen haben, es sei auch ein statuiertes Ziel der Vorlage, das "übersteigerte Konkurrenzdenken" abzubauen und mehr "Zusammenarbeit, Solidarität und Kameradschaft" zu fördern (S. 5). Dagegen ist nichts einzuwenden. Weil das alles aber nicht von selbst kommt, so weit es nicht schon bisher der Fall ist, interessiert hier ganz besonders, wie sich die Planer die Verwirklichung dieses Ziels vorstellen. Das führt mich zur Diskussion der in Aussicht genommenen neuen Mittel oder Massnahmen. Sie sind in der Abstimmungsvorlage nicht übersichtlich dargestellt, und ich musste Details anhand des Dekretsentwurfs des Regierungsrates vom 21.6.89 und des zugehörigen Vortrags der Erziehungsdirektion ergänzen.

 

Mittel oder Massnahmen

(a) Das um 2 Jahre verlängerte Zusammenbleiben der Grundschulklassen, wobei der Lehrplan der bisherigen Primarschule (Dekretsentwurf), möglicherweise unter Ergänzung mit mehr Fremdsprachenunterricht (Vortrag), gelten soll. Warum eigentlich verschweigt uns das die Abstimmungsvorlage?

(b) Intensivierte "Beobachtung und Förderung" im Hinblick auf die "weitere Schulung des Kindes in Zusammenarbeit mit den Eltern" (Dekretsentwurf; der Begriff der "Beobachtung" wird infolge grossrätlicher Sprachregelung in der Vorlage unter den "besonderen Massnahmen" vermieden).

(c) "Massnahmen der inneren Differenzierung". Diese werden in der Vorlage auf S. 9 näher erläutert. Im wesentlichen geht es darum, dass die Lehrkraft "das Schülerverhalten differenziert betrachtet und den Lernprozess der Schülerinnen und Schüler individuell gestaltet", beispielsweise durch "Stellen von Aufgaben, die sowohl einfachere als auch anspruchsvollere Bearbeitungen und Lösungen zulassen", durch selbständiges Weiterarbeitenlassen u.ä.

(d) Abteilungsweiser Unterricht, wobei entweder "für die spezifische Betreuung von Kindern mit Lernschwierigkeiten" oder für "die Förderung von Kindern mittlerer Begabung" oder für die Förderung "von besonders begabten Kindern" eine zusätzliche Lehrkraft beigezogen werden kann (aus dem Kommentar der Erziehungsdirektion zum Dekretsentwurf).

Auch die vier Massnahmen mischen Selbstverständliches mit Widersinnigem. Die Schule kennt traditionell mehrere Weisen der Anpassung an die individuellen Voraussetzungen und Erfordernisse der Schüler bzw. Formen der im schon erwähnten Lehrplan so genannten "Individualiserung des Unterrichts". Die allgemeinen Leitideen des Lehrplanes zählen auf: die klasseninterne oder die klassenübergreifende Differenzierung, das Führen verschiedener Schultypen, der abteilungsweise Unterricht und die Wahlfächer. Ist es nicht ein wenig paradox, dass mit dem Modell 6/3 eine dieser fünf Möglichkeiten, nämlich die Differenzierung zwischen Primar- und Sekundarschule, in ihrer Wirkung vermindert, gleichzeitig aber zwei andere Mittel für das gleiche Ziel, nämlich die klasseninterne Differenzierung und der abteilungsweise Unterricht, ausgebaut und verstärkt eingesetzt werden sollen? Das wäre nur dann sinnvoll, wenn die neu bevorzugten Mittel den alten überlegen wären. Darf man das erwarten und gibt es dafür Belege? Weder die Vorlage noch der Vortrag zum Dekretsentwurf äussern sich dazu; wir müssen die Massnahmenvorschläge selbst bewerten.

 

Individualisierungs-Massnahmen

Innere Differenzierung sei nichts Neues, behauptet die Abstimmungsvorlage (S. 9). In der Tat, man erwartet, dass Lehrkräfte im Rahmen des normalen Unterrichts ihre Schüler als individuelle Personen kennen und, soweit die klassenbezogenen Lernziele darunter nicht leiden, auf ihre je besonderen Voraussetzungen und Erfordernisse eingehen können. Doch denkt man, dass dies vom ersten bis zum letzten Schultag grundsätzlich der Fall sei oder sein sollte. Etwas anderes ist der organisierte Einsatz dieses Mittels in den fünften und sechsten Klassen. Warum nur in dieser Phase? Und ist denn, wenn sie vom Lehrer als besondere Beobachtungs- und Förderungsmassnahme verlangt wird, über die pädagogische Wirklichkeit der klasseninterner Differenzierung genügend bekannt? Kann man sich über ihre zu erwartenden Wirkungen ein angemessenes Bild machen? Man spricht sonst von Etikettenschwindel, wenn ein altes Produkt in neuer Verpackung zu einem höheren Preis verkauft wird, von dem sich dann herausstellt, dass er neu angepriesene Wirkstoff immer schon ein Bestandteil des Produkt gewesen ist.

