Alfred Lang

University of Bern, Switzerland

Conference Material 1998

„Musik und Sprache in Wissenschaft und Kunst" anläßlich des 150.Geburtstages von Carl Stumpf, interdisziplinär zur Diskussion gestellt

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 Last revised 98.10.25

PD Dr.Margret Kaiser-El-Safti

Entwurf für das Symposion Carl Stumpf, 3. - 6. Dezember 1998 an der Universität zu Köln

© 1998 by Alfred Lang

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PD Dr.Margret Kaiser-El-Safti und Prof. Dr. Johannes Wickert, Institut für Psychologie. Prof. Dr. Thomas Ott, Prof. Dr. Wilhelm Schepping, Seminar für Musik und ihre Didaktik. Prof. Dr. Hartmut Günther, Seminar für Deutsche Sprache und ihre Didaktik.

Erziehungswissenschaftliche Fakultät der Universität zu Köln Gronewaldstr.2 D-50931 Köln Tel. 0211/470 4720 Fax.0211/470 5105

Anfragen an diese Adresse oder per e-mail an mkaiser@ew.uni-koeln.de

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Tagungsziele (Zusammenfassung)

Beitrag Lang (Vorbemerkungen)

Tagungprogramm

Hintergründe und Ziele des Symposions

Tagungsperspektiven (M. Kaiser El-Safti)


Wir nehmen den 150.Geburtstag von Carl Stumpf zum Anlaß, um (a) die bleibende Bedeutung der inhaltlich viel verzweigten Schriften Stumpfs, auf ihre wesentlichen, vornehmlich psychologischen Aspekte verdichtet, wieder in Erinnerung zu bringen. Wir möchten (b) aber nicht nur auf die Aktualität von Stumpf aufmerksam machen, sondern (c) Grundeinsichten Stumpfs mit der derzeitigen Forschung in Verbindung bringen. Die interdisziplinäre Ausrichtung des Symposions zielt (d) auf verstärkte Zusammenarbeit hinsichtlich der Grundlagenforschung in Psychologie, Sprachwissenschaft (Sprachpsychologie) und Musikpädagogik (Musikpsychologie). In dieser Ausrichtung ist (e) sowohl der Versuch intendiert, die Wissenschaftsgeschichte von Psychologie, Sprachwissenschaft und Musikwissenschaft zu berücksichtigen und, wo möglich, historische Kontinuität zu entdecken, als auch (f) die erkenntnistheoretischen Grundlagen der Disziplinen neu zu durchleuchten.

Das Interesse, das neuerdings dem Hören, als dem im Vergleich mit dem Sehen traditionell marginalisierten Sinn, entgegengebracht wird, deutet auf einen Wandel in Erkenntnistheorie und Kultur, für den es jedoch noch keine hinreichende Erklärung gibt. Wir möchte in dieser Richtung theoretisch einen Schritt vorankommen, um in Lehre und Praxis entsprechend, das heißt aus innovativen Perspektiven reagieren zu können. (Ein ausführlicher Text liegt bei.)

Margret Kaiser-El-Safti


Uebersicht

Alfred Lang: Vorbemerkungen zu meinem geplanten Beitrag zur Teil-Ganzes-Relation bei Stumpf

Im Rahmen meines Pioniere-Projektes (vgl. Pioniere kulturpsychologischen Denkens, 1996) ergab sich bald einmal die Ahnung einer realistischen Denktradition, welche vom sog. Hauptstrom der Psychologie an den Rand gedrängt und überdeckt worden ist. Die detaillierten Nachforschungen von Margret Kaiser El-Safti, die ausgehend von Stumpf und Brentano über Lotze und Herbart auf den vorkritischen Kant zurückgegangen waren, trafen sich mit meinen kulturpychologisch orientierten Befunden, die ausgehend vom anderen Wundt und von Lazarus über Humboldt auf Herder zurückgingen. Unsere Vermutungen begegneten sich erstmals 1991 an der Mittersiller Tagung und bekräftigten sich beträchtlich an der Tagung der Gesellschaft für Kulturpsychologie 1996 in Tramelan. Dabei tauschten wir gewissermassen unsere Themen, entsprechend unseren je eigenen Zielsetzungen und Kompetenzen: Frau Kaiser El-Safti nahm meine Anregungen betreffend die vermutliche Schlüsselrolle von Herder in dieser anderen Tradition psychologischen Denkens auf und erschloss mir ihrerseits durch ihre Habilitationsschrift jene Perspektive, die mir endlich nach bald 40 Jahren das vielleicht eigentliche, doch verpasste Potential der Berliner Gestalttheorie aufgehen liess: dass -- ganz und gar im Geiste Herders -- in der Teil-Ganzes Relation eine realistische Alternative zu den nominalistisch-dualistischen Oppositionen, besonders derjenigen von Subjekt und Objekt, zum Verständnis der menschlichen Kondition liege. Denn in der Tat sind Menschen durch und durch Teilgebilde in dem Insgesamt ihrer Welt und bringen selber ihre kulturelle Welt als Teile eines umfassenderen Ganzen hervor; von beidem, Natur und Kultur, weder fundamental getrennt und besonderer Brückenschläge bedürftig noch wirklich in einem unvermeidlichen Dilemma zwischen Herrschaft(sauftrag) und Opferrolle. Beides ist freilich systematisch herbeigeredet worden, dient nach wie vor partikulären Interessen und bestimmt den Lauf der Dinge in der abendländischen Moderne in hohem Masse.

Eine Sichtung des Stumpf'schen Denkens im Rahmen eines Seminars unter besonderer Betonung der ton- und musikpsychologischen Arbeiten ermutigte ein solches Projekt. Ich möchte in meinem Beitrag die hier skizzierte Zielvorstellung präziser formulieren und erläutern und dann aus dem Stumpf'schen Werk und seinem mutmasslichen Hintergrund und Umfeld herausfiltern, was zur Herausarbeitung eines realistischeren Selbstverständnisses der Menschen beitragen kann. (A.L.)

