Die Frage nach den psychologischen Genesereihen -
Kurt Lewins große Herausforderung
Alfred Lang
In seinem letzten Aufsatz, dem Nachruf auf seinen philosophischen Lehrer Ernst Cassirer, charakterisiert Kurt Lewin sich selbst als den
... wissenschaftliche[n] Anfänger von 1910, der mit Mutter Philosophie noch kaum gebrochen hatte und mit erstaunten Augen und einem unruhigen Herz auf die entwickelten Wissenschaften blickte, nicht wissend, ob er versuchen sollte, sie nachzuahmen oder ob er eher seiner eigenen Richtschnur folgen solle... (Lewin 1949, S. 347).
Dieser späte Aufsatz behandelt das Problem der Existenz in der empirischen Wissenschaft, im Besonderen die Realität sozialer Phänomene. Wenn wir zum Beispiel psychische und soziale Phänomene beschreiben: was existiert denn eigentlich? Und was existiert „hinter“ diesen Phänomenen, welches dieses in unseren Beschreibungen Dargestellte seinerseits überhaupt hat entstehen lassen? Warum wirkt dieses „Hintere“ über das Vordere auf uns gerade so ein, wie es einwirkt? Lewin nimmt also seine ganz frühe Thematik wieder auf!
Ich möchte in diesem Aufsatz dieser Frage nachgehen, die Kurt Lewin seit seinen ersten Studienjahren umgetrieben hat, nämlich der Frage nach der Möglichkeit psychologischer Genesereihen. In seinem Begriff der Genidentität von Gebilden bzw. der Genese(folge)reihen, in denen Gebilde in der Zeit existieren, kristallisiert sich die Frage nach dem Verursachungsverständnis der verschiedenen Wissenschaften. Ich werde zu zeigen versuchen, daβ diese Frage Lewin sowohl zu einem der großen Psychologen wie zu einem der anregendsten und ein Jahrhundert später noch hochaktuellen Wissenschaftstheoretiker gemacht hat; leider blieb er ausserhalb seiner Fächer unbeachtet. Obwohl an der Aufgabe im engeren Sinn wohl gescheitert, ist es wahrhaft eine Frage, die das Herz unruhig macht, heute wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Auch dürfte deutlich werden, daβ Lewin in der Tat „seiner eigenen Richtschnur“ gefolgt ist. Das Problem hat Lewins wissenschaftliches Leben bestimmt und zeitigt noch viel weitere Folgen.
Es ist meine Überzeugung, daβ fast alle seiner vielfältigen theoretischen Entwicklungen und praktischen Unternehmungen, wenn man sie im Lichte dieser Frage untersucht, an Tiefe gewinnen. Und es ist meine betrübliche Einsicht, daβ von den Psychologen des 20. Jahrhunderts, die Kurt Lewin mit seiner Frage aufs Entschiedenste herausgefordert hat, diese Wissenschaft gründlicher zu fundieren, nur sehr wenige diese Herausforderung angenommen haben.
Im vorgegebenen Rahmen kann Lewins Frage nach den psychologischen Genesereihen nicht erschöpfend behandelt werden. Weil es sich sozusagen um eine Konstante seiner Wissenschaft handelt, möchte ich mit einem quasi-genetischen Verfahren zu zeigen versuchen, welche Formen die Frage in verschiedenen Stadien von Lewins Werk angenommen hat. Im Wandel der Zugänge sollte die bleibende Frage umso deutlicher hervortreten.
Der Erhaltungssatz und die Psychologie: Die große Herausforderung des jungen Kurt Lewin (1911, 1912)
Dank Alexandre Métraux, dem Herausgeber der wissenschaftstheoretischen Bände der Kurt-Lewin-Werkausgabe (Lewin, 1981, 1983), sind wir in der glücklichen Lage, anhand von zwei Texten Lewins aus dem Nachlass (1911/1981, 1912/1981) diesen Lebensbogen von seinen frühesten Anfängen her zu verstehen. Das älteste erhaltene Manuskript des 21-jährigen, vermutlich vor allem von Paul Cassirer’s Vorlesungen beeindruckten Studenten ist betitelt: „Das Erhaltungsprinzip in der Psychologie“ (Lewin, 1911). Auf sieben Druckseiten stellt Lewin die Frage, ob das Erhaltungsprinzip - kein Objekt entsteht aus nichts oder vergeht in nichts - „auch hinsichtlich psychischer Objekte“ anwendbar sei. Bereits hier versteht Lewin diese Frage als eine empirisch-wissenschaftstheoretische: Wie hält es die real bestehende Psychologie hinsichtlich der von ihr untersuchten Gegenstände?
Die Frage war übrigens nicht neu, ohne daβ Lewin dies zu erkennen gibt; doch ist seine Antwort neu. Christian von Ehrenfels hatte 1890 in seiner berühmt und zu einer Fundierung der Gestalttheorie geworden gewordenen Abhandlung die Frage gestellt, ob die Gestaltqualität, (z.B. der Melodie) etwas zu der Summe der Einzelempfindungen (z.B. der Töne) Hinzutretendes, also vor und mit deren Empfindung noch nicht Dagewesenes sei. Diese Frage hat während Jahrzehnten den Disput zwischen der sog. Berliner und der Grazer Schule der Gestaltpsychologie beherrscht. Ehrenfels hatte ohne Begründung dogmatisch geantwortet: eine Übertragung des Erhaltungsgesetzes auf das psychische Gebiet sei unberechtigt (Ehrenfels, 1890, S. 15). Psychisches, so scheint man auch heute noch zu glauben, kommt und geht einfach so.
Die moderne Naturwissenschaft begann mit Lavoisiers Nachweis, daβ die verbrannte Kerze im Gas ihrer Umgebung substantiell weiter existiert und sie hat sich ihre großen Erkenntniserfolge dann eröffnet, als sie ein allgemeines Existenz-Axiom zu postulieren begann, wonach keine der verschiedenen Erscheinungsformen dessen, womit sie sich beschäftigt, je für sich kommt und vergeht. Vielmehr sei jede von ihnen nur Erscheinungsform von etwas Dahinterliegendem oder Durchgehendem, von etwas als solchen oft nicht Spezifizierbarem. So ist Energie überhaupt ja nur begrifflich fassbar, obwohl sie wirklich existiert; doch wirkt sie immer nur in einer von vielen Formen (mechanisch, chemisch, elektrisch, magnetisch, gravitativ ...) und ist nur in ebensolchen Wirkungen, aufzeigbar. Sie ist zwischen diesen Erscheinungsformen transformierbar; doch geht sie nicht verloren und sie entsteht nicht neu. Ähnliches gilt für die Aggregatszustände und Formen von Stoff.
Naturgesetze seien, so meint Lewin, Aussagen über den Zusammenhang zwischen Eigenschaften von Gebilden oder über den Übergang von einer Erscheinungsform in eine andere; sie seien nur dann Kausalaussagen, wenn sie ein durchgehend Existierendes voraussetzten. Gesetze müssten also über das Schicksal des hinter den Erscheinungsformen Existierenden vollständig Rechenschaft ablegen, obwohl sie stets nur die Erscheinungsformen betreffen könnten. Wissenschaftliche Aussagen müssen sich demzufolge auf einen in sich geschlossenen Bereich von Existenz beziehen. Wissenschaft wurde erfolgreich, als sie darauf verzichtete, in die Naturerklärung naturfremde Existenzen wie Gottheiten, Seelen oder z.B. das Phlogiston einzubeziehen. Zwischen unterschiedlichen Existenzbereichen kann es keine Verursachung geben, weil ja eben kein innerer Zusammenhang zwischen den postulierten Ursachen und Wirkungen besteht. Genau das ist der Sinn des Erhaltungssatzes in der klassischen Naturwissenschaft.
Wie steht es aber mit anderen Verursachungs- oder Transformationsverhältnissen? Sind unterschiedliche Existenzbereiche denkbar, in denen Gebilde einander bloß „berühren“ oder nicht einmal das? Wo nicht Kausalverhältnisse herrschen, sondern lockerere Zusammenhänge bestehen, z.B. im Sinne eines Auslösers oder einer Anmutung? Kann man also beispielsweise etwas Psychisches denken, welches Physisches bedingt (wie Telekinese), oder umgekehrt (wie Telepathie) und kommt dabei möglicherweise etwas hinzu oder geht etwas verloren? Oder darf das nicht der Fall sein? Man sagt, ein Reiz löse einen (physiologischen) Erregungsprozess ebenso wie einen (psychologischen) Wahrnehmungsprozess zwar aus: verursacht er beide Prozesse? Wenn ja, in welcher Weise? Wie kann ein Affekt einen Schrei bedingen, ein Wissen eine Problemlösung ermöglichen, ein Gedanke zu einem anderen führen, logisch stringent oder nicht, eine Vorstellung oder eine Absicht einen Handlungsvollzug begründen, eine Erfahrung einen Charakterzug oder ein pathologisches Syndrom hervorbringen, eine Interaktion ein soziales Netz miterzeugen? Um was für eine Form von Verursachung kann es sich dabei handeln?
Lewin stellt lapidar fest, die Psychologie habe zwischen kausaler Verursachung und weniger zwingenden Bedingungszusammenhängen begrifflich überhaupt nicht und praktisch nur selten genug klar getrennt. „Ursache und Wirkung sind Positionen des sich in der Zeitfolge identisch Erhaltenden, und jede Ursachen- oder Wirkungsfrage enthält somit bereits die Behauptung der Erhaltung derjenigen Objekte, im Hinblick auf die sie gestellt wird“ (Lewin, 1912, S. 87). Ich habe im zitierten Satz den Ausdruck „in der Zeitfolge identisch“ ausgezeichnet, weil Lewin später dafür seinen Begriff der Genidentität eingeführt hat (vgl. unten Abschnitt zu 1922). Keiner der in den obigen Beispielen implizierten Zusammenhänge ist jedoch dergestalt, daβ die Ausdrücke links und rechts vom gedachten Gleichheits- oder Folgezeichen auf ein mit sich selbst identisch bleibend Existierendes und nur seine Erscheinungsform Änderndes verweisen kann. Im Gegenteil: in der Psychologie und anderen Wissenschaften können die Bedingungen vergehen oder mit der Folge erhalten bleiben, gleich oder verändert; sie können sich von sich aus verändern oder gerade dadurch, daβ sie etwas hervorrufen. Obwohl ein Zusammenhang zwischen solchen Bedingungen und ihren angeblichen Auswirkungen nicht unplausibel sein mag, ist in der Psychologie ein für sie gültiges Erhaltungsprinzip nicht auszumachen; die existentielle Verbindung bleibt ein ausser von Lewin nie erörtertes, implizites Postulat.
