Alfred Lang

University of Bern, Switzerland

Bulletin Contribution 1989

Antwort auf Umfrage über Individualisieren im Unterricht

1989.11

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"Schulpraxis" (Bern) Nr 4 vom 21.12.89

© 1998 by Alfred Lang

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Halten Sie die allgemeine Lehrplan-Zielsetzung von "gleichmässiger Förderung der Selbst-, Sozial- und Sachkompetenz" für gerechtfertigt oder nicht wünschenswert?

Ich halte diese Zielsetzung in dreierlei Hinsicht für problematisch. Erstens zeugt die Formulierung der Zielsetzung in den "allgemeinen Leitideen" von einem ungebremst individualisierendenAnthropozentrismus, der doch vielleicht eher für die Epoche charakteristisch ist, die wir hoffentlich bald hinter uns gebracht haben, als für eine wünschbare Zukunft. Man müsste den Text der Leitideen im einzelnen analysieren; aber der Eindruck drängt sich auf, dass Sozial- und Sachkompetenz überwiegend im Interesse der Selbstverwirklichung des Einzelnen stehen. Zweitens kann ich die Befürchtung nicht unterdrücken, dass sich in dieser Zielsetzung ein vermessener Anspruch der Schule auf das ganze Leben der jungen Generation ausdrückt. Die Schule war doch schon früher total im Anspruch auf die Seele der Kinder. Mit der Aufklärung, so habe ich gemeint, hätten wir das überwunden. Bescheidenere, begrenztere Ziele wären realistischer und sympathischer. Sollte diese umfassende Zielsetzung der Schule wirklich dem Willen des Gesetzgebers entsprechen (was ich bezweifle), so müsste ich drittens eine massive Diskrepanz feststellen zwischen der hehren Zielsetzung und den schulorganisatorischen Realitäten. Beispielsweise empfände ich es (um es in der Kürze salopp zu sagen) als allzu exemplarisch, Sozialkompetenz in so speziell zusammengesetzten Gruppen wie der Jahrgangsklasse mit einer Lehrperson zu erwerben.

Individualisierung des Unterrichts durch klasseninterne oder klassenübergreifende Differenzierung sowie durch Führen verschiedener Schultypen, abteilungsweisen Unterricht und Angebot von Wahlfächern -- richtig oder ganz oder teilweise verfehlt?

Liegt hier nicht eine Begriffsverwirrung vor? Von den fünf genannten Massnahmen sind die letzten vier solche, die sich an jeweils eine Gruppe richten. Durch sie werden vermutlich (hoffentlich!) der angebotene Unterricht und die geforderten Leistungen jeweils angemessener für alle in einem Schultyp, in einer Klasse, Abteilung oder Gruppe versammelten Individuen; nichts ist freilich dadurch "individualisiert". Die erstgenannte Massnahme hingegen ist vieldeutig; alles hängt davon ab, wie "klasseninterne Differenzierung" durchgeführt wird. Natürlich sollen Lehrer in der Klasse ihre an individuelle Schüler gerichteten Interventionen aus intensiver Kenntnis dieser Individuen heraus bestimmt sein lassen; natürlich sollen sie für die Einzigartigkeit eines jeden der ihnen anvertrauten Kinder sensibel sein. Wenn aber die klasseninterne Differenzierung als Individualisierung zum Organisationsprinzip von Schule erhoben werden soll, dann halte ich dies -- unhöflich gesagt -- für einen pädagogischen Unsinn. Denn es ist nicht einzusehen, warum jeweils 24 Schüler dabei sein müssen, wenn die Lehrkraft den oder die 25. individuell unterrichtet; die 24 werden günstigenfalls interessiert, vielleicht belustigt, normalerweise aber gelangweilt zuhören oder vorbeisehen; wahrscheinlicher ist, dass ihre Gegenwart den pädagogischen Vorgang behindert. Schule in Klassen oder Gruppen ist doch eine soziale oder kollektive Unternehmung (was das heissen könnte, folgt in einem separaten Abschnitt); deshalb darf sie das Leben der Kinder, die sowohl Sozialwesen wie Individuen sind, nicht ausfüllen. Will die Schule wirklich organisiert individualisieren? Warum legt sie dann so grossen Wert auf das Führen von Jahrgangsklassen, und warum entwickelt sie eine zunehmende Ambivalenz bezüglich vergleichsorientierter Bewertungen? Warum sperrt sie dann 25 angeblich "gleiche" Kinder in einen Raum mit einem einzigen, durchgehend überlegen ausgestatteten Erwachsenen? Warum will sie dann dem Kind vorspiegeln, Bewertungen wären irrelevant, allenfalls motivierend zu verstehen, und bewertet es aber fortwährend? Ist Individualiserung ein dem schlechten Gewissen entspringender Verschlimmbesserungsversuch des tabubelegten Jahrgangsklassen-Einlehrerprinzips der Schulorganisation?

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