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Vorläufiges Tagungs-Programm (Stand März 1998)

Donnerstag, 3. Dezember

10 Uhr

Prof. Dr. K. Hübner (Kiel)

Musik - in Mythos, Kunst und Wissenschaft

10.45

PD Dr. M. Kaiser-El-Safti (Köln)

Vom Ursprung der Sprache -- Über die Anfänge der Musik

11.30

Prof. Dr. W. Baumpartner (Würzburg)

Franz Brentano und Carl Stumpf

12.15

Prof.Dr. K.Mulligan (Genf)

Carl Stumpfs Erkenntnislehre

14.30

Prof. Dr. J. Wickert (Köln)

Zeit und Raum in der Phänomenologie Stumpfs

15.15

Prof.Dr. A. Lang (Bern)

Stumpfs Lehre vom Ganzen und den Teilen

16.00

Prof. Dr. N. Dazzi

Carl Stumpf und William James

16.45

Prof.Dr.H.u.L.Sprung (Berlin)

Die Wiederentdeckung einer herausragenden Forscherpersönlichkeit

Freitag, 4.Dezember

10.00

Prof. Dr. P.Levelt (Nijmwegen)

Was die Psycholinguistik Carl Stumpf zu verdanken hätte

10.45

Prof. Dr. H.G.Tillmann (München)

Carl Stumpf und die Phonetik

11.30

Prof. Dr. H.Günther (Köln)

Hören und Lesen - Zur Psychologie von Sprache und Schrift

12.15

Dr. H. Behrens (Köln)

Der derzeitige Stand der Spracherwerbsforschung in den USA mit Rückblick auf deutsche Pioniere wie Carl Stumpf und William Stern

14.30

Dr.M. Müller (Berlin)

Das phonographische Institut in seiner psychologischen Bedeutung

15.15

Dipl.päd.M. Ballod (Köln)

Die Anfänge der Sprach- und Tonpsychologie- Herder, Humboldt, Herbart

16.00

Prof.Dr.K.Karst

Schule des Hörens

Samstag, 5.Dezember

10.00

Prof. Dr. H.-P.Reineke (Berlin)

Die Anfänge der Musikpsychologie

10.45

Prof. Dr. A.Simon (Berlin)

Über das Berliner Phonogrammarchiv

11.30

Prof. Dr. K.-E.Behne (Hannover)

Hörertypologien

12.15

Prof. Dr. Th. Ott (Köln)

Die Bedeutung ethnologischer Untersuchungen für Musikpsychologie und Musikpädagogik

14.30

Prof.Dr.W. Schepping (Köln)

Singen und Sprechen

15.15

Dipl.päd.G.Wenschkewitz (Köln)

Was bedeutet "Unmusikalität"?

16.00

Prof. Dr. Ch.Allesch (Salzburg)

Rezensionen der "Tonpsychologie"

16.45

Dipl.päd.V. Leprich (Köln)

Der Verschmeizungsbegriff in Tonpsychologie und Erkenntnistheorie bei Stumpf

Sonntag, 6. Dezember

10.00

Dr. B. Schmitz (Sendai,Japan)

Carl Stumpf und Robert Musil - über Denken und Fühlen

10.45

Dipl.päd.J. Marx (Köln)

Uber die Gründe der Antipathie gegen die Musik im Werk von Robert Musil

11.30

Prof.Dr.R.Haller (Graz)

Robert Musil, Carl Stumpf und Ernst Mach

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Dr.Margret Kaiser-El-Safti

Prof.Dr. Johannes Wickert,

Institut für Psychologie.

Prof.D.Thomas OTT

Prof.Dr.Wilhelm Schepping,

Seminar für Musik und ihre Didaktik.

Prof.Dr.Hartmut Günther,

Seminar für Deutsche Sprache und ihre Didaktik.

 

Erziehungswissenschaftliche Fakultät der Universität zu Köln

Gronewaldstr.2,

50931 Köln

Tel.0221/4704720

Fax. 0221 470 5105


Uebersicht

Hintergrund und Ziele des Symposions

von Margret Kaiser-El-Safti at al.

 

I. Ziele

Das aus Anlaß des 150. Geburstages von Carl Stumpf geplante Symposion will weder nur Denkmalpflege betreiben, noch lediglich Lücken innerhalb der Geschichte der deutschen Psychologie und Geistesgeschichte des 19. und beginnenden 20.Jahrhunderts schließen, intendiert wird vielmehr, die überhistorische Substanz der Schriften und die überregionale Bedeutung der Forscherpersönlichkeit Carl Stumpfs herauszuarbeiten, um damit zur Weiterführung aktueller Problemlagen interdisziplinär relevanter geisteswissenschaftlicher Grundlagenforschung beizutragen.

Seit zwei Semestern werden am psychologischen Institut der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln Oberseminare mit einer interdisziplinären Ausrichtung abgehalten, die sowohl die in Vergessenheit geratenen musikpsychologischen und sprachtheoretischen als auch die wahrnehmungstheoretischen und entwicklungspsychologischen Ansätze und Teilaspekte der Lehre Stumpfs wieder zugänglich machen wollen. Aus diesem Kreis von Diplomanden, Doktoranden und Dozenten sollen Arbeiten entstehen, welche die im Symposionstext (siehe weiter unten) angedeuteten Schwerpunkte belegen und deren aktuelle Verwendbarkeit erhärten.

Da diese Aufarbeitung sich nur sehr partiell, insbesondere was den erkenntnispsychologischen und wissenschaftstheoretischen Gehalt der Schriften Stumpfs anbelangt, auf bereits Vorliegendes stützen kann, (wofür es freilich Gründe gibt, die namhaft zu machen hier aber zu weit führen würde), hat sie nach unserer Einschätzung für alle Teil-Disziplinen hohen Informationswert, den wir durch das Symposion und eine es dokumentierende Publikation belegen möchten. Wir möchten neben der eigenen Aufarbeitung der Thematik aber auch auswärtige Wissenschaftler einladen, insofern sie die Symposionsschwerpunkte aus ihrer fachlichen Perspektive und Kompetenz zu ergänzen vermögen. Wir verprechen uns von der Veranstaltung einen grundlegenden Forschungs- und Erkenntnisbeitrag sowohl zur Lage der Geistes- respektive Humanwissenschaften als auch zur Klärung einzelner, intra-disziplinär akkumulierter Grundlagenfragen.

 

II. Wir denken an folgende Themen, die in enger Verbindung mit den Arbeiten von Stumpf behandelt werden sollen:

(1) Stumpfs Begriff der Phänomenologie ist von der Vieldeutigkeit der Verwendungen (beispielsweise bei Kant, Hegel, Husserl, Scheler, Merleau-Ponty) zu befreien und in seiner intendierten Bedeutung (Lehre von den sinnlichen Erscheinungen) wieder näher an die Wahrnehmungslehre (als die Grunddisziplin aller Wissenschaften) anzurücken.