Damit sind nach Lewin für die Psychologie zwei Möglichkeiten offen (1912, S. 88): Einerseits kann sie sich an den bekannten Erhaltungssätzen von Stoff und Energie orientieren und sucht mithin nach strikten Kausalgesetzen. Damit setzte sie freilich ihren Gegenstand als einen eigentlich physischen und nötigt sich so zum physikalischen Reduktionismus; und sie müsste im Dualismus ein dem Erhaltungssatz analoges Prinzip für den Bereich des Psychischen aufzeigen. Anderseits kann sie sich auf die Erhellung mutmasslicher Zusammenhänge beschränken. Dann ist sie aber keine Wissenschaft im strikten Sinn, sondern allenfalls “schöne Rede”. Immerhin müsste sie sich auch so verpflichten, die Natur dieser anderen Bedingungszusammenhänge aufzuklären. Achtzig Jahre später klammern sich die meisten empirischen Psychologen trotz fehlender Klarheit an die erste Möglichkeit. Insofern sie den dualistischen Reduktionismus für angemessen halten, haben sie offensichtlich ihre Klärungsaufgabe versäumt.
Nun könnte man vielleicht das Ganze als eine terminologische Spitzfindigkeit um Varianten des Kausalitätsbegriffs abtun, wäre da nicht die von Lewin geforderte Klärung unterschiedlicher Erhaltungsprinzipien. Denn es geht ihm gar nicht um materiell-energetische Konstanz des Untersuchungsgegenstandes, sondern um das „allgemeine Problem der gegenseitigen Zuordnung der Objekte“ einer Wissenschaft. Man kann es nicht deutlich genug wiederholen: für Lewin ist die Physik nicht Modell für die Psychologie, sondern bloß die am weitesten fortentwickelte Wissenschaft, welche die formalen Eigenschaften ihrer Begrifflichkeit und Methodik besser expliziert hat als jüngere. In der Physiko-Chemie waren und sind die Erhaltungssätze von unglaublicher heuristischer Kraft für die Forschung gewesen (man denke auch an ihre Verbindung durch Einstein); in der Psychologie hat man bisher Dunkel und Dickicht vorgezogen.
Zwei Erhaltungssätze postulierten ursprünglich die Konstanz der gesamten Energie oder Materie im Universum nur axiomatisch; denn empirisch ist ja so etwas nicht nachzuweisen; doch im Experiment damit umzugehen. Forschungspraktisch implizieren sie eine Regel, die fordert, daβ in jedem Experiment die lokale Bilanz stimmen muss. Oder, wie Lewin so klar sagt, daβ man von Veränderung von physischen Objekten - und davon handelt jedes klassische Naturgesetz - nur dann sprechen kann, wenn „in der Veränderung eine Identität der geänderten Objekte besteht, die uns berechtigt, danach zu fragen, was die augenblicklich existierenden physischen Objekte früher gewesen sind oder später sein werden“ (Lewin, 1912, S. 91). Ein Naturgesetz wie „Wasser und Wärme ergibt Dampf“ kann seit langem nutzbare Erfahrungen korrekt zusammenfassen; es wird erst dann wissenschaftlich, wenn die gleiche materielle Natur von Wasser und Dampf erkannt und die Rolle der Energieform Wärme für das Verhalten der H2O-Moleküle verstanden ist. Entscheidend ist der Einbau der Erfahrung in einen allgemeineren Zusammenhang; die quantitative Ausformulierung ist sekundär, wenngleich für die Absicherung und für die Anwendung der Gesetze bedeutsam. Aber die Wahl des allgemeineren Zusammenhangs und die Art seiner Betrachtung ist eben ein Stück weit beliebig: diese Wahl konstituiert nämlich die verschiedenen Wissenschaften. Die Wahl der Betrachtungsweise und der Aufbau des Experiments sind Sache der Forscher, nicht der Natur, auch wenn die Natur unsere Wahlfreiheit beschränkt und uns nur ein bestimmtes Spektrum von Betrachtungsweisen offen hält. Es entbehrt freilich nicht einer gewissen Paradoxie, daβ diese Einsicht in den Naturwissenschaften erst dann Fuß zu fassen begann, als die Erhaltungssätze durch die Quantenmechanik ihre Relativierung erfahren hatten (vgl. z.B. Laurikainen, 1988). Die Anwendbarkeit des Erhaltungsbegriffs „für die Psychologie ist also abhängig von der Eigenart der psychischen Objekte oder von der Art, wie die Psychologie diese Objekte wissenschaftlich behandelt“ (Lewin, 1912, S. 90).
Kann man also die Terme von Bedingungsgleichungen je unabhängig voneinander begrifflich und operational definieren und dann hoffen, sie durch einen Akt empirischer Forschung dergestalt untereinander in Beziehung zu setzen, daβ ein nicht nur empirisch gültiger, sondern vor allem ein wissenschaftlicher Satz entsteht? Kann man also, wie Psychologen das immer wieder tun, einerseits Situationen und anderseits Reaktionen willkürlich definieren und dann verstehen wollen, wie das eine das andere bewirkt? Oder kann man Fähigkeiten, Eigenschaften, Zustände oder Motive von Personen definieren und dann hoffen, ihre Wirkungen in Handlungen anders, gründlicher als in Form eines statistischen Zusammenhangs wiederzufinden?
Psychologische Sätze mögen ja durchaus manchmal stimmen; aber sind sie deswegen schon wissenschaftlicher Natur? Es ist so reizvoll wie frustrierend, psychologische Erkenntnisse auf ihren Kerngehalt zu reduzieren und ihre Begründung daraufhin zu untersuchen, ob die Forderungen eines Erhaltungssatzes in irgendeiner Weise gewährleistet sind.
Ahnte Lewin schon 1912 die unbefriedigende, physik-orientierte Entwicklung seines Faches voraus? Jedenfalls öffnet er mit klarem Blick das Feld psychologischer Wissenschaft weit über den physiko-chemischen Erhaltungssatz hinaus, indem er die Aufmerksamkeit auf Objekte richtet, welche tatsächlich diesem Erhaltungssatz nicht folgen. Er stellt eine dreifache Klassifikation auf und exemplifiziert (1912, S. 93f, 103):
1. „Seiende Objekte, die nicht aus nichts“, sondern „aus einem andern Objekt entstehen“, bzw. „nicht in nichts“, sondern in ein anderes Objekt „vergehen“: z.B. physische Objekte, die also ihre Identität oder Existenz behalten müssen, wenn sich ihre Eigenschaften verändern.
2. „Seiende Objekte, die aus nichts entstehen oder überhaupt kein Entstehen oder Vergehen kennen“: z.B. begriffliche, insbesondere mathematische Objekte. Je nach der Auffassung der mathematischen Operatoren entstehen sie entweder aus anderen mathematischen Objekten, ohne daβ diese dabei vergehen, oder sie sind „zeitlos seiende Objekte, also unwandelbar und absolut starr“. In beiden Fällen hätte jedes mathematische Objekt seine eigene, nur soseinsmäßig, nicht aber existentiell auf andere bezogene Identität. Denn es gibt sie in unbegrenzter Zahl, vorhanden oder herstellbar, ohne daβ deswegen andere Gebilde vergehen müssten. Ihre Identität bleibt demnach nicht bestehen noch vergeht sie, wenn etwa mittels Funktionen Werte von Veränderlichen aus anderen „hergestellt“ werden. Aber psychische Gebilde haben zweifellos nicht diesen „ewigen“ Charakter.
3. Lewin verweist weiter auf die Tatsache, daβ viele physischen Gebilde ihre Veränderungsfähigkeit gewissermaßen in sich tragen, daβ ihre Veränderung unabhängig von „aller Zuwendung oder Erfassung durch ein Subjekt“ (Lewin, 1912, S. 94) stattfindet, während z.B. begriffliche Gebilde, wenn man sie nicht wie die mathematischen für zeitlos nimmt, konstituiert werden müssen. Dieser Vergleich ruft nach der Möglichkeit von weiteren Klassen von seienden Objekten, auf die er dann allerdings nicht weiter eingeht, die aber gerade für psychologische Fragestellungen von höchster Bedeutung sein müssten.
Denn physische Gebilde seien notwendig räumlich, zu einer Zeit stets an einem Ort und ausgedehnt; psychische Erscheinungen jedoch seien unräumlich, „nehmen keine Stelle im Nebeneinander der physischen Objekte ein“ (Lewin, 1911, S. 83). Dem widerspricht nicht Lewins späterer Versuch, in der topologischen Psychologie psychische Objekte räumlich-symbolisch zu repräsentieren. wenn eine nicht-räumliche Beziehung und ihre Stärke räumlich dargestellt werden. Wenn jedoch psychische Objekte selbst aus physischen Objekten in irgendeiner Weise hervorgehen sollen, dann
... müssten die physischen Objekte aber, um sich bei ihrer Veränderung als psychische Objekte identisch zu erhalten, den Raum verlassen können. (....) Ein 'Herauskommen aus dem Raum' wie ein 'Hineingehen in den Raum' aber widersprechen dem Begriff des Raums. Daraus folgt, daβ eine Veränderung eines physischen Objekts nicht unräumliche Gebilde ergeben kann, d.h. nicht in Gebilde, die nicht in ein und derselben Ordnung des Nebeneinanders mit physischen Objekten existieren. ... Danach bleibt für die Verbindung von physischen und psychischen Objekten lediglich eine begriffliche [oder reflexive, vgl. unten, AL] Zuordnung übrig, über deren Bestimmung damit noch nichts gesagt ist. In der Psychologie werde der Grundsatz, Psychisches und Physisches nicht als aufeinander wirkend anzusehen, allerdings recht selten eingehalten - sehr zum Nachteil der psychologischen Theoriebildung (Lewin, 1911, S. 84f.).
Wenn so die Unmöglichkeit des Auseinanderhervorgehens psychischer aus physischen und physischer aus psychischen Objekten aufgezeigt ist, oder allgemein, „daβ zwischen den Objekten verschiedener Seinsarten keine Identität besteht“ (Lewin, 1911, S. 85, Identität wie bisher verstanden als durchgehende Existentialbeziehung), so ist freilich damit noch nichts über existentielle Zusammenhänge oder „Identitätsbeziehungen zwischen psychischen Objekten untereinander“ (ebenda) gesagt. Wenn Psychisches und Physisches sogar aufeinander einwirken können sollen, so muss es neben den physischen und den begrifflichen zumindest eine weitere Identitätsweise oder Existentialbeziehung geben. Dann kann es sich auch nicht um eine bloß reflexive, nur im Bewusstsein des Betrachters konstituierte Konstanz handeln, sondern es sind reale, in der betrachteten Sache selbst begründete, also konstitutive Identitätsweisen unabdingbar.