Abteilungsweiser Unterricht ist mit zusätzlichen Kosten von rund 10 Millionenen Franken pro Jahr verbunden (Vortrag zum Dekretsentwurf). Auch darüber äusserst sich die Abstimmungsvorlage nur indirekt in einem Hinweis auf rund 100 neu benötigte Lehrerstellen. Ein bis drei mal pro Woche würde also gemäss dieser Massnahme ein Teil der Klassen in Sonderunterricht gehen, während der Rest der Klasse mit dem Klassenlehrer im Normalprogramm weiterginge. Auch dies ist nicht neu, wenn man etwa an konfessionsgetrennten Religionsunterricht oder Deutschunterricht für Fremdsprachige denkt. Neu wäre aber das Motiv der Klassenteilung. Gemäss Dekretsentwurf könnten zum Beispiel Abteilungen mit Lernbehinderten oder mit Hochbegabten gebildet werden. Wollte man nicht mit dem Zusammenbehalten der Grundschulklasse eine Art heile Welt schaffen, in der Schülerbewertung, Vergleichsdenken, Konkurrenzdruck vermindert oder aufgeschoben werden, damit Solidarität und Kameradschaft besser gepflegt werden können? Aber was mit dem Übertritt zwischen Schultypen in der Regel ein einmaliger Vorgang ist, in einigen Fällen schmerzhaft, aber nach einiger Zeit verkraftbar und (hoffentlich!) nach Fehlentscheidungen korrigierbar, soll jetzt jede Woche mehrmals in der Klasse vordemonstriert werden: je nach der Abteilungsbildung werden nun wiederholt einige Schüler als die Ausgezeichneten oder einige als die Nachhilfebedürftigen markiert und mit einer Sonderbehandlung belohnt oder bestraft. Wird der Konkurrenzdruck nicht noch verstärkt, weil die Einteilung jede Woche durchexerziert werden muss? Wo bleibt der Raum und der Anreiz für mehr Solidarität? Was kann oder muss eine Schülerin tun, um in die ausgezeichnete Gruppe hineinzugelangen, was ein Schüler um der Nachholabteilung zu entkommen? Sind die Schülerinnen und Schüler nicht noch stärker als bei einem wiederholbaren und von einem Lehrerkollegium zu verantwortenden Selektionsverfahren dem Risiko von Lehrerwillkür ausgesetzt? Ich kann mir schwer vorstellen, dass pädagogisch gewissenhafte Lehrer von dieser Massnahme mehr als sporadisch Gebrauch machen, wenn sie deren Folgen auf die Kinder beobachtet haben werden.

 

Eine abstimmungsreife Vorlage?

Ich möchte festhalten, dass ich hier nicht etwa eine Gegenposition zur Abstimmungsvorlage vertreten habe und auch bloss bezüglich des in der Vorlage impliziten Entwicklungsbegriffs meinen wissenschaftlichen Sachverstand beiziehen musste. Ich möchte keinesfalls den Eindruck erwecken, hier hätte ein Fachmann aufgezeigt, das Schulmodell 6/3 sei falsch oder irgendeine Alternative einschliesslich des Status quo oder eines flexibleren Typenwechsel-Verfahrens wäre wissenschaftlich begründbar besser oder richtiger. Die meisten denken, es komme entscheidend darauf an, was in diesen beiden Schuljahren gemacht werde. Lehrer und Eltern müssen so denken, da sie einen Auftrag haben. Aber auch diese These, von Extremen einmal abgesehen, ist nicht bewiesen und nicht beweisbar, ohne dass man sagt, was man am Schluss erreichen will. Schulorganisation ist ein Mittel; Mittel kann man nur im Hinblick auf Ziele bewerten. Meine bildungspolitische Überzeugung möchte ich deshalb hier nicht verbergen. Schule ist für mich in erstere Linie ein Mittel zur gesellschaftlichen Einbindung der Individuen; ein moderner demokratischer Staat mit einer sozialen Marktwirtschaft in einer offenen Gesellschaft ist auf eine Förderung der individuellen Entwicklungen im Hinblick differenzierte gesellschaftliche Strukturen, und damit unter anderem auch auf rechtzeitige Heranbildung kontrollierbarer Eliten, angewiesen.

Hier wollte ich aber nur die Vorlage, wie sie in Gesetzestext, Abstimmungsheftchen und Dekretsentwurf bekanntgeworden ist, analysieren und zeigen, dass die Planer der Reorganisation, analog den Hoffnungen und Befürchtungen der Leserbriefschreiber, nicht gerade klar wissen, was sie eigentlich wollen. Natürlich muss die Vorlage annehmen, wer gesamtschweizerische Koordination für wichtig hält. Eine geneigte Leserschaft wird mir aber vielleicht zustimmen, wenn ich diese Abstimmungsvorlage nicht für ein durchführungsreifes Reorganisationsprojekt halten kann. Sogar wenn man meine Meinung nicht teilt, sie sei ein Reformschritt in die falsche Richtung, ist die Annahme dieser Vorlage durch das Volk eher unklug. Nach ihrer Ablehnung sollten wir über eine Schule nachdenken, welche den Tatsachen der menschlichen Entwicklung besser Rechnung trägt und vor allem ihre Bildungsziele offen zur politischen Diskussion stellt. Mit ihrer Annahme würde einmal mehr betreffend Schule eine Scheinlösung an den wirklichen Aufgaben vorbei dekretiert werden. Diese Organisationsreform löst keine Probleme, verschiebt einige von ihnen und schafft aller Voraussicht nach eine ganze Reihe von neuen.

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