(2) Eine vertiefte Analyse (Unterschiede und Gemeinsamkeiten) der beiden «höheren» Sinne, der visuellen und der akustischen Wahrnehmung soll klärend wirken hinsichtlich dessen, was im Rahmen der Brentano-Schule, besonders in Franz Brentanos Lehre von der «inneren», respektive «äußeren» Wahrnehmung an Fragen offen blieb; trotz der großen Leistung Brentanos und seiner Schule für die deskriptive Psychologie, Phänonenologie und Sprachpsychologie stagniert die psychologische Wahrnehmungsforschung auf einem, vornehmlich neuro-physiologischen und/oder theorielos experimetellen Standpunkt - mit defizitären Folgen für alle Disziplinen, die sich mit dem «Verstehen» (im weitesten Sinne) befassen, aber auch für die Entwicklungspsychologie hinsichtlich der frühkindlichen Primärausstattung und Aneignung psychischer Grundfähigkeiten, sowie - last not least - für eine wissenschaftlich abgestützte ästhetik.

(3) Die in (2) angedeutete Situation resultiert aus erkenntnispsychologischen Defiziten, die (a) das Verhältnis von «Sinnlichkeit» (Wahrnehmung, Anschauung, aber auch Gefühl) und «Verstand» (Vernunft, Intellektualität, Kognition) (b) das «berüchtigte» (metaphysische) Verhältnis von Leiblichkeit und Seele/Geist betreffen. Einer der grundlegenden Gedanken Stumpfs, nämlich sich der bis heute nicht hinlänglich empirisch geklärten beiderseitigen Verhältnismäßigkeit durch eine vertiefte Analyse, insbesondere des traditionell defizitär behandelten akustischen Sinnes anzunähern, hat heute eine bemerkenswerte Aktualität, insofern verstärkt darauf insistiert wird, das Hören in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu rücken.

(4) Da der wissenschaftlichen Erforschung des Hörens offenbar das Schicksal beschieden war, über philosophisch-geisteswissenschaftlich relevante Ansätze bei Aristoteles, Augustinus, Descartes, Hume, Hamann, Herder, v.Humboldt, Herbart nicht hinauszugelangen, vielmehr wiederholt zurückgedrängt zu werden, entweder durch die Bevorzugung des visuellen Sinnes oder durch eine, die psychologisch relevante Erkenntnis- und Gefühlsseite des Hörens verkürzende Konzentration auf die rein «naturwissenschaftliche» organisch-physiologische Erforschung des «leiblichen» Hörens greifen historische und aktuelle Forschung, die auch der psychologisch-geistigen Seite des Hörens gerecht werden wollen, glücklich ineinander.

(5) Zu wenig wurde bislang beachtet, daß die tonpsychologische Forschung neben Gesichtspunkten der Anwendung von breiter theoretischer und sogar transzendentalpsychologischer Bedeutung ist; die Bevorzugung der Visualität steht in Zusammenhang mit der geometrisch-räumlichen Grundlage der Naturwissenschaft, der gegenüber die Phänomene des Hörens und des Verstehens in ihrer zeitlichen Dimension in wissenschaftlicher Perspektive stets vernachlässigt wurden. Eine vertiefte Analyse des Hörens tangiert nicht nur die Hauptpunkte einer «transzendentalen ästhetik», nämlich die Anschauungsformen von Raum und Zeit, sondern sie vermag in der Tat auch das Leib-Seele-Problem in ein anderes Licht zu rücken.

(6) Mit den beiden zuvor genannten Gesichtspunkten stehen freilich das Verhältnis von Philosophie und Wissenschaft, aber auch Selbstverständnis und Wandlungen im Wissenschaftsverständnis kulturell bedeutsamer Wissenschaften wie Psychologie, Sprachwissenschaft und Musikwissenschaft in Zusammenhang. Die beiden kulturellen «Gebilde» Sprache und Musik betreffend wäre neben der phänomenologischen und strukturellen Analyse der historisch-genetische Kontext und die Kreuzpunkte der Entstehung der empirisch-wissenschaftlichen Ansätze der Sprach- und Musikpsychologie darzustellen und aufzuarbeiten.

(7) Bei allen Fragestellungen ist auch an die entwicklungspsychologische Relevanz zu denken, und wäre der Entwicklungsbegriff heute, nach der Relativierung biologistischen Denkens und der Infragestellung der Leistung mehr/minder beliebger Modelle, insbesondere der Verabschiedung der Phasenmodelle, neu zu überdenken. Stumpf hatte sowohl, was den Entwicklungsbegriff, als auch was seine Beiträge zum Tiervergleich und seine Stellungnahme zur Kinderpsychologie anbelangt, in einer bemerkenswerten Weise vorgedacht.

(8) Stumpf stand zu Lebzeiten zu vielen bedeutenden Wissenschaftlern in Kontakt. Neben der engen Beziehung zu seinem Lehrer Franz Brentano interessieren in unserem Zusammenhang Persönlichkeiten wie Wilhelm Dilthey, William James, Ernst Mach und Stumpfs berühmtester ehemaliger Schüler und Doktorand: Robert Musil als ein charakteristischer Wanderer zwischen den Welten Wissenschaft und Kunst. (Im 8.Band der Musil-Studien wurde Musil ausdrücklich in der dreifachen Bedeutung als «Dichter, Essayist und Wissenschaftler» gewürdigt.)

 

III.(Mitbeteiligung von Studierenden)

Wir legen ausdrücklich Wert darauf, junge Studierende mit einem überdurchschnittlichen wissenschaftlichen Engagement und auf der Basis bereits erbrachter Leistungen aktiv an dem Symposion zu beteiligen. Die Zukunft der Universität gehört diesen jungen angehenden Forschern, und wir betrachten es als eine wichtige Aufgabe der Institution, sie zu einem möglichst frühen Zeitpunkt in die Forschung einzubeziehen.

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IV Tagungsperspektiven (Symposionstext von M. Kaiser-El-Safti)

Das Symposion soll an erster Stelle die Leistungen Carl Stumpfs (1848-1936) in Erinnerung bringen, die dieser Pionier der Psychologie für die theoretische Inhalts- und Standortbestimmung, sowie die Experimentaltechnik der Psychologie erbrachte; es sollte aber auch Stumpf als Erkenntnistheoretiker, Phänomenologe und ersten Verfasser einer systematisch angelegten Tonpsychologie würdigen. Vor diesem Hintergrund hat Stumpf neben seiner Bedeutung für die Psychologe auch als ein heute noch wichtiger Vertreter psychologischer Methodologie, moderner Philosophie und als Vorläufer der Musikpsychologie zu gelten.