Ich akzentuiere Lewins Gedanken: Wie können psychische Gebilde konzipiert und wie müssen sie in der Psychologie behandelt werden, damit Veränderungsreihen gesetzmäßigen Charakters konstitutiert sind und diese Veränderungen auch empirisch angegangen werden können? Wie könnte ein Prinzip lauten, das, in einer analogen Rolle zum Erhaltungssatz, in den Bereichen des Psychischen und des Psychophysischen Gebilde so konstituiert, daβ die unter ihnen wirkenden und von uns aufzeigbaren Zusammenhänge Gesetzescharakter bekommen können? Was könnte dieser Gesetzescharakter sein, welche Art Verursachung ist psychologisch möglich, was für Funktionsbegriffe soll die Psychologie bilden? Oder ist Psychologie nur als ein Sprachspiel durchführbar, dergestalt, daβ punktuell erlebte Gebilde in ein symbolisches Medium, zB eine Sprache, reflektiert und dort mit anderen solchen Reflexionen in wirklichkeitsferne, beliebige Pseudo-Genesereihen komponiert werden?
Solche Fragen haben Lewin nach meiner Überzeugung zu Beginn seiner Begegnung mit der Psychologie herausgefordert und ihnen hat er sein Lebens-werk gewidmet. Sein lebenslanges Dilemma ahnte Lewin wohl bereits voraus: so wie die Psychologie ihren Gegenstand bisher verstanden hat, ist sie den Fragen ausgewichen, weil „in der Psychologie prinzipielle Bedenken gegen das Aufwerfen der Ursachenfrage zu bestehen scheinen“ (Lewin, 1912, S. 87, 89). Aber im wesentlichen versucht er die Frage als eine offene zu stellen, keine Antwort zu präjudizieren (ebenda, z.B. S. 88).
In den beiden Fragmenten (1911 und 1912) des Anfänger-Studenten Lewin sind fast alle seiner Lebensthemen angebahnt:
1. Die Frage nach der Existenz von Sinngebilden - innerpsychischen (Vorstellungen, Affekten etc.) oder solchen der Kultur (aus einem Baum macht man einen Tisch) - wird gestellt und das psychophysische Problem als besondere Crux der Psychologie erkannt (Lewin, 1911, S. 81ff). Damit sind die Handlungspsychologie, das Lebensraumkonzept und die ökologische Sichtweise vorbereitet.
2. Die Kennzeichnung der Wissenschaften als Betrachtungsweisen (Lewin, 1911, S. 82), der damit verbundene Erkenntnisrelativismus und die Idee der vergleichenden Wissenschaftslehre als Methode sind im wesentlichen errungen (Lewin, 1912); die Methode der Handlungsforschung, nämlich die Interaktion von Welt und Forscher als Wirkungsgefüge in beiden Richtungen selber wirken zu lassen, ist impliziert.
3. Das Verhältnis zwischen Erhaltung und Wandel und der Genidentitätsbegriff sind klar vorgezeichnet (Lewin, 1911, S. 85; 1912, S. 88 et passim), und auch die erklärungsorientierte Begriffsbildung nach dem Prinzip der Reihung (später „Konditional-Genese“) und damit die Orientierung auf offene Entwicklung - als etwas zu Verstehendes wie als etwas zu Beeinflussendes - ist angelegt (Lewin, 1912, S. 89f, 105f.).
4. Die zentrale Rolle einer durchdachten theoretischen Psychologie wird fast selbstverständlich vorausgesetzt. Nicht direkt angesprochen sind Lewins soziales Engagement, die Wende zu Sozialpsychologie und Gruppendynamik.
5. Die beiden Fragmente, im akademisch-philosophischen Stil der Zeit geschrieben und in manchen Nebengedanken durchaus - wie ja auch die späteren Texte Lewins - etwas verwirrlich, stellen erregende Fragen. Sie stellen die akademische Disziplin, für die sich ihr Autor eben entschieden hat, gründlich in Frage.
Warum enthält das Genidentitäts-Buch von 1922 kein Psychologie-Kapitel?
Das Problem der Existenz psychischer Objekte oder Gebilde bzw. die Aufgabe einer adäquaten Konzeptualisierung psychologischer Prozesse muss Lewin gründlich gepackt haben. Zwar studiert er, nach dem Usus der Zeit, die experimentelle Psychologie im breiten Rahmen der philosophischen Tradition (s. Heidelberger & Schönpflug, dieser Band). Unterbrochen durch Kriegseinsatz experimentiert er über eine der fundamentalen Fragen des Faches (vgl. unten Abschnitt zu 1917 etc.), gibt aber seine wissenschaftstheoretische Fundamentalfrage nach dem Charakter und den Vorbedingungen psychologischer Erkenntnis beileibe nicht auf. Er schreibt im Felde und im Lazarett den Aufsatz Kriegslandschaft (1917), das bildhafte Voraus-Kondensat seines Lebenswerkes, und Teile seines ersten Buches Über den Begriff der Genese (1922/1983).
Um die Jahreswende 1919/20 reicht er dessen Manuskript als philosophische Habilitationsschrift ein, die von einem multidisziplinären Gremium unter der Federführung von Carl Stumpf abgelehnt wird (vgl. Métraux in Lewin, 1983, S. 18ff.). Ich habe den Inhalt und die nach meiner Überzeugung zentrale Bedeutung dieses Textes für das Verständnis von Lewins Psychologie bereits an anderer Stelle dargestellt (Lang, 1964, 1980, 1990). 1986 hat Kurt Back eine Darstellung des Genidentitäts-Buches vorgelegt. Meines Wissens ist dies - von Hinweisen von Donald Adams und Fritz Heider abgesehen - das erste Mal, daβ es im amerikanischen Milieu in seiner zentralen Bedeutung für Lewins Werk gewürdigt worden ist. Im vorliegenden Zusammenhang lässt sich die Schrift im Wesentlichen als eine Durchführung der in den beiden frühen Fragmenten angelegten Fragestellung nach den Existential-Voraussetzungen von wissenschaftlichen Sachzusammenhängen überhaupt sehen. Die Ausgangsfrage: Gibt es eine eigenständige Psychologie? ist aber in diesem Buch nur ganz am Rand angesprochen. Könnte er die 1911 und 1912 aufgeworfenen Fragen nicht befriedigend haben beantworten können?
Während Lewin 1911/12 von einer solchen Frage an die Psychologie angetrieben worden war, gibt es jetzt, nach einer Einleitung zur Grundlegung einer empirischen, vergleichenden Wissenschaftslehre (vgl. dazu auch Lewin, 1925), einen ersten Teil zu den Genesereihen in der Physik (30 Seiten), einen zweiten Teil in drei Abschnitten zu drei Arten von Genesereihen in der Biologie (150 Seiten) und einen dritten Teil zur vergleichenden Gegenüberstellung (12 Seiten). Die Psychologie taucht, abgesehen von zwei Erwähnungen im Vorwort und einer in einem weiteren Anhang, im Text nicht auf. Einzig im Anhang XII, betitelt Biologie und Psychologie, erwägt er die Möglichkeit und wenigstens teilweise Angemessenheit einer „biologischen Theorie 'psychischer Lebensvorgänge'“, um es aber sogleich als voreilig zu qualifizieren, wollte man „die Psychologie insgesamt als Teil der Biologie ansprechen“ (Lewin, 1922/1983, S. 299).
Der Text dieses Anhangs XII zeichnet ein begrifflich zwar klares, inhaltlich aber recht vages Bild des Verhältnisses zwischen psychischen und phys(iolog)ischen Funktionen oder Gebilden. Man müsse die Einwirkungen untersuchen, welche vorfindbare Gebilde aufeinander ausübten. Gebilde, sagt Lewin, die so gedacht werden, daβ sie Gegenstand der Biologie oder der Psychologie werden können, sollten von jenen Gebilden, die Gegenstand der Physik sein und daher physikalische genannt werden können, klar unterschieden werden. Ich ziehe den Inhalt dieser wissenschaftstheoretischen Erwägungen in Tabelle 1 zusammen und verweise auf meine früheren Bemerkungen zu Lewins Terminologie (im Übersetzer-Vorwort zur Feldtheorie von 1951/1963, S. 12, und in Lang, 1990, Fußnote 2, S. 125f). Den Übersetzern der Topologischen Psychologie ins Deutsche (Lewin, 1936/1969, S. 21) kann ich somit nicht beipflichten, daβ Lewin die Ausdrücke „psychisch“ und „psychologisch“ völlig unterschiedslos verwendet, obwohl ich eine gelegentliche Irregularität zugestehen muss. Für das doppeldeutige „psychological“ in den englischen Texten kann freilich nur der Zusammenhang entscheiden. In den deutschen Texten, bis hin zum erhaltenen Manuskriptteil zur Topologischen Psychologie, verweist „psychisch“ fast immer auf einen Phänotypus, „psychologisch“ auf einen Genotypus, also eine bestimmte wissenschaftliche Konstruktion. Psychologische Gesetze sind Sätze, die sich auf psychisches Geschehen beziehen, aber auch weiteres einbeziehen können.
Tabelle 1: Lewins Begrifflichkeit für die Gegenstände der drei Wissenschaften
Die letzte Zeile der Tabelle habe ich kursiv gesetzt, weil die Psychologie (im engeren Sinn, also als eine nicht-biologisch angelegte Psychologie) im Text des Anhangs unverbunden mit dem Übrigen nur ganz am Schluss, sozusagen im mehrfachen Konjunktiv, auftritt aber nicht diskutiert wird:
Es wäre ja möglich, daß ebenso wie die physikalischen Gegenstände nicht mit den physischen Gegenständen zu identifizieren sind, es auch 'psychologische' Gegenstände gäbe, die als Gegenstandstotalität das Objekt einer besonderen Psychologie wären, ohne mit der 'psychisch' genannten speziellen Gruppe biologischer Gegenstände identisch zu sein (Lewin, 1922/1983, S. 300).
In diesem Fall gäbe es „noch eine besondere selbständige Wissenschaft - die Psychologie“ (ebenda). Aber Lewin lässt die Frage offen stehen.
Genesereihen in weiteren Wissenschaften und der Psychologie (1925-28)
Was ist nun der Inhalt des Genidentitäts-Buches? Wie wir die Welt begreifen, ist nicht bloß Sache der Welt selbst, sondern ebenso sehr Folge der von uns gewählten Betrachtungsweise. Lewins These ist einfach, und doch ist es gar nicht leicht, ihren Gehalt mitzuteilen (Back, 1986; Lang, 1964, S. 18-33; Lang, 1990). Im vorausgehenden Abschnitt über den Erhaltungssatz ist eigentlich bereits alles Wesentliche erwähnt worden. Im Buch von 1922 und in einem späteren und umfassender angelegten Buchmanuskript aus dem Nachlass (Lewin, 1925-28/1983) wird jedoch deutlicher, daβ es ihm vor allem um das Problem der Konstitution von Wissenschaften geht. Ich werde das folgende bevorzugt anhand der Wissenschaftslehre (1925-28) darstellen, weil dort etwas mehr von Psychologie die Rede ist.
