Alfred Lang | ||
Bulletin Contribution 1989 | ||
Schule als eine soziale (oder kollektive) Unternehmung | 1989.10 | |
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Berner Schule 26/26 vom 21.12.89 | © 1998 by Alfred Lang | |
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Hier und in meinem Beitrag zur Schulorganisationsreform in der "Berner Schule" (Nr. 19 vom 28.9.89) habe ich die Formel, Schule sei eine "soziale (oder kollektive) Unternehmung" verwendet, die einer Erläuterung bedarf. Auch die folgenden paar Sätze werden dem Sachverhalt nicht entfernt gerecht, aber vielleicht helfen sie Missverständnisse zu vermindern (sofern sie nicht neue stiften). Ich muss allerdings etwas breit und dennoch schultheoretisch "naiv" ausholen.
Obwohl wir nicht in der Lage sind, das Wesen des Menschen definitiv zu kennen, ist mit allen Kenntnissen gut vereinbar, dass er sowohl ein einmaliges, selbständiges Gebilde ist und zugleich eines, das ohne Zugehörigkeit zu einem grösseren Ganzen, seiner physischen und sozio-kulturellen Umwelt, nicht existieren könnte. M.a.W. er ist ein soziales Individuumoder individuelles Sozialwesen, und ein beträchtlicher Teil seines Tuns und Lassens, wenn nicht überhaupt alles, was Individuen und Gruppen vollbringen, bekommt dadurch Sinn, dass Menschen laufend diese beiden Pole ihrer Existenz in ein tragfähiges Gleichgewicht bringen müssen und dass jede Gruppe stets den Bedürfnissen und Zielen der Gruppe und zugleich denjenigen ihrer Mitglieder gerecht werden muss.
Während solche Regulationsprozesse der Eigenständigkeit und Zugehörigkeit bei den stammesgeschichtlichen Vorläufern der menschlichen Art in hohem Masse durch stabile Instinktausstattungen für vorgegebene Lebensräume geleistet werden, sind für den Menschen eine massiv erhöhte Flexiblität des Verhaltensrepertoires (die individuell zu erwerbenden Kompetenzen) und eine massiv erhöhte Variabilität der Lebensräume (die Kultur bzw. die Kulturen in ihrer Gesamtheit) kennzeichnend. Für jede Kultur zu jedem Zeitpunkt ihrer Entwicklung ist ein jeweils spezifisches Gleichgewicht dieser gegenläufigen Prozesse charakteristisch. Die Existenz einer Gesellschaft hängt davon ab, dass diese Regulationsprozesse zu den umweltlichen Bedingungen passen und von allen Beteiligten (bis auf einen Rest innovativer Aussenseiter, welche die Anpassungsfähigkeit sichern) anerkannt oder eingehalten werden.
Im Lauf der paar Jahrtausende menschlicher Sesshaftigkeit und bei uns besonders in den letzten Jahrhunderten sind nun diese kulturellen Lebensräume zunehmend differenzierter und komplexer und damit auch anspruchsvoller geworden. Und obwohl nicht ausserhalb natürlicher Gesetzlichkeiten sind sie von Menschen selbst in einem historischen Prozess gestaltetet worden, weshalb ihnen in ihren materiellen, symbolischen und handlungsgetragenen Manifestationen eine relative Beliebigkeit zukommt, welche besonders im interkulturellen Vergleich nicht zu übersehen ist. Je vielfältiger und komplexer eine Kultur sich darbietet, desto grösser sind die Möglichkeiten und wohl auch die Verlockung, dass Individualisierungsprozesse blühen, und das Risiko wächst, dass dies auf Kosten der gemeinsamen Interessen geschieht.
In solcher Situation, sage ich simplifizierend, haben Menschen vielleicht die Befürchtung entwickelt, dass die Angehörigen einer Gesellschaft die kulturellen Gegebenheiten und Techniken nicht mehr gewissermassen von selbst im Alltag erwerben könnten, und haben Einrichtungen zur Stärkung von Kollektivierungskräften hervorgebracht. Die Schule ist eine der prominentesten davon. (Selbstverständlich hat die Schule auch andere Gründe, auf welche ich nicht eingehe, den Komplex von Herrschaft und Unterordnung aber doch erwähnen möchte.) Wenn nun die Schule in ihrem heutigen Selbstverständnis sich gewissermassen auf die Seite der Individualisierungskräfte schlägt oder in ihren sozialisierenden Zielsetzungen Verfahren einsetzt, welche die ringsum vorherrschenden sozialstrukturellen Verhältnisse negieren, verfehlt sie jedenfalls diesen ihren Sinn. Zur Begründung nur ein Beispiel: nicht einmal mehr das Militär, geschweige denn die Industrie, operieren (von wenigen Ausnahmen abgesehen) mit gleichschalterischen oder homogenisierenden Organisationsformen. Rollendifferenzierende Organisationsformen erhöhen nämlich die Leistungsfähigkeit. Vor allem aber sind sie prinzipiell besser geeignet, eine flexible Balance zwischen Eigenständigkeit und Zugehörigkeit aller Beteiligten zu fördern, weil jeder Profilierungsversuch eines Individuums zugleich seiner spezifischen Einbindung in die Gruppe dient und jeder Vereinnahmungsversuch der Gruppe das betroffene Individuum gerade im Gruppeninteresse in seiner Einmaligkeit nehmen und betonen muss und damit zugleich auch seine Individualität begrenzt.
Ich übersehe nicht die vielfachen Bemühungen zur Förderung differenzierter sozialer Prozesse in der Schule (Gruppenaktivitäten, Team-Teaching usw.), die allerdings, solange sie in den bestehenden schulorganisatorischen Rahmen gepresst werden müssen, eher den Charakter eines Trostpflaster haben. Ich klage auch nicht die Lehrer an, die im so verfestigten Rahmen immer wieder ihr Bestes geben. Denn ein Kanton Bern kann ja heutzutage nicht ein weltweit dominierendes Organisationsschema einfach durchbrechen. Doch vor 150 bis 200 Jahren waren wir initiativ. Wenn meine Überlegungen als eine Orientierungshilfe dienen könnten, wäre das schon viel.
Fazit in Frageform: hat die Schule, in einer Zeit homogenisierenden Gruppendenkens institutionalisiert, vielleicht versäumt, sich im Hinblick auf zeitgemässe rollendifferenzierende Sozialstrukturen zu reorganisieren? Und ist sie dann, in der daraus sich ergebenden Unsicherheit, unglücklicherweise dem modischen Trend der Individualisierung verfallen?