Vornehmlich der Schwierigkeitsgrad und die komplexe interdisziplinäre Ausrichtung der Arbeiten Carl Stumpfs dürften der Grund dafür gewesen sein, daß der zu seiner Zeit hochangesehene Forscher, der neben Leipzig, wo Wilhelm Wundt wirkte, in Berlin ein weltweit berühmtes psychologisches Forschungszentrum schuf, nach dem Zweiten Weltkrieg in Vergessenheit geriet; das letzte umfassende Werk, die zweibändige «Erkenntnislehre» (posthum 1939-1940 erschienen) ging in den Kriegswirren unter; der Name des Autors erhielt sich nach Kriegsende nur mehr in Verbindung mit den Namen seiner ehemaligen Lehrer, Franz Brentano und Rudolf Hermann Lotze, und in Verbindung mit seinen berühmtesten Schülern, Edmund Husserl, Robert Musil und den Berliner Gestaltpsychologen Wolfgang Köhler, Kurt Koffka, Max Wertheimer, Kurt Lewin, ohne daß Stumpfs Beitrag zu ihren Leistungen gewürdigt worden wäre.

Stumpf war nicht nur der Zeitgenosse, Freund und Kontrahent von Ernst Mach, William James, Paul Natorp, Edmund Husserl und Wilhelm Dilthey, sondern er hatte mit seiner Konzeption der Phänomenologie auch eine, heute noch unausgeschöpfte wissenschaftstheoretisch bemerkenswerte Alternative zum Phänomenalismus (Mach), Pragmatismus (James), dem Neukantianismus (Natorp), der Lebensphilosophie (Dilthey) und der «reinen» oder «transzendentalen» Phänomenologie (Husserl) zu bieten, die publik zu machen wäre.

Das Verblassen der Bedeutung Stumpfs scheint nicht zuletzt mit seinem speziellen Beitrag zur Wahrnehmungs- und Erkenntnislehre, der Stumpf zu Lebzeiten berühmt machte, in Verbindung gestanden zu haben - der erstmals von ihm systematisch verfaßten, im letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts erschienenen zweibändigen «Tonpsychologie» (1883 und 1890). Mit diesem Werk setzte Stumpf einmal die schon von Johann Friedrich Herbart mit ähnlich weitreichenden psychologischen und erkenntnistheoretischen Intentionen begonnenen tonpsychologischen Studien fort, und ergänzte zum anderen den bedeutenden physiologischen Beitrag Hermann von Helmhotzí zur Tonlehre sowie den musikästhetischen Ansatz seines ehemaligen Lehrers Lotze. Hier wären die Gründe aufzudecken, warum ein Zweig (Tonpsychologie), der im 19.Jahrhundert Beiträge von außergewöhnlicher wissenschaftlicher Qualität erarbeitete und sogar eine gewisse Kontinuität vorzuweisen hatte, nach der Jahrhundertwende verkümmerte und schließlich sogar in Vergessenheit geriet.

Rudolf Lotze, der sich als bedeutender Musikästhetiker profilierte, hob in seiner «Geschichte der ästhetik in Deutschland» 1865 hervor, daß Musik nie zu den Lieblingen deutscher Philosophen gehört hätte. In der Tat bildeten das Interesse für Musik und die Beschäftigung mit dem Bereich akustischer Wahrnehmung bis zum 19.Jahrhundert, - von wenigen Ausnahmen abgesehen - im Vergleich mit dem Interesse für die Sprache und für den Bereich des Visuellen, eine Ausnahme und konnte noch im 19.Jahrhundert als ein Novum bezeichnet werden; das galt insbesondere für die empirisch-erkenntnistheoretische Relevanz des Hörens und die ästhetisch-psychologische der Musikrezeption .

Hätte man nicht annehmen müssen, daß zugleich mit der immensen, auch theoretisch (philosophisch-psychologisch) bemerkenswerten Entwicklung der europäischen Musik im 17., 18. und 19.Jahrhundert zugleich der kognitive und pädagogische Wert sowie die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Musik, die dem Philosophen I. Kant nur als rein sinnliches und bloß subjektives Gefühlsphänomen galt, gestiegen wäre - vergleichbar dem Status, den die Musik in der Antike als sowohl theoretisch-wissenschaftliches als auch moralisch-praktisch bedeutsames Gebilde innehatte? In einem gewissen Sinne scheint das für Österreich im Kontext der «Wiener Klassik» und in Konnexion mit der philosophischen Schule des «Wiener Kreises» auch tatsächlich zugetroffen zu haben, wie die neuesten musiksoziologischen Untersuchungen von Kurt Blaukopf eindrucksvoll demonstrieren(1), während sich in Deutschland nicht die auf empirischer Basis konzipierte Tonpsychologie durchsetzte, sondern eine Musikphilosophie Fuß faßte, die von Schopenhauers und Nietzsches antirationaler Musikauffassung ausging und im Zuge der Wagner-Verehrung kultische Dimensionen annahm. Hier blieb die Erkenntnis, daß Musik, - auch und gerade die «reine» Instrumentalmusik,- nicht weniger an Ratio und Verstehen als an das Gefühl appelliert, einer Minderheit von Philosophen, Pädagogen und Psychologen vorbehalten. Die Schlüsselrolle in den Bemühungen um die wissenschaftlich abgestützte Verbreitung eines musikalischen Denkens anstelle bloßen Musikempfindens und der pädagogischen Verwendbarkeit von Musik spielte der Philosoph, Psychologe und Pädagoge Johann Friedrich Herbart, dessen diesbezügliche Bedeutung aber bislang von seiten psychologischer und musikpsychologischer Forschung völlig ignoriert wurde, während die weiter oben erwähnte soziologische Forschung sich sehr wohl um den Nachweis des psychologische Beitrag Herbarts und Stumpfs bemüht zeigt. (2)

Für die Vernachlässigung von seiten der Psychologie dürften eher zu viele als zu wenige Gründe beizubringen sein: Herbart wie Stumpf sind schwierige Autoren und Vorwände, sich nicht mit ihnen zu beschäftigen, waren innerhalb der psychologischen Geschichtsschreibung stets willkommen; darüberhinaus gerät die Beschäftigung mit Musik bei «Unmusikalischen» leicht in den Verdacht einer bloß elitären Liebhaberei, und unter «pragmatischen» Gesichtspunkten scheint sie keine erkennbare «Nützlichkeit» in Aussicht zu stellen; die Bedeutung, die die Antike einst der Musikerziehung für die Bildung der Gesamtpersönlichkeit eingeräumt hatte, war zugleich mit der neuzeitlichen Philosophie in Vergessenheit geraten; Musikästhetik scheint mehr noch als andere Bereiche (Literatur und bildende Kunst) innerhalb der philosophischen ästhetik, einer kleinen Gruppe von Fachleuten vorbehalten zu sein, und was die erkenntnistheoretische Relevanz des Hörens und der Musik anbelangt, vermochte sie sich bis heute nicht gegen die Bevorzugung der Visualisierung hinsichtlich des Erkenntnisprozesses durchzusetzen.

Neben diesen, wissenschaftshistorisch schwerwiegenden Gründen waren aber in Deutschland auch noch andere, kulturelle und natinonale Momente im Spiel, die einer rationalen und wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Musik gegen andersgeartete philosophische Strömungen im Wege standen. Daß Herbart in Österreich eindeutig positiv und auf breitester Basis zur Kenntnis genommen wurde, während er in Deutschland durchaus umstritten und einer Vielzahl von Mißverständnissen ausgesetzt war, von seiten neukantianistischer Philosophie sogar bekämpft wurde, lag an seiner, speziell gegen die Transzendentalphilosophie Kants, generell gegen die Philosophie des Deutschen Idealismus konzipierten «realistischen» und ontologisch orientierten philosophischen Ausgangsposition. Die starke Anbindung der deutschen Psychologie, insbesondere durch ihren prominentesten Vertreter Wilhelm Wundt, an Kant, scheint der vorurteilslosen Einschätzung anders orientierter philosophisch-psychologischer Ansätze, hinderlich gewesen zu sein, wie besonders an der Geschichte der Schule Franz Brentanos abzulesen wäre. Auf diesem Hintergrund wird auch verständlicher, warum die Bedeutung Stumpfs, als wichtiges Mitglied der Brentanoschule, nicht gewürdigt wurde.(3) Darüberhinaus wäre freilich der Einbruch des Zweiten Weltkrieges im Hinblick auf die mangelnde Kontinuität psychologischer Forschung in Deutschland und der starke Einfluß der amerikanischen Psychologie in Rechnung zu stellen. Die wiederholt beklagte theoretische Zersplitterung innerhalb der Musikpsychologie(4) wäre als Folge der diskontinuierlichen Forschung zu begreifen.

Heute muß für die pädagogische und intellektuelle Seite des Musikverstehens im Rahmen der Psychologie, insbesondere Kognitionspsychologie, keine Lanze mehr gebrochen werden. Aber wie eklektisch und lückenhaft sind die wissenschaftstheoretischen Grundlagen der Musikpsychologie, aber auch der Kognitiven Psychologie! Die musikpsychologische Forschung verfährt derzeit noch rein empiristisch, das heißt meh/ minder theorielos, und weder Jean Piaget, der eigentiche Initiator der Kognitiven Psychologie, noch die künstliche Intelligenzforschung, die ihre Modelle im Vergleich mit Maschinen (den Leistungen des Computers) konzipiert, wird der, an Verstehen und rational erfaßbaren Wirkung interessierten Musikpsychologie weiterhelfen können, ebenso wenig wie die a-rationale esoterische Literatur zur Musikentstehung und Musikrezeption etwas beizutragen vermag, was für die wissenschaftliche Forschung von Belang sein könnte.(5) Piaget hat niemals ein relevantes Wort über Musik oder gar nur über akustische Wahrnehmung verlauten lassen, und die künstliche Intelligenzforschung mag für die Erforschung des Regelwerks intelligenten Verhaltens (Strategierens), aber gerade nicht für die aktive und schöpferische Seite der Musikproduktion und des Musikverstehens in Frage kommen. Überschneidungspunkte zwischen Musikpsychologie und angrenzenden Wissenschaften dürften sich da wohl eher bei der generativen Linguistik, der Semiotik und - last not least - bei der Philosophie und sogar Wissenschaftstheorie ergeben. Betrachtet man Stumpfs Arbeiten unter letzteren Gesichtspunkten, dann enthalten sie immer noch einen Schatz an Wissen, der allem Anschein nach sogar erst heute, infolge fortgeschrittener Wissenschaftstheorie, gehoben und genutzt werden kann. Warum das bislang noch nicht geschehen ist, resultiert meines Erachtens hauptsächlich aus folgendem:

Die von Carl Stumpf mitbegründeten Bereiche der Phänomenologie, deskriptiven Psychologie und Musikpsychologie verweisen gegenseitig aufeinander; fehlt ein Glied in dieser Kette, - wie beispielsweise das Interesse für die ästhetische, aber auch wahrnehmungstheoretisch und erkenntnistheoretisch relevante Konzentration auf die akustischen, insbesondere musikalisch bedeutsamen Phänomene - dann erschwert dies den Zugang zu Stumpf erheblich. Eine gewisse Barriere hinsichtlich der Relevanz der akustischen Phänomene ließ sich aber nicht nur bei Forschern feststellen, die Stumpf, den philosophischen Ansatz, die Wissenschaftstheorie und das Menschenbild betreffend, fernstanden; Indolenz oder auch Unfähigkeit, die Relevanz der tonpsdychologischen Forschungen zu werten, machte sich auch in Stumpfs Nähe bemerkbar.

Seit etwa zwei Jahrzehnten wird dem Bereich der Akustik und der Beschäftigung mit dem Hören aus unterschiedlichen Perspektiven in sowohl positiver als negativer Sicht Aufmerksamkeit geschenkt. Neben den geisteswissenschaftlichen Forschungsbereichen wie Philosophie (ästhetik), Psychologie und Soziologie, die sich mit der Bedeutung des Hörens beschäftigen, interessieren sich zunehmend auch Mediziner, Therapeuten, Medienforscher und Städteplaner für das, im übrigen ambivalent gewertete Phänomen gesteigerter akustischer Stimulanz, aber auch akustischer Reizüberflutung und Belästigung.

Im Vergleich mit den voraufgegangenen Jahrhunderten imponiert die rasante kulturelle Wandlung des Phänomens «Musik», wenn man an die immer schneller wechselnden Musikstile, die Bedeutung musikalischer Untermalung in allen Lebensbereichen, die Bedeutung musikalischer Aktivitäten in der Jugendkultur denkt,- die allemal und nicht zuletzt technische Gründe haben dürfte, nämlich die eminente Popularisierung und Vermarktung der Musik durch die elektronischen Medien. Die derzeitige Diskussion über dieses vielseitige Phänomen, insoweit sie von wissenschaftlicher Seite geführt wird - benötigte freilich in ihren ästhetischen, ökologischen, therapeutischen, und pädagogischen Aspekten - ein gemeinsam verwendbares, erkenntnistheoretisches und wissenschaftstheoretisches Fundament. Sammelbände, die das Phänomen von möglichst vielen Seiten zu beleuchten suchen, ohne jedoch eine gemeinsame Sprache zu finden (6), erhellen das allgemeine Manko an Theorie überdeutlich. Es wäre nun allerdings zu viel verlangt, ein derartiges, interdisziplinär verwendbares breites Fundament wissenschaftlicher Forschung unmittelbar von einem Forscher wie Stumpf zu erwarten, wenngleich gerade seine erkenntnistheoretischen und methodologischen Bestrebungen sehr wohl in diese Richtung gingen, jedoch in einer Zeit, deren kulturelle Belange nur begrenzt mit den heutigen zu vergleichen sind. Vermutlich muß man vorerst von einer unmittelbaren Anwendbarkeit auf derzeitige kulturelle Belange und Bedürfnisse absehen, die tieferreichende, überhistorische Bedeutsamkeit des Phänomens aus einer größeren Distanz ins Auge fassen, ja sogar einen, wenngleich kurzen Blick auf die Anfänge einer insgesamt problematischen Entwicklung fallen lassen.

Trotz der kulturellen Bedeutsamkeit der Sprache bildeten seit Beginn der griechischen Philosophie und den Anfängen des wissenschaftlichen Denkens die «Theoria» als «Schauen» mit dem geistigen Auge, Ideenschau und Wesensschau die Königswege zur Erkenntnis und gingen als solche auch ein enges Bündnis mit der Naturwissenschaft ein. Hier gaben sichtbarer und tastbarer Raum, die räumlichen Körperphänomene, die Theorie der meßbaren Bewegungskräfte und Bewegungsverhältnisse (der Mechanik), die Theorie der geometrischen Optik in Naturphilosophie und Wissenschaft jahrhundertelang den Ton an, und stellten die, an die akustische zeitliche Wahrnehmung geknüpften, flüchtigen klanglichen Phänomene auf lange Sicht in den Schatten, die, anders als die Sprache, anscheinend nur der Unterhaltung dienten, dem Forschenden nichts zu denken gaben und keinen erkennbaren Nutzen für das menschliche Handeln zu haben schienen. In diesem Kontext ist es kein Zufall, daß Hinweise, die im 18. Jahrhundert hervorragende Philosophen wie G.W. Leibniz, L. Euler und D. Hume, auf die Relevanz von Tönen und Klängen machten, schlicht überhört wurden, und daß nicht weniger bedeutende Persönlichkeiten wie G.J. Hamann, J.G. Herder und W. von Humboldt, die auf die besondere Bedeutung des Hörens für die Humanität hinwiesen, auf lange Zeit nicht durchdrangen. Im großen und ganzen läßt sich die allgemeine Unsensibilität dem Hören gegenüber auf die Dominanz rationaler Philosophie zurückführen, die einerseits der «Hellsichtigkeit» des Verstandes den Vorzug gab und die «niederen» Sinne mehr oder weniger verachtete, und die zum anderen dort, wo die Sinne nolens volens berücksichtigt werden mußten, das Sehen infolge seiner größeren Distanz zur «Subjektivität», Reichweite und «Objektivität» höher werteten als das Hören.

Daß dem Hören in der Tat keine geringere Bedeutung beizumessen ist als dem Sehen, leuchtet in alltagspsychologischer Sicht unmittelbar ein und muß nicht diskutiert werden; wir möchten keinen der sogenannten «niederen» oder «höheren Sinne» missen, auf keine der spezifischen Informationen verzichten, die sie uns bei voller Intaktheit vermitteln(7); aber dem erkenntnistheoretisch und wissenschaftlich relevanten Nachweis des Hörens als des angeblich genuin humanen Sinnes, auf dessen Leistungen unsere gesante Kultur aufgebaut hat, stehen in der Tat ganz erhebliche Schwierigkeiten ins Haus. Meines Erachtens liegen hier auch die Vorbehalte, die bei etwas tieferem Nachdenken einer umfassenderen Beschäftigung mit dem Hören im Wege standen und noch stehen.

Als einen genuin humanen Sinn hatte erstmals J.G. Herder das Hören in Zusammenhang mit Sprache und Musik aufgefaßt, der sinnlichen (prosodischen) und der intellektuellen (bedeutungsmäßigen) Seite der Sprache gleichermaßen gedenkend. Herder war es auch, der erstmals an der ausschließlich menschlichen Eigenart artikulierter Sprache, und nicht etwa an «Sprache» schlechthin, das unterscheidende Wesensmerkmal zwischen Tier und Mensch festmachte. «Sprache» im Sinne von Ausdruck, Mitteilung und Verständigung billigte er auch den Tieren (ja der Natur insgesamt) in einem gewissen Maße zu, aber dieser «Sprache» ermangelte die unendliche Feinheit der Artikulation und Modulation, ihr sozusagen «musikalisches» Element. Herder leistete mit dieser Betonung der Artikulation einerseits etwas sehr Wichtiges, indem er dem, auch heute noch weit verbreiteten Vorurteil entgegentrat, «das Musikalische» sei das seiner Natur nach Unbestimmte, das in seiner Unbestimmbarkeit nur vage Gefühle und Stimmungen, aber eben nichts Genaues und Sagbares evozieren könnte(8); andererseits betonte Herder die Bedeutung des Gehörs - als der Sinn, der zwischen den übrigen Sinnen, der Außenwelt sowie der menschlichen Seele zu vermitteln vermag.

Es kann hier nur pauschal an die Widerstände und negativen Reaktionen erinnert werden, die Herders geniale Schrift «Abhandlung über den Ursprung der Sprache» (1772) bei Freund und Feind evozierte, um schließlich - und dies ist das eigentlich Bedauerliche - der Vergessenheit anheimgestellt oder als nur noch historisch erwähnenswert abqualifiziert zu werden. Tatsächlich wurde Herder aber nicht vergessen, führte vielmehr eine unterschwellige Strömung von Herder über Humboldt einerseits zu J.F. Herbart, der die von Herder behauptete enge Verbindung zwischen dem Hören und der Seele ernstnahm und erstmals in den Dienst einer rechnenden «Psychologie als Wissenschaft» stellte(9), andererseits zur Schule Franz Brentanos und wurde dort von den beiden bedeutendsten Schülern Brentanos, Anton Marty und Carl Stumpf, wieder aufgegriffen, während Brentano im ganzen auf eine andere Wertung von Sprache und Denken als sie in der Philosophie des Deutschen Idealismus vertreten worden war, hinarbeitete. Wie die Brentanoschule wiederum auf Musikpsychologie(10), Sprachpsychologie und Denksychologie der Jahrhundertwende und des beginnenden 20.Jahrhunderts in einer Weise Einfluß nahm,(11) der bis zu dem russischen Psychologen Lev Wygotski weiterzuverfolgen wäre, könnte zu einem der luzidesten Kapitel deutscher Psychologiegeschichte zusammengefaßt werden, wenn die Forschhung sich nur erst einmal in diese Richtung in Bewegung setzen würde!

Und noch ein weiteres wichtiges Kapitel der Psychologiegeschichte wäre zu rekonstruieren: die Geschichte der berühmtesten deutschen psychologischen Schule, der Gestaltpsychologie, wiederum in Verbindung mit Carl Stumpf, der der Lehrer der prominentesten «Gestaltisten» war. Die Gestaltpsychologie setzte bekanntlich in dem berühmten Artikel Christian von Ehrenfels' «Über 'Gestaltqualitäten'» (1890) bei den akustisch-musikalischen Phämomenen der Übersummativität und Transponierbarkeit der Melodie an; sie gab dieses «musikalische» Fundament jedoch in der Ausbildung der «Berliner Schule» und gerade bei den Schülern von Carl Stumpf, dem als Lehrer und Forscher mehr an ergänzenden, auch dem eigenen Ansatz widerstreitenden Forschungsperspektiven als an «Anpassung» gelegen war, wieder preis, um sich erneut der Relevanz visueller Phänomene (der methodologischen und erkenntnistheoretischen Bedeutung visueller Scheinphänomene) zuzuwenden. Dieser «Rückfall» in die Visualität ist methodologisch eines der denkwürdigsten Ereignisse der Wissenschaftsgeschichte der Psychologie, dessen exakte Hintergründe, zum Schaden kontinuierlicher Erkenntnisgewinnung, aber niemals hinreichend aufgeklärt wurden. Vermutlich bildeten die Erfahrungen, die Wolfgang Köhler im Rahmen seiner Menschenaffenforschung in Teneriffa hinsichtlich der unterschiedlichen Struktur menschlicher und tierischer visueller Wahrnehmung durchführte und die von Stumpf angeregt worden waren, einen der zeitlich und motivational wichtigen Übergänge zu der erneuten Durchsetzung der visuellen Wahrnehmung.

Die jahrhundertelang andauernde, endlich als störend empfundene ungleichgewichtige Behandlung der sogenannten «höheren Sinne» und der Mangel an Kontinuität hinsichtlich der Erforschung des Hörens scheinen derzeit einerseits die Dominanz der Ton- und Klangphänomene in der breitgestreuten, auch außerwissenschaftlichen und sogar esoterischen Literatur zu begünstigen, andererseits das Fehlen einer einheitlichen Theorie in der Musikpsychologie zu erklären.

Keineswegs sollte die Bedeutung des Philosophen, Phänomenologen und Psychologen Carl Stumpf jedoch auf den Bereich der akustischen Wahrnehmung eingeschränkt werden; vielmehr wäre deutlich zu machen, zu welchen neuen Erkenntnissen aufzubrechen und vorzudringen wäre, wenn die akustische Wahrnehmug erst einmal aus ihrer marginalen Position befreit und zum Ausgangspunkt veränderter Forschungsperspektiven gemacht werden könnte. Daß dies außerhalb der Psychologie bereits von prominenten Forschern geschieht, beweisen die jüngsten Publikationen von Nelson Goodman(12) und Kurt Hübner(13) (von Kurt Blaukopf war schon die Rede), die allemal eine weite Perspektive, nämlich die Fruchtbarkeit, wenn nicht gar Notwendigkeit eines Brückenschlages zwischen Wissenschaft und Kunst signalisieren - falls unsere, in tausenden von Jahren mühsam genug errungene Kultur nicht an einem positivistisch-technologisch verarmten Wissenschaftsbegriff verbluten soll. (14) Es wäre außerordentlich bedauerlich, wenn die Psychologie sich Gundlagen aus der Hand nehmen ließe, die im Rahmen dieser Forschung von zentraler Bedeutung sind, und zu der sie selbst in fruchtbarster Weise beitrug und wieder beitragen könnte.

Erst nach Anfertigung dieses Textes gelangte ich zur Kenntnis des gerade erschienenen Readers «Carl Stumpf - Schriften zur Psychologie». So erfreulich und hoch löblich das Erscheinen des von Helga Sprung herausgegebenen Bandes ist, enthält er freilich nur eine Auswahl der Arbeiten Stumpfs; er verzichtet leider ganz auf den tonpsychologischen Bereich und begründet dies mit der Schwerverständlichkeit oder gar Unzugänglichkeit dieser Arbeiten für Leser, die keine musikwissenschaftliche und keine experimentalpsychologische Ausbildung erfahren hätten.(15) Dieser Kreis von Adressaten, der sowohl musikwissenschaftlich als auch experimentalpsychologisch vorgebildet ist, dürfte allerdings sehr klein, infolgedessen ein bedeutender Teil des Werkes von Carl Stumpf nur einer winzigen Gruppe von Fachleuten zugänglich sein.

Dieser Auffassung wäre aber einmal die große kulturelle Bedeutung der tonpsychologischen und musikhistorischen Forschung, die Stumpf ins Leben rief, und die durch seine Schüler fortgesetzt und erweitert wurde, zum anderen die allgemeinpsychologische und erkenntnistheoretische Bedeutung der akustischen Wahrnehmung und der akustischen Phänomene an die Seite zu stellen; letztere wurde ja schon von J.F. Herbart vertreten, der seinerseits weder Musikwissenschaft betrieb, vielmehr die empirisch-psychologische Erforschung von Sprache und Musik auf den Weg brachte, noch jemals experimentierte, vielmehr das Experiment als psychologisches Hilfsmittel in den Humanwissenschaften (aus ethischen Gründen) ablehnte; nicht zuletzt ist auch an die Relevanz des sich überschneidenden Gebietes von Forschungen über die klanglichen und sprachlautlichen Gebilden zu erinnern.

Ich könnte mir sehr wohl einen zweiten Band von Schriften Stumpfs vorstellen, die keineswegs nur für den Musikwissenschaftler und/oder Akustiker, Stimmphysiologen, Ohrenarzt, Pathologen, Experimentalpsychologen von Interesse sind; auf einige Schriften Stumpfs trifft letzteres in der Tat zu, aber gewiß nicht auf alle, nämlich auf jene nicht, die den ästhetischen und kulturellen Wert sowie die psychische Grundlage der akustischen, respektive musikalischen Wahrnehung zum Gegenstand haben.(16) Die von Helga Sprung partiell berücksichtigten Schriften Stumpfs zur Theorie der Gefühle waren nicht zuletzt im Hinblick auf die vom Autor angekündigten, aber leider nie realisierten Bände über Gefühl (Musikerleben) und musikalisches Urteil (Musikverstehen) konzipiert,(17) und zwar unter der Voraussetzung, daß über das Musikerleben die Grundlage zu einer allgemeinen Theorie der Gefühle gefunden werden könnte, und mit Klärung des genuinen Gefühlserlebens der emotionale und der kognitive (urteilende) Anteil innerhalb des Musikrezeption geklärt werden könnte.(18) Ein zweiter Band von Stumpfschriften könnte dann auch die Lücke schließen, die innerhalb der psychologischen Forschung in Deutschland zwischen J.F.Herbarts Initialzündung der «Psychologie als Wissenschaft» und der deskriptiven Psychologie Franz Brentanos sowie der Phänomenologie Carl Stumpfs klafft.

Uebersicht

Fussnoten

1 Vgl. Kurt Blaukopf, Pioniere empiristischer Musikforschung. Österreich und Böhmen als Wiege der modernen Kunstsoziologie. Wissenschaftliche Weltauffassung und Kunst, Wien 1995; Ders. in Friedrich Stadler [Hrsg.] Wissenschaft als Kultur. Österreichs Beitrag zur Moderne, Wien, New York 1997, S.133 ff.

2 Vgl. Blaukopf 1995

3 Für die - nach Nation und philosophischer Schule - je recht unterschiedliche Würdigung und Kritik der «Tonpsychologie» Stumpfs in Deutschland, England und Österreich zeugen die Rezensionen von Wilhelm Wundt und Paul Natorp (in Deutschland), James Sully (in England) und Alexius v.Meinong (in Österreich).

4 Vgl. beispielsweise Herbert Brun et al.[Hrsg.], «Musikpsychologie Ein Handbuch», Reinbek 1993, S.13: «Das Gebiet der Musikpsychologie ist jedoch weit verzweigt. Es gibt keinen einheitlichen Wissenschaftsbegriff und damit auch keine stringente zusammenhängende Theoriebildung.»

5 Vgl. Joachim-Ernst Berendt, «Das dritte Ohr. Vom Hören der Welt», Reinbek bei Hamburg 1993; dazu kritisch Peter Sloterdijk, «Kopernikanische Mobilmachung und ptolemäische Abrüstung», Frankfurt am Main 1987

6 Vgl. beispielsweise den 1994 von der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland herausgegebenen Sammelband «Welt auf tönernen Füßen - Die Töne und das Hören»

7 Den Standpunkt einer ausgewogenen Gewichtung unserer Sinne vertritt Karl Karst mit Recht gegen eine Hierarchisierung oder gar «positive Mystifizierung des Ohrs, wie sie in diesen Jahren geschieht...». Vgl. «Welt auf tönernen Füßen», S.46

8 Daß man Herder bei oberflächlicher Lektüre seiner Ästhetik («Die kritischen Wälder zur Ästhetik») auch und gerade dahingehend interpretieren könnte, daß er der Auffassung, Musik richte sich ausschließlich an das Gefühl und nicht an das ästhetische Urteil, vorgearbeitet habe, ist mir bekannt; ich lasse diese, in der Tat kurzschlüssige Auffassung hier jedoch auf sich beruhen.

9 Johann Friedrich Herbarts früheste «Psychologische Bemerkungen zur Tonlehre», aus denen die allgemeine Bedeutung der Tonlehre für Psychologie, Epistemologie, Ästhetik und Ethik hervorgeht, wurden 1811, also noch vor der «Psychologie als Wissenschaft, neu gegründet auf Erfahrung, Metaphysik und Matehmtik» (1824-25) verfaßt. Innerhalb der Herbartschule vertiefte vornehmluch der Wiener Philosoph Robert Zimmermann (seinerzeit Kollege von Franz Brentano) den tonpsychologischen Ansatz.

10 Man denke an die epochale Schrift des Brentano- und Meinong-Schülers Christian von Ehrenfels.

11 Hier ist an den maßgebenden Einfluß von Anton Marty und Edmund Husserls auf den denk- und sprachpsychologischen Ansatz von Karl Bühler zu denken.

12 Vgl. Nelson Goodman, «Weisen der Welterzeugung», Frankfurt/Main 1984; Ders., «Sprachen der Kunst», Frankfurt/Main 1995; Ders. mit Catherine Z.Elgin, «Revisionen, Philosophie und andere Künste und Wissenschaften», Frankfurt/Main 1993

13 Vgl. Kurt Hübner, «Die zweite Schöpfung Das Wirkliche in Kunst und Musik», München 1994; Ders., «Die Musik und das Mystische», Basel 1996

14 Daß die Musik bereits in der Antike als das paradigmatische Gebilde angesehen wurde, an dem Wissenschaft und Kunst gleichermaßen beteiligt sind, scheint für die Unsterblichkeit der pythagoreischen Ontologie zu zeugen, die auch nur in den Hochzeiten des Rationalismus und Idealismus ganz verdrängt werden konnte.

15 Frankfurt am Main, S.30

16 Vgl. beispielsweise Carl Stumpf, «Musikpsychologie in England. Betrachtungen über die Herleitung der Musik aus der Sprache und aus dem tierischen Entwicklungsprozeß, über Empirismus und Nativismus in der Musiktheorie». (1885); Ders. «Geschichte des Konsonanzbegriffs» (1897); Ders. «Konsonanz und Konkordanz», (1910); Ders. «Über die Bedeutung ethnologischer Untersuchungen für die Psychologie und ästhetik der Tonkunst» (1910); Ders. «Die Anfänge der Musik», (1911); Ders. «Verlust der Gefühlsempfindungen im Tongebiete (musikalische Anhedonie)» (1917); Ders. «Beethovens Ewigkeitswert. Zum 150.Geburstag des Meisters» (1920); Ders. «Sinnespsychologie und Musikwissenschaft» (1921)

17 Sie sollten den beiden ersten Bänden der «Tonpsychologie», diese zu einer «Musikpsychologie» erweiternd, an die Seite gestellt werden.

18 Ich darf an dieser Stelle auf meine Arbeiten zu Carl Stumpf hinweisen, die Frau Sprung außer der von ihr erwähnten, in Italien erschienen «Carl Stupfs Lehre vom Ganzen und den Teilen», in, Axiomathes, 1994, nicht bekannt waren wie der 1997 in den «Brentano-Studien», Bd. VI erschienene Aufsatz «Carl Stumpf und die deskriptive «Psychologie», der in Bd.VII demnächst erscheinende Aufsatz, «Carl Stumpf und Oswald Külpe - ein Vergleich», der 1993 in den «Musil-Studien», Bd. 8 erschienene Ausatz «Robert Musil und die Psychologie seiner Zeit», der sich vornehmlich mit der Beziehung zwischen Stumpf und seinem ehemaligen Schüler Robert Musil befaßt.

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