Mit der Vervielfachung der Disziplinen im Lauf des 19. Jahrhunderts sei zunehmend deutlicher geworden, daβ die „Forschung in allen Wissenschaften auf die Hilfe der übrigen Disziplinen angewiesen“ sei (Lewin, 1925-28, S. 322). Es ist deshalb eine Wissenschaftslehre gefragt, welche auf das Vorschreiben verzichtet, wie Wissenschaft sein solle, und stattdessen erforscht, wie Wissenschaften tatsächlich operieren: eine Wissenschaft über die Wissenschaften als eine empirische Wissenschaftslehre. Aber charakteristischerweise für einen Gestalttheoretiker fügt er bei:
Die Wissenschaftslehre wird ihrer Aufgabe erst gerecht werden, wenn sie die Wissenschaften nicht mehr bloß als historisch-konventionelle, sozusagen zufällige Konglomerate von Sätzen, Methoden, Theorien deutet, sondern als Gebilde zu verstehen versucht, die eine eigene Struktur, eine Eigennatur besitzen und deshalb begrifflich und gesetzlich genau erfaßbar sind (Lewin, 1925-28, S. 322).
Damit ist die vergleichende Methode nahegelegt, welche Lewin im ersten Teil des Genidentitäts-Buches entwickelt und für die er auch später in einem gewissen Umkreis auf Interesse stößt (Lewin, 1925; vgl. auch Métraux, in diesem Band). Ein Rätsel bleibt, warum Lewins empirische Wissenschaftslehre, die in mancher Hinsicht durchaus den Einsichtsstand des letzten Drittels des 20. Jh. vorwegnimmt, über einen kleinen Berliner Kreis hinaus kein Echo gefunden hat. Bisher fehlen Kenntnisse über die Hörer von Lewins wissenschaftstheoretischen Vorlesungen und Vorträgen und über das Schicksal der von ihnen rezipierten erregenden Gedanken ebenso wie über deren Ursprünge.
Manches von Lewins Erkenntnisrelativismus und Wissenschaftsverständnis ist bei Ernst Mach und bei Georg Simmel angebahnt. In seinen Schriften verweist Lewin nur selten und meist nur global auf beide. Mach (1838-1916), der die Naturwissenschaft als in biologischen, psychologischen und sozialen Prozessen begründet erkannte, wurde allerdings bereits seit der Jahrhundertwende positivistisch umgedeutet, obwohl eine ganze Reihe von Bewegungen zur Überwindung des Positivismus Mach entscheidende Impulse verdanken (vgl. Haller & Stadler, 1988). Er erklärte das Leib-Seele-Problem zum Scheinproblem, weil die perzeptiv-kognitive Rolle des Erkennenden so wenig idealistisch verabsolutierbar ist wie der materielle Charakter von Erkanntem materialistisch. Simmel (1858-1918), der mit der Berliner Fakultät noch schlimmere Erfahrungen gemacht hatte als Lewin und bis 1914 mit großem Publikumserfolg, aber nur als Extraordinarius, in Berlin lehrte, ist nicht nur ein ebenso entschiedener Evolutionist, auf biologischer wie auf kultureller Ebene, sondern ein ebenso unzeitgemäßer wie radikaler Kant-Nachfolger wie Mach gewesen. Nicht nur die Möglichkeit, sondern sogar die Nützlichkeit des Erkennens erzeuge für uns die Gegenstände des Erkennens; Wahrheit sei somit ein Verhältnisbegriff (vgl. Helle, 1988). Undenkbar, daβ Lewin die Ideen der beiden eminenten Psychologen nicht gekannt hat; aber wie genau hat er sie gelesen? Oder hat er es vorgezogen, ihre Ideenwelt selber neu zu erfinden?
Die wichtigsten Aufgaben der allgemeinen Wissenschaftslehre (Lewin, 1925/28) sind die Bestimmung der Wissenschaften als Einheiten (S. 366-427) und das Verständnis der Entwicklung der Wissenschaften (S. 335-365). Lewin untersucht verschiedene Möglichkeiten der Bestimmung von Wissenschaften als Einheiten oder selbständige Sinngebilde. Er kommt, nach der Ablehnung der Einheitswissenschaft, zum Schluss, daβ formal-logische, methodologische, erkenntnistheoretische oder gegenstandsbezogene Eigentümlichkeiten der Wissenschaften nicht ausreichen, um sie gegeneinander abzugrenzen. Lewins Ausführungen dazu (1925/28, S. 366-411) scheinen mir übrigens, von Einzelheiten abgesehen, auch heute gültig; in die damalige wissenschaftstheoretische Landschaft müssen sie recht erratisch eingebrochen sein, wenn man von den erwähnten Außenseitern Mach und Simmel einmal absieht. So kann man zur Kritik am Positivismus bei Lewin so schöne Sätze lesen wie:
Nun fragt es sich, ob man es bei der Physik mit einem speziellen Beispiel eines allgemeinen Sachverhalts zu tun hat, der besagt, daß jede Wissenschaft die ins Gebiet einer anderen Wissenschaft fallenden Eigenschaften und Gebilde nicht zur Tatsächlichkeit rechnet (1925/28, S. 391).
Wenn Lewin dennoch einen weiteren Versuch, in sich einheitliche Wissenschaften zu umschreiben und gegeneinander abzugrenzen, unternimmt, so durchaus im Bewusstsein um dessen hypothetischen Charakter (Lewin, 1925-28, S. 411). Sein Kriterium liegt in der von den verschiedenen Wissenschaften auf unterschiedliche Art vorausgesetzten Existenz ihrer Gegenstände.
Wissenschaften entwickeln ihre Beschreibungsbegriffe, Methoden und Erklärungssysteme anhand der Eigenschaften oder des Soseins der von ihnen ausgewählten Gegenstandsbereiche und -aspekte. Die Existenz oder das Dasein dieser Gegenstände aber setzen sie voraus, und dies unabhängig davon, ob sie sich mit ihren begrifflichen Darstellungen auf reale Entitäten oder auf ideelle (Sinn-) Gebilde oder Prozesse beziehen. Existenz kann man als solche nicht wahrnehmen, da direkte oder durch Instrumente vermittelte Wahrnehmung stets Eigenschaften ihrer Objekte betrifft. Was - auf irgendeine Weise - wahrgenommen oder dargestellt werden kann, muss aber existieren, weil es ja wirkt. Die Existenz ist also ein erschlossener Aspekt jeder Gegebenheit.
Das Verdienst von Lewins Genidentitäts-Buch ist es nun, daβ es mit der vergleichenden Methode in detaillierter Konkretheit nachweist - Einzelheiten mögen im Lichte der Wissenschaftsentwicklung revisions- oder ergänzungsbedürftig sein -, daβ verschiedene Wissenschaften durch die Art und Weise, wie sie das Sosein ihrer Gegenstände angehen, unterschiedliche Existenzweisen dieser Gegenstände voraussetzen. Im Genidentitäts-Buch konzentriert Lewin diesen Nachweis auf den Vergleich zwischen Physiko-Chemie und Biologie, während er im Manuskript zur Wissenschaftslehre darüber hinaus, freilich meist in eher allgemeiner Weise, auch auf Disziplinen wie Ökonomie, Geschichtswissenschaft, Kunstwissenschaft, Mathematik, Wissenschaftswissenschaft, Jurisprudenz und auch Psychologie Bezug nimmt. Für Physik und Biologie wird in aller Klarheit gezeigt, daβ deren Gegenstände in der Zeit als in Reihen auseinander hervorgehender Gebilde gedacht werden müssen, damit das begriffliche und methodische Instrumentarium dieser Wissenschaften überhaupt greifen kann. Diese Reihen sind in den beiden fundamental anders: unter anderem betreffen sie in der Physik Reihen von Substanzen und Energieformen, in der Biologie von Strukturen und Folgen von Strukturen. Die Möglichkeit, auch bei den anderen Disziplinen Genesereihen vorauszusetzen, kommt deutlich zum Ausdruck; doch bleiben diese Reihen, von Ausnahmen abgesehen, wenig klar erkennbar, eher illustriert als konzipiert.
Ich übernehme und ergänze Beispiele: So existiert Kohle für die Physiko-Chemie als ein überaus komplexes Konglomerat, das durch seine Verbrennung in Wärme, Gase und Asche, die Wärme ihrerseits in Druck und dieser in mechanische Bewegung, übergeführt wird. Für die Ökonomie ist Kohle hingegen ein je nach Jahreszeit und Marktlage mehr oder weniger begehrtes Gut, dessen Genesereihe die Erdgeschichte, das Herkunftsbergwerk, die Möglichkeiten ihres Abbaus und die Techniken ihrer Verwertung, die Transportsysteme, die Zahlungsmittel, die Bedürfnisbefriedigung von lohnabhängigen Bergarbeitern, Kaufleuten und ungern frierenden Stadbewohnern etc. einschließen kann. Solche Genesereihen gibt es also überhaupt nur in sozio-kulturellen Systemen. So existiert eine Stadt als Gegenstand der Kulturgeschichte trotz wechselnder Bewohner und Gebäude, Gestalt und Ausdehnung über Jahrhunderte; dasselbe gilt für eine Institution oder eine Nation als Gegenstand der Jurisprudenz, ja, diese erhalten und verlieren ihre formelle Existenz erst durch Rechtsetzung. So ist ein Werk der Kunst oder Literatur für die entsprechenden Kulturwissenschaften ein Sinngebilde mit thematisch, stilistisch, technisch u.a.m. spezifizierbarer Vorgeschichte, Entstehungsgeschichte, Rezeptionsgeschichte; seine mit den Interpretationsepochen und -kreisen wechselnden Wirkungen gehören in der Betrachtung dieser Disziplinen wesentlich zu seiner Existenz.
Während Lewin 1922 der überzeugende Nachweis gelingt, daβ Physiko-Chemie einerseits und die biologischen Disziplinen anderseits ganz unterschiedliche Genesereihen implizieren - die biologischen Disziplinen überdies in drei unterschiedlichen Formen -, kann man den Texten von 1925-28 entnehmen, daβ diese physikalischen und biologischen Genesereihen-Typen generell den Vorgehensweisen der anderen Wissenschaften nicht entsprechen; doch bleibt man im Ungewissen, wie denn nun diese anderen Reihen allgemein zu konzipieren sein könnten. Über die psychologischen Genesereihen wird im Unterschied zu den ökonomischen oder kulturhistorischen besonders wenig ausgeführt.
Ich kann hier nicht in Details der Genesereihen-Arten eintreten, möchte aber mit einem vergleichenden Beispiel (Lewin, 1925-28, S. 434) deutlich machen, wie verblüffend elementar und folgenreich diese auch in der heutigen Wissenschaftspraxis kaum je explizit gemachte Einsicht wirklich ist. Eltern und Kinder, egal welcher Art Lebewesen, sind zweifellos form- und verhaltensähnliche Gebilde, von denen, biologisch gesehen, stets das eine gesetzmäßig aus dem andern hervorgeht, keinesfalls umgekehrt. Physiko-chemisch gesehen sind aber beides ebenso separate wie zufällige Ansammlungen von Atomen und Molekülen, die miteinander physikalisch nur dann zu tun haben, wenn das eine das andere z.B. herumträgt oder wärmt; und es ist kein physiko-chemisches Gesetz möglich, welches gerade diese beiden Aggregierungen oder gar ihren selbstreproduktiven Zusammenhang erklären könnte, obwohl kein einziger der dazu führenden Prozesse in irgendeiner Weise irgend einem physiko-chemischen Gesetz widerspricht (sieht man vom sogenannten Entropie-Gesetz ab, das für lebende Gebilde eben gerade nicht gilt). Die Gestalt der beiden Individuen und ihr Werden ist eben ein je einmaliger historischer Prozess, bedingt durch die Genomgeschichte der Vorfahren und die Lebens- und Erfahrungsgeschichte der beiden Gebilde in ihrer tatsächlichen, ebenfalls historisch-einmalig so gewordenen Umgebung. Biologisch (und psychologisch) ist gesetzmäßig, was physiko-chemisch ein Ergebnis von (extrem unwahrscheinlichen) Zufallsprozessen darstellt. Gerne hätte man Lewin mit Kurt Back (1986) gefragt, wie die Eltern-Kind-Genese oder die Existenz von Gruppen psychologisch zu verstehen sei.
Die Physiko-Chemie verfolgt gewissermaßen das „Schicksal“ von elementaren, d.h. als solche mit gleichartigen austauschbaren, Atomen und Molekülen, ihren Bestandteilen und ihren Aggregaten, was immer ihren immanenten Eigenschaften entspringt und was ihnen die herrschenden energetischen Bedingungen auferlegen. Sie formuliert Gesetze über die möglichen und notwendigen Veränderungen und beschreibt die wirklichen Schicksale dieser untereinander in Raum und Zeit energetisch in Wechselwirkung tretenden Gebilde. Dabei tut sie gut, alle Gebilde-Schicksale in Reihen zu denken und im Rahmen des Erhaltungsprinzips darauf zu achten, daβ die Substanzen durch die Reihen von wechselnden Erscheinungsformen jeweils restlos erhalten bleiben, d.h., daβ nicht aus nichts etwas dazu tritt oder daβ nicht etwas von ihnen in nichts verschwindet.
Die Biologie hingegen verfolgt das Schicksal von als solchen einmaligen Formierungen aus Atomen und Molekülen, die wir Zellen, Organe oder Organismen nennen und deren Gestalt trotz ihrer Einmaligkeit selbst-reproduktionsfähig ist, weil sie nicht nur von den Eigenschaften ihrer Elemente selbst und den Umgebungsbedingungen, sondern zusätzlich von geschichtlich gewordenen und ihnen eigenen „Programmen“ abhängen. M.a.W. im biotischen Bereich bilden die Strukturen Genesereihen: diese Strukturen sind dynamisch, haben Anfang und Ende und bleiben umso besser erhalten, je enger ihre Verwandtschaft ist; Stoff und Energie werden aber laufend mit der Umgebung ausgetauscht.
Bereits die von Lewin detailliert untersuchten Genesereihen zeigen eine große Vielfalt von Existenzformen. Sie können kontinuierlich oder diskret konzipiert sein, in der Zeit unendlich oder mit Anfang und Ende, vorwärts und rückwärts in der Zeit symmetrisch oder gerichtet; sie können linear sein oder divergent und konvergent verzweigt; sie können von anderen Reihen getrennt oder mit ihnen gekoppelt sein oder sich in bestimmter Weise mit ihnen schneiden.
Was bedeutet das alles für die Psychologie? Warum hätte ich gerne ein Psychologie-Kapitel im Genidentitäts-Buch oder in der Wissenschaftslehre? Nun, Lewin zeigt, welch zentrales Problem die Psychologie bis heute offen gelassen hat. Warum sind wir in der Psychophysik oder in der Handlungstheorie mit Sätzen zufrieden, deren Terme untereinander eigentlich viel unverträglicher sind als die sprichwörtlichen „Äpfel und Birnen“, die man nicht addieren kann; und dies in Bereichen, wo wir keinen Begriff wie „Obst“ konzipiert haben. Dasselbe gilt wohl für die meisten Kultur- und Sozialwissenschaften.
Wie könnten also Genesereihen konstituiert sein, welche von Aspekten der Welt in die Umwelt von Individuen und über deren Wahrnehmung zu ihren Gedächtnisinhalten reichen? Was müssen oder können das für Genesereihen sein, welche systemartige innerpsychische Gebilde mit ihren kognitiven und ihren motivationalen Vorgängen tragen, welche die Bezogenheit von Gedächtnisinhalten von Individuen auf das Sosein ihrer Umgebung, auf die eigene Geschichte, ja auf die eigene Zukunft ermöglichen und trotz ihrer Vielfalt diese seltsame Kohärenz bis hin zur Ichhaftigkeit bedingen? Und welche über ihre handelnden Subsysteme Wirkungen in die Welt zurücktragen, indem diese innerpsychischen Gebilde wesentliche Bedingungen werden für das, was wir allgemein - in ihren materiellen und symbolischen Aspekten - die Kultur nennen; und deren Komponenten und Aspekte dann ihrerseits wieder von uns selbst und von anderen Menschen irgendwie aufgenommen werden?
Ich glaube, daβ die Psychologie - wie andere jüngere Disziplinen - nur dann eine befriedigende Wissenschaft werden kann, wenn ihr die Klärung durchgängiger und konsistenter Existenzverhältnisse in ihrem Bereich oder wenigstens in ausgrenzbaren Teilbereichen gelingt. Und hierzu sind in seiner Studienzeit von einem der Größten unserer Disziplin entscheidende Vorarbeiten geliefert worden. Diese Einsicht Lewins, daβ Genesereihen expliziert werden sollten, müsste die Psychologie auch inhaltlich voranbringen. Aus der Überlegung des Hin- und Zurückwirkens zwischen Individuum und Umwelt leitet sich die Kreishaftigkeit, psychologischer Genesereihen ab; nimmt man die Tatsache der Entwicklung von Mensch-Umwelt-Systemen hinzu, müsste sich das Bild von „spiraligen“ Genesereihen aufdrängen (vgl. Lang, 1981, 1992, 0998, 2005). In der Psychologie ist, so weit ich sehe, bis heute neben der spekulativen Vision der Gestaltkreislehre Viktor von Weizsäcker s (1947) nur ein Ansatz diesen Überlegungen wenigstens in methodologischer Hinsicht gerecht geworden, allerdings nur unzulänglich in der empirischen Durchführung. Es ist der von Vygotsky in den frühen Dreißigerjahren, übrigens unter Diskussion mit Lewin, begründete sozial- oder kulturhistorische Ansatz (vgl. z.B. Wertsch, 1985). Aber wie sollen wir die psychologischen Genesereihen fassen?
Einen jungen Leser, der ein Netz von Gewissheiten durch seine Fragen hindurch zu knüpfen suchte und zwar das Genidentitäts-Buch mit seinen abenteuerlichen Einsichten in biogenetische Reiche verschlingen, aber die Fragmente von 1911/12 nicht kennen konnte, mussten Lewins Zweifel leicht stärker beeindrucken als die im mehrfachen Konjunktiv enthaltene Möglichkeit einer eigenständigen Psychologie. Ich jedenfalls muss bekennen, daβ ich mich von der auf S. 47 zitierten Textstelle - und bekräftigt von Aussagen wie dem Schlusssatz des 4. Kapitels der Topologischen Psychologie (Lewin, 1936/1969, S. 50) - dazu verführen ließ zu glauben, die Psychologie sei bezüglich der Existenzweise ihres Gegenstandes am besten analog der (organismischen Individual-) Biologie zu sehen, obwohl Lewin genau das eben nicht behauptet. Nicht daβ ich einem biologischen oder gar physikalischen Reduktionismus des psychologischen Fragens verfallen wäre - da hatte Lewin durch seine Separierung der Wissenschaftsindividuen klar genug vorgearbeitet. Aber ich konnte mir keine eigene Existenzweise psychologer Gebilde vorstellen. Erst nach nahezu dreißig Jahren Befangenheit eröffnet sich mir jetzt die Möglichkeit der Konzeptualisierung von psychologischen oder besser psycho-oekologischen Genesereihen mit Hilfe einer triadischen Semiotik im Anschluss an C. S. Peirce (vgl. Lang, 1992, und später).
Aber wie kommt es, daβ Lewin, der als Anfänger-Student ausdrücklich von einem Problem der Psychologie gefangen worden war - „Das Erhaltungsprinzip in der Psychologie“ betitelte er seinen Text von 1911 -, in seinen publizierten Arbeiten zur Wissenschaftslehre die Psychologie kommentarlos ausließ, ja in der einzigen Bezugnahme eher Zweifel an der Möglichkeit einer eigenständigen Wissenschaft Psychologie schürte oder sich jedenfalls dazu nicht äußern wollte, obwohl er die Erörterungswürdigkeit der Frage betonte? Die Frage nach dem fehlenden Psychologie-Kapitel im Genesereihen-Buch ist mir inzwischen zur Schlüsselfrage geworden. Ich hatte die Frage bei meiner Lektüre 1960 nicht übersehen; doch die Antwort hatte ich mir zu leicht gemacht: wenn Lewin mit der vergleichenden Methode keine psychologischen Genesereihen beschreiben könne oder wolle, sagte ich mir, dann müsse er zum Schluss gekommen sein, daβ dies nicht möglich wäre. Der Schlussabschnitt vom Anhang XII wäre dann halt eine höfliche Absage an eine eigenständige Psychologie gewesen. Bleiben wir also bei den biologischen Genesereihen, schließlich braucht Psychisches ein aktives Gehirn, um zu existieren!
Was ich bei dieser Antwort übersehen, obwohl ich es gut genug gewusst habe, ist die Tatsache, daβ Lewin zeit seines Lebens nichts anderes als eine eigenständige Psychologie entworfen und durchzuführen versucht hat. Gegenüber dem Isomorphie-Biologismus seiner älteren Berliner Gestaltpsychologen-Kollegen hat er sich ja deutlich abgesetzt (vgl. Vorwort zu Lewin, 1936). Der Schlussabschnitt vom Anhang XII, so gelesen, könnte ein verkapptes Bekenntnis zu einer selbständigen Psychologie sein, ein leicht verschlüsseltes Versprechen: ich werde Euch eine solche Psychologie machen, wenn ich nur „meiner eigenen Richtschnur folge“. Ein nicht zu lautes und nicht zu eindeutiges Bekenntnis, weil die Herausforderung groß genug war; ein Scheitern musste in Betracht gezogen werden.
Mein erster Impuls nach dieser befreienden positiven Umdeutung war: man müsste das Psychologie-Kapitel des Genidentitäts-Buches nachträglich zu schreiben versuchen. Wird sich die Psychologie auf einen einzigen Genidentitätsbegriff bringen lassen oder wird sie mehrere verschiedene benötigen? Die Psychophysiker, die Bewusstseinspsychologen, die verschiedenen Tiefenpsychologen, die Gestalttheoretiker, die Behavioristen, die Kognitivisten, die Informationsverarbeiter, die Informationsaufpicker ... - wer verfügt über die Voraussetzungen für ein solch gewaltiges wissenschaftshistorisches und psychologievergleichendes Unternehmen? Aber eine würdige und vielleicht folgenreiche Aufgabe für die Psychologiegeschichte wäre das allemal.
Nach einem solchen Gefühlswechselbad in später Auseinandersetzung mit meinem geistigen Vater nahm ich die Frage nach dem fehlenden Psychologie-Kapitel in Lewins Schrift endlich ernst: warum hatte er es nicht geschrieben, da er doch ursprünglich genau mit diesem Ziel ausgezogen war? Denn inzwischen hatte ich ja die Fragmente von 1911 und 1912 (vgl. oben). Zeitmangel ist kein zureichender Grund; er hat sich die ganzen 20er Jahre lange genug mit Wissenschaftstheorie befasst und hätte es „nachliefern“ können.
Da uns Dokumente zu Lewins konzeptuellem Weg zwischen 1912 und 1920 fehlen, bleibt nur die Spekulation. Meine Vermutung - ich kann sie nicht herleiten, aber ihre Annahme erhöht die Prägnanz der Gesamtgestalt von Lewins Werk - geht dahin, daβ er bei der Suche nach den psychologischen Existential-Annahmen im Unterschied zu den physikalischen und den biologischen Wissenschaften in der bestehenden Psychologie nichts Vernünftiges finden konnte. Man kann sich tatsächlich des Eindrucks nicht erwehren, daβ viele psychologische Begriffe auf Gebilde verweisen, die aus (nahezu) nichts kommen und in nichts vergehen können.
Es ist keine Übertreibung festzustellen, daβ sich die meisten Psychologen für das existentielle Schicksal psychischer Gebilde nur punktuell interessieren. Die Aufteilung der Psychologie in Teildisziplinen verleitet dazu, nur noch methodisch, kaum aber inhaltlich zu berücksichtigen, daβ psychologische Funktionen stets verkettet auftreten. Anderseits hat man in Konzepten wie Persönlichkeitsdisposition oder Entwicklungsstufe zeitlose Konglomerate gebildet, die sehr großzügig mit der Prozesshaftigkeit des Psychischen umgehen.
Beispielsweise muss eine Erinnerungsvorstellung auf eine Wahrnehmung in einer konkreten Situation zurückverweisen, für die ja im kontrollierten Experiment auch gesorgt wird; aber erst Bartlett und die Gestaltpsychologen haben gezeigt, daβ Gedächtnisspuren spontanen Veränderungen unterliegen können. Bis heute wird immer wieder missachtet, daβ die verbale Beschreibung einer Erinnerung nicht die Erinnerung selber ist, daβ vielmehr ein eher lockerer Zusammenhang besteht. Oder von den Tiefenpsychologen wird ein Charakterzug oder ein pathologisches Symptom auf eine frühkindliche Erfahrung zurückgeführt, das Schicksal des Systems zwischen den beiden Zeitpunkten aber ausgeblendet. Oder eine sogenannte Fähigkeit wird aufgrund einer aktuellen Leistung bestimmt und damit künftige Leistungen prognostiziert, ohne daβ die aktuellen und die dispositionellen Bedingungen der diagnostischen und einer künftigen Leistung in irgendwie anders als postulativ sachlich und genetisch untereinander in Bezug gesetzt worden sind. Die Beispiele sind beliebig vermehrbar.
Die Erkenntnis, die Psychologie organisiere ihren Gegenstand sozusagen überhaupt nicht in Genesereihen, könnte Lewin erschreckt haben. Daraus ließe sich sein wissenschaftstheoretisches Schweigen zur Psychologie bis nach der Mitte der 20er Jahre verstehen. Doch muss ihn die Einsicht, die bestehende Psychologie habe kein konzeptuelles Rückgrat, nicht zur Aufgabe dieses Faches oder dieser Frage veranlasst, sondern, im Gegenteil, herausgefordert haben, eine Psychologie über Genesereihen zu konstruieren.
Ich muss mir versagen, an dieser Stelle weitergehende Mutmaßungen zu den psychologischen Genesereihen zu äußern, sei es zu vielleicht erschließbaren in der bestehenden Psychologie, sei es programmatisch zu weiteren Möglichkeiten. In aller gebotenen Kürze möchte ich aber einige Aspekte des späteren Werkes von Lewin unter dem Gesichtspunkt der psychologischen Genesereihen betrachten. Die Leitlinie dieser Heuristik könnte etwa lauten: Seine Herausforderung von 1911/12, ein konzeptuelles Rückgrat (Erhaltungssatz, Genesereihen) in der bestehenden Psychologie zu finden, hat Lewin damals nicht einlösen können. Vermutlich deswegen, weil in den frühen Entwicklungsstadien, in denen sich die Psychologie damals - wie wohl auch heute noch - befand (vgl. dazu Lewin, 1925-28, S. 335-362), auf konzeptuelle Konsistenz zu wenig geachtet worden ist. In der Folge hat er sich dafür entschieden, selber auf eine Psychologie hin zu arbeiten, welche seinen Träumen gerecht werden könnte. Wiederholt hat er mit Wendungen wie der „These von der strengen Gesetzlichkeit des Psychischen“ (z.B. Lewin, 1926, S. 298ff) diese Zielsetzung markiert. Was für Themen stellten sich einer solchen Psychologie und wie ging Lewin sie an?
Von der klassifizierenden und korrelierenden zur konditional-genetischen Psychologie (Lewin, 1927, 1931)
Die beiden Aufsätze Gesetz und Experiment in der Psychologie aus dem Jahre 1927 und Der Übergang von der aristotelischen zur galileischen Denkweise in Biologie und Psychologie aus dem Jahre 1931 haben einen weitgehend verwandten Inhalt. Der frühere ist der erste Text, in dem Lewin ausdrücklich sein wissenschaftstheoretisches Denken auf die Psychologie und ihre Methodik anwendet. Hier entwickelt und propagiert Lewin die konditional-genetische als die der Psychologie angemessene Erklärungsweise. Dem Kenner des Genidentitäts-Buches wird nichts grundsätzlich Neues geboten, wohl aber wird in vielen Einzelheiten erläutert, was in den Fragmenten von 1911/12 gefragt und in den Texten der frühen 20er Jahre nicht ausgeführt worden ist.
Entgegen seinen Grundsätzen einer empirischen Wissenschaftslehre wird jetzt in den wissenschaftstheoretischen Publikationen allenthalten deutlich, daβ Lewin nicht so sehr die Analyse einer vorgefundenen Psychologie betreibt, sondern ein eigenes Programm entwickelt. Eine seiner zentralen Thesen ist, daβ „im Prinzip ein einziges Exemplar“ zur Bestimmung eines Geschehenstypus und damit zur Formulierung eines Gesetzes genügt (1927a, S. 292f). Es leuchtet sofort ein, wenn man bedenkt, daβ eine aufs Individuum gerichtete Psychologie zunächst einmal für jedes Individuum eine eigene Genesereihe voraussetzen muss. Natürlich kommen Genesereihen-„Zweige“ (was immer diese sein mögen) auf dem Weg von Wahrnehmungen bzw. Erfahrungen von außen hinzu und es gehen Wirkungen vom Individuum in die Welt hinaus, beispielsweise in Form von kulturellen Produkten, die später rekursiv in die individuelle Genesereihe zurückmünden mögen oder auch nicht. Aber es ist (außer in statistischen Betrachtungen) sinnlos, Entitäten aus Genesereihen, die sich mit derjenigen des interessierenden Individuums nicht schneiden, überhaupt in Betracht zu ziehen. Über den besonderen Charakter von psychologischen Genesereihen führt Lewin aber weiterhin nichts Genaues aus. Der Akzent ist auf dem Methodischen.
Die „Beschreibung eines konditional-genetischen Geschehenstypus“, so wird gesagt, „bzw. das Zusammenspiel mehrerer solcher Typen“ sei „nichts anderes“ als das Gesetz (1927a, S. 304), das, im Unterschied zur Regel, „Ausnahmen schlechterdings nicht zuläßt“ (S. 313). Das Problem liegt freilich in der Zirkularität: eine Genesereihe kann man nicht direkt wahrnehmen (1912, S. 102; 1927, S. 306f). Vielmehr muss man sie theoretisch voraussetzen (z.B. in Form des Erhaltungsprinzips); um sie in ihrer Eigenart zu spezifizieren, braucht man dennoch viel Vorwissen. Denn man kann die Eigenart von Genesereihen nur aus mittels bestimmter Vorgehensweisen gewonnenen empirischen Befunden erschließen, indem man von gültigen Soseins-Zusammenhängen auf die Existenz und die Existenzrelationen der in diesen Vorgehensweisen involvierten Gebilde zurückschließt. Kennt man also die Soseins-Zusammenhänge oder das Gesetz eines Gegenstandsbereichs, so ist damit auch die Art der Genesereihe bestimmt.
Im Zusammenhang mit der aristotelischen Denkweise (1931) erfahren wir jetzt mehr über die Dynamik des psychischen Geschehens und auch über psychische Gebilde mit Wertcharakter: die Genesereihen müssen über Gebilde gehen, welche positive bzw. negative Beziehungen zwischen einer konstanten Instanz, der Person, und variablen Repräsentanten der Umwelt, also die Aufforderungscharaktere oder Valenzen, einschließen. Systeme in gespanntem und in gelöstem Zustand müssen existentiell untereinander verbunden sein, damit ihre Dynamik zum Wirken kommen kann. Für den Handlungs- und Affektpsychologen Lewin ist nicht mehr ausblendbar, was eigentlich den Wissenschaftstheoretiker schon hätte interessieren können, wenn man bedenkt, in wie kühner Weise Simmel (1900 /1989) implizite Genesereihen zwischen psychischen Erscheinungen wie Begehren und kulturellen Konkretisierungen wie Geld gestiftet hatte. Sätze wie der nachstehende bekommen einen volleren Sinn, wenn man sie im Lichte der Psychologische-Genesereihen-Heuristik liest.
Die Dynamik des Geschehens ist allemal zurückzuführen auf die Beziehung des konkreten Individuums zur konkreten Umwelt und, soweit es sich um innere Kräfte handelt, auf das Zueinander der verschiedenen funktionellen Systeme, die das Individuum ausmachen (Lewin, 1931, S. 270, Hervorhebung im Original).
Der Wissenschaftstheoretiker Lewin zeigt nun den konsequenten Gestalt- und Systemtheoretiker. Und er greift zu einer Zeit, da er das Lebensraum-Konstrukt und die Formel Verhalten, Entwicklung = f (psychologische Person, psychologische Umwelt) erarbeitet, bereits weit voraus auf den Begriff des psychologischen Feldes, ja, auf den Lewin der psychologischen Ökologie (vgl. Abschnitt zu 1939 etc.). Zwischen Lewins Wissenschaftstheorie und seiner theoretischen Psychologie besteht ein Zusammenhang, wie ich ihn von keinem anderen Wissenschaftstheoretiker kenne. So ist etwa der Satz: „Experiment und Theorie sind Pole eines dynamischen Ganzen“ (1926, S. 297) die Aussage eines psychologischen Wissenschaftstheoretikers, der Wissenschaft als einen Prozess in - auch psychologisch zu konstruierenden - Genesereihen denkt. Kommen wir damit zu den inhaltlichen Aspekten von Lewins theoretischer und praktischer Psychologie.
Assoziationen oder Willensakte wirken nur in gespannten Systemen(Lewin, 1917, 1922, 1926)
Lewins Dissertation betraf bekanntlich das „Grundgesetz der Assoziation“. In der Nachfolge von Narziss Ach führte er den Nachweis, daβ eine durch assoziative Koppelung gestiftete Reiz-Reaktions-Verbindung zur Erklärung des Auftretens der Reaktion nicht ausreicht; zusätzlich müssen geeignete motivationale Voraussetzungen bestehen. Im Lehrbeispiel: gelernt zu haben, daβ Drücken der Klinke die Türe öffnet, bedeutet nicht, daβ jeder Blick auf eine Klinke die Reaktion „drücken“ auslöst; man muss sich vielmehr auf dem Weg hinein oder hinaus befinden. Die assoziative Verbindung ist also nur ein Teil eines umfassenderen und dynamischen Systems. Die Einsicht ist heute vielleicht trivial. In unserem Zusammenhang lässt sie sich sehen als einen ersten Schritt zum psychologischen Feld: alle notwendigen Bedingungen eines Verhaltens aufzeigen und sie in ihrem Zusammenhang begreifen. Das ist die Forderung auf der Soseins-Ebene. Auf der Daseins-Ebene heißt das, den Blick auf alle möglichen Glieder der Genesereihe zu richten, von welcher ein Glied die Aufmerksamkeit des Forschers gefangen hat: für jeden vermuteten Zusammenhang ist zu untersuchen, was auch noch wirkt oder bewirkt wird. Jedes einzelne phänotypische Gebilde ist nur
ein Inbegriff von Verhaltungsweisen. Es ist charakterisiert als ein Kreis von Möglichkeiten derart, daß erst mit Angabe eines bestimmten Bedingungskomplexes, oder wie man auch sagen kann, einer bestimmten Situation ein bestimmter Phänotypus festgelegt wird (Lewin, 1926, S. 308),
also konditional-genetisch oder kausal-dynamisch aufgeklärt ist.
Jetzt sind also die Lernvorgänge, die Affekte, die Gedächtnistäuschungen etc. von 1911 (S.81) nicht mehr länger eigenartige Bewusstseinsinhalte oder -vorgänge, die man je für sich analysieren und klassifizieren kann. Ihre phänotypische Erscheinung ist vielmehr in genotypischen Komplexen eines allgemeinen psychologischen, gesetzmäßigen Charakters begründet. Eine Vornahme, als Willensakt phänotypisch gänzlich andersartig als ein Affekt, kann genotypisch völlig gleichartige Bedingungs- und Wirkungsgefüge und eine gleichartige Dynamik erzeugen; beide sind konditional-genetisch darstellbar als Systeme in Spannung, wobei die im System bestehenden „psychologischen Energien“ und die aktuell resultierenden „psychologischen Kräfte“ das Verhalten bestimmen (Lewin, 1926, S. 309ff). Andere Grenzen als die zwischen Kategorien von Phänotypen sind wesentlicher, nämlich die „psychologischen Wände“ zwischen Systemteilen, welche einander mehr oder minder beeinflussen. Die „psychologische Wirklichkeit“ (Lewin, 1926, S. 314) ist eine gestaltartige Konstruktion. Sie existiert genotypisch in ständigem Wandel eines mit sich identisch bleibenden Gebildes als Genesereihe. Phänotypisch wird sie in je bestimmten Umständen in ganz unterschiedlichen Formen manifest, und man kann auf sie in gleicher Weise einwirken und wird bei unterschiedlichen Umständen ungleiche Wirkungen erzeugen; oder man kann auf sie in unterschiedlicher Weise mit gleichen Effekten einwirken. Beispielsweise sind Bedürfnis, Vornahme und Unterbrechung phänotypisch verschieden, erzeugen jedoch allemal ein gespanntes System.
Die Suche nach psychologischen Genesereihen war fruchtbar, hat mehrere bisher getrennt behandelte Gebiete der Psychologie in einen Zusammenhang gebracht und der empirischen Psychologie Inhalte erschlossen, die man bisher den Literaten oder den Psychoanalytikern überlassen musste. Lewin hat nach den Trägern von Erscheinungsformen gesucht, gemäß der These, „daß jedes wirkliche psychische Objekt einen Hinweis auf eine Reihe anderer Objekte gibt, die mit ihm (gen)identisch sind“ (Lewin, 1912, S. 106). Indem er sie in Genesereihen voraussetzte, haben ihn die Phänotypen selbst auf fehlende Glieder ihres Werdens aufmerksam gemacht. Seine psychologische Methode erinnert mit ihrer Dezentrierung vom unmittelbaren Interessenobjekt an den Beginn der modernen Chemie, als nach dem Verbleib der verbrennenden Kerze und dem Grund ihres Erlöschens unter einer Haube gefragt wurde. Sein Verfahren gleicht demjenigen Lavoisiers, der gegen Ende des 18. Jh. durch Wägen über den Abgang und den Hinzutritt von Stoffen bei der Oxydation Rechenschaft ablegte, und der so nicht nur die alte Phlogiston-Theorie widerlegen, sondern auch den Sauerstoff als Element definieren konnte.
Der Lebensraum und seine Dynamik (Lewin, 1936, 1938)
Was Lewins Konstruktion noch entbehrte, war eine durchgängige, einheitliche, systematische Sprache oder Darstellungsweise für die psychologische Wirklichkeit. Eine solche zu entwickeln ist das Ziel der beiden Monographien der 30er Jahre (Lewin, 1936, 1938). Wenn man das psychische Geschehen als in Genesereihen existierend versteht, dann wird man rasch sehen, daβ mit psychischen Tatsachen allein kein vollständiges Bedingungs- und Wirkungsgefüge zu konstruieren ist. Physische, soziale begriffliche und semiotische Sachverhalte müssen in diese Konstruktion aufgenommen werden: nämlich „alles, was vom Standpunkt des Psychologen für diese Person existiert“ (Lewin, 1936, zitiert nach 1969, S. 40). Denn „wirklich ist, was wirkt“ (Lewin, 1936/69, S. 41) oder wirken kann. Lewin entwickelt mit der sog. Topologischen Psychologie und mit der Vektorpsychologie eine besondere mathematisierende Darstellungsweise der psychologischen Konstruktion in struktureller und dynamischer Hinsicht.
Es kann hier nicht darum gehen, diese Konstruktion nachzuvollziehen. Auch ihre Brauchbarkeit zur Durchführung einer auf Genesereihen basierenden Psychologie soll nicht diskutiert werden. Ich stimme mit den meisten Kennern überein, daβ die Feldtheorie, wie Lewin sie mit ihrer Dynamisierung zunehmend nennt, zwar eine fruchtbare Heuristik darstellt, daβ es ihm aber nicht gelungen ist, eine durchführbare Formalisierung vorzuschlagen (vgl. z.B. Graumann, in diesem Band).
Hingegen scheint mir eine Ambivalenz diskutierenswert, die immer wieder, gerade auch nach der sog. kognitiven Wende in der Psychologie der 70er Jahre, zu Missverständnissen Anlass gibt. Es ist die Frage, ob der Lebensraum, das psychologische Feld, ein inner-psychisches oder ein öko-psychologisches Konstrukt darstellt. Lewins Formulierungen in dieser Hinsicht sind immer wieder zweideutig und entsprechend sind die Deutungen in der Sekundärliteratur, welche Lewin fälschlicherweise in Lager verweisen, die vom Phänomenalismus bis zum Physikalismus reichen. In moderner Terminologie kann man ernstlich fragen, ob Lewin ein Vorläufer des Kognitivismus der 70er und 80er Jahre war oder ob er besser als ein Begründer einer real-ökologischen Auffassung von Psychologie gesehen werden soll (vgl. Lang, 1981).
Auf dem Hintergrund der oben geschilderten Rezeption bin ich bisher der Meinung gewesen, der Lebensraum sei als wirkende Realität innerhalb des Individuums als Konstrukt von aussen her zu denken; Lewin sei also ein nicht-phänomenologischer Kognitivist. Das ergab sich aus der Annahme der biologischen Fundiertheit der psychologen Genesereihen. Durch das Einverständnis Lewins mit Brunswiks Einwand, der Lebensraum sei post-perzeptuell und prä-behavioral hatte Lewin gewissermaßen ein Gütesiegel auf diese Auffassung gedrückt. Er reagierte ja auf die Kritik, indem er seine Konzeption ausweitete und die Begründung einer psychologischen Ökologie einleitete (Lewin, 1943-1947).
Nach Gewinn meiner neuen Genesereihen-Heuristik und erneuter Lektüre vieler Texte Lewins bin ich jedoch zur Überzeugung gekommen, diese Auffassung sei besser durch die Annahme zu ersetzen, Lewin habe von früh weg ein „überpsychisches“, eben ein psychologisches Konstrukt im Sinne gehabt, welches wir heute am bestem mit dem Ausdruck ökopsychologisch bezeichnen. Es bleibt in dieser Auffassung zu verstehen, warum sich Lewin nicht früher eindeutiger für seine Sache engagiert und warum er nicht spätestens bei jener Gelegenheit in Chicago 1941 Brunswik bzw. den Funktionalisten und Behavioristen den Einkapselungsvorwurf zurückgespiegelt hat: sie kapselten den Menschen aus, seien mit der statistischen Behandlung von Reiz und Reaktion prä-perzeptuell und post-behavioral; Psychologie müsse vielmehr Konstrukte, umfassend den Menschen und seine Umwelt, entwickeln.
Für eine solche Argumentation hätte Lewin auf seine früheren Texte zurückgreifen können. Ein Beispiel: Im allgemeinen verstehe man die zeiträumliche Ausweitung der psychischen Umwelt des Kindes so,
daß das Kind allmählich lernt, eine immer breitere Umwelt zu beherrschen, und dank der auch zeitlich größeren Überschau fähig ist, weiter ausholende Aktionen durchzuführen. Dieser Vorgang hat zugleich aber eine zweite Seite, die nicht minder entscheidend ist. Damit, daβ die Umwelt psychische Existenz gewinnt, wird sie ein Teil der Seele des Kindes. Von dem psychischen Ganzen, das dieses Kind ausmacht, bildet das 'Ich' des Kindes dann nur einen Teil neben den Freunden des Kindes, seinen Spielsachen u.a.m. Der eigene Körper wird damit psychologisch zu einem Teil eines viel umfassenderen Umweltbereiches. Jede Veränderung in der psychisch existenten Umwelt des Kindes ist daher ein unmittelbarer Eingriff in die seelische Substanz des Kindes und damit in die spezifische Gleichgewichts- oder Ungleichgewichtslage, in der das psychische Ganze, das das Kind psychologisch darstellt, sich momentan befindet. Nicht nur soziologisch, sondern auch individualpsychologisch ist also das körperliche Kind nur als ein unselbständiger Teil eines umfassenderen Bereiches anzusehen, von dessen Gesamtkonstellation und Veränderungen das momentane psychische Geschehen und damit auch das Ausdrucksgeschehen abhängt (Lewin, 1927b, KLW Bd. 6, S. 82f., Hervorhebung im Original).
Ich muss mir versagen, weitere Belege beizubringen. Lewin war also vielleicht schon in den 20er Jahren ein ökologischer Entwicklungspsychologe. Er hat seinen Standpunkt nur nicht mit harter Konsequenz vertreten. Das ist nicht verwunderlich; denn was hätte die Fachwelt mit einem Psychologen gemacht, der behauptet, die Seele sei zum Teil auch außerhalb des Kindes? Es war ja noch 1991 störend genug, von der ‘externen Seele’ zu sprechen (Lang, 1992)
Über die entwicklungs- und sozialpsychologische zur ökopsychologischen Betrachtungsweise (Lewin, 1939, 1943-1947, 1947)
Hier sollen von den Fragestellungen, die Lewin in seinen amerikanischen Jahren bearbeitet hat, ihr Ort im vorgeschlagenen Deutungsentwurf hin untersucht werden. Um „die Psychologie dem Status einer logisch begründeten Wissenschaft“ (Lewin, 1936/1969, S. 10) anzunähern, sei es nötig, der Logik „nicht nur des Zeitbegriffs, sondern auch des Raumbegriffs“ (ebenda, S. 9) nachzugehen. Die Frage nach der Zeit in der Psychologie steht am Ursprung des Genesereihenpostulats. Damit ist Zeit erst methodologisch, noch nicht inhaltlich in die Psychologie eingeführt. Mikropsychologisch kann sie in den aktuellen Austauschprozessen zwischen Individuum und Umwelt, makropsychologisch in den längerfristigen Entwicklungen beider angegangen werden. Lewin ist aus methodologischer Logik zu dem Entwicklungspsychologen geworden, der er in den Berliner Jahren schon war, nicht erst durch die Berufung an die Iowa Child Welfare Station.
Lewin betonte wiederholt die zeitlose Gegenwart des Lebensraumkonstrukts; freilich vor allem, um umso schärfer Reihen von Lebensraum-Zuständen in ihrer Abfolge denken zu können. Verhalten und Entwicklung müsse aus einer Gesamtheit der zugleich gegebenen Tatsachen abgeleitet werden (Lewin, 1943, KLW Bd. 4, S. 135ff). Doch formalisierte er die Entwicklungsreihen nicht so gründlich wie die Lebensraum-Konstellationen und ihre aktuellen Veränderungsschritte. Tatsächlich sind die Reihen von Lebensraum-Zuständen (methodologisch die Abfolgen von „Geschehensdifferentialen“) reflexive Konstrukte des Forschers. Ein ihnen entsprechender Vorgang muss aber als konstitutiv für die Entwicklung des Individuums vorausgesetzt werden, obwohl die hinzukommenden und die hinauswirkenden Einflussströme meist nur rudimentär fassbar sind. Dem Individuum selbst hingegen sind sie auch nur partiell und erneut bloß reflexiv, auf der Irrealitäts-Ebene, also in einem Sekundär-Feld, gegeben. Das Individuum kann seine bisherige Entwicklung, auch mögliche künftige Entwicklungen oder gar solche „vergangene“, die auch hätten möglich sein können, aber nicht wirklich geworden sind, erlebnismäßig, im Traum usf. reflektieren; aber es ist bis heute weit offen, ob und wie solche Reflexionen in die Genesereihen zurückwirken können.
Der Forscher anderseits kann ohne weiteres ein Individuum eine Zeitlang bei den Begegnungen mit seiner Umwelt begleiten; jede Begegnung zwischen Individuum und seiner Umwelt müsste da einem Zeitschnitt entsprechen und als aktueller Lebensraum dargestellt werden. Die Feinheit der zeitlichen Auflösung des Geschehens ist primär Sache des Forschers; doch bietet der Begegnungsverlauf „natürliche“ Segmentierungen gewissermaßen an. Es wird bei dieser Betrachtung sofort einsichtig, daβ ein daraus abgeleitetes Konstrukt nicht nur einen zeitlichen, sondern, insofern verschiedenartige Begegnungen der Individualgenesereihe mit Umgebungsreihen stattfinden können, auch einen räumlichen oder, besser noch, einen ökologischen Charakter bekommt.
Auch diese Idee war bereits 1912 vorgezeichnet, wenn Lewin feststellt, daβ Entwicklung von einfacher Veränderung dadurch unterschieden werden kann, daβ die biologische Reihe im Unterschied zu „der physischen Veränderung charakterisiert [ist] durch einen Zweck-, Ziel- oder Aufgabenbegriff, in Bezug auf welchen Identität der Wandlung besteht, während in der [physischen] Veränderung lediglich die bloße zeitliche Aufeinanderfolge der Identität grundlegend ist“ (KLW Bd. 1, S. 105f). Unabhängig davon, ob man „die biologischen Abhängigkeiten letztlich auf physische Abhängigkeiten zurückführen“ wolle oder nicht, seien „die Objekte der Biologie nicht außerhalb des physischen Erhaltungsgesetzes“ zu stellen, „während physische Objekte sehr wohl außerhalb des biologischen Entwicklungsgesetzes stehen können“ (ebenda S. 106).
Das Räumliche gewinnt in Lewins Psychologie mithin ebenfalls früh eine entscheidende Bedeutung, und dies nicht nur repräsentativ in der räumlichen Darstellungsweise des Lebensraums und der ihn bestimmenden Dynamik in der topologischen und Vektorpsychologie, sondern auch empirisch, weil räumliches Verhalten (z.B. das Umwegproblem, vgl. dazu auch KLW Bd. 4, S.99-131) in der Feldtheorie am leichtesten handhabbar ist (vgl. Lewin, 1917). Eine markante konzeptuelle Erweiterung gewinnt Lewins räumliches Denken Ende der 30er Jahre mit der Aufnahme von sozialpsychologischen Themen.
Im Anschluss an seine berühmten Untersuchungen zum Führungsstil in Jugendlichen-Gruppen entwickelt Lewin ein feldtheoretisches Verständnis der Adoleszenz (1939, KLW Bd. 4, 193ff). Er konzeptualisiert Adoleszenz als eine soziale Lokomotion, einen Wechsel der Zugehörigkeit von der Gruppe der Kinder in die Gruppe der Erwachsenen. Ein solcher Lagewechsel, der „beispielsweise in der Politik als fait accompli sehr gefürchtet“ werde, ändere aber „nicht nur die augenblickliche Umgebung einer Person, sondern mehr oder weniger die gesamten Verhältnisse“ (ebenda). Lewin stellt diesen Übergang und Verhältniswechsel in verschiedenen Facetten ausführlich dar. Das Wechselspiel zwischen den durch die Zugehörigkeit zur Kindergruppe wirkenden Kräften im Lebensraum und denjenigen, die durch die Angebote und Aufforderungen der Erwachsenengruppe entstehen, ruft nach einer übergeordnetenen Betrachtungsweise, für die Lewin später den Begriff des sozialen Feldes einführt.
Bereits in The Background of Conflict in Marriage (1940) entdeckt Lewin, daβ die Sozialpsychologie mit einem innerpsychischen Begründungskonstrukt allein nicht auskommt. Auf einer ersten Ebene seien die individuellen Lebensräume der Gruppenmitglieder zu analysieren; auf einer zweiten die Repräsentationen der Lebensräume der je andern im je eigenen Lebensraum; auf einer dritten sei ein Übergang nötig zur Formulierung eines überindividuellen Feld-Konstrukts aus der Sicht des Forschers. Aus der Analyse der je eigenen und der je vom andern induzierten Lebensräume von Ehemann und Ehefrau lassen sich die jeweils nächsten Schritte der Interaktion verstehen. Um dem Schicksal der Ehe folgen zu können, bedarf es jedoch einer Betrachtung eines Ganzen, von dem die beiden Lebensräume und das weitere Umfeld seinerseits Teile darstellen. Denn in diesem Ganzen werden Kräfte zur Wirkung kommen, die in den Teilen selbst nicht existieren (vgl. auch KLW Bd. 4, S. 245ff). Und es wird auch sofort deutlich, daβ dieser konzeptuell-räumlichen Ausweitung des psychologischen Gegenstandes eine erweiterte psychologische Zeitlichkeit folgt: auch der soziale Wandel muss zum Bestandteil psychologischer Betrachtung werden (Lewin, 1947, vgl. KLW Bd. 4, S. 249ff).
Obwohl erst im Todesjahr 1947 im Zusammenhang publiziert, bestimmt die damit gewonnene Begrifflichkeit zweifellos das Denken der „Gruppendynamiker“ seit den frühen 40er Jahren (Lewin, 1947). Daβ Lewin hier die wissenschaftstheoretischen Einsichten seiner frühen Jahre verkürzt und wie nebenbei einfließen lässt, kann leicht übersehen werden: „Entwicklungsstand der Wissenschaften“, „Das Problem der Existenz“, „Die Wirklichkeit sozialer Phänomene“ und andere Überschriften machen die Kontinuität seines Denkens zumindest dem Kenner sehr deutlich. Lewin vermeidet sorgfältig, die beiden Ebenen der Analyse, das individuelle und das soziale Feld, gegeneinander auszuspielen. Methodisch schlägt er einen „Dreischritt“ vor: von der Rekonstruktion der individuellen Lebensräume aller Gruppenmitglieder müsse zum gemeinsamen sozialen Feld fortgeschritten werden und von dort wieder zurück zu den Auswirkungen in den Lebensräumen der Individuen, weil es darauf ankomme, wie die soziale Situation von den Beteiligten „gesehen“ wird. Analoges gilt für die Untersuchung von Interaktionen zwischen Gruppen (KLW Bd. 4, S. 247f).
Was für Mittel hat der Psychologe, diese physischen, sozialen und kulturellen Rahmenbedingungen zu analysieren, die im sozialen Feld eine der psychologischen Umwelt im individuellen Lebensraum analoge Rolle einnehmen können? Lewin stellt fest, daβ solche Analysemittel fehlen und entwirft eine Disziplin, die psychologische Ökologie, um diese riesige Aufgabe in Angriff zu nehmen (1943-47). Er stellt fest, daβ Veränderungen von wichtigen Verhaltensweisen im Gruppenleben, die durch Maßnahmen wie Information, Anreize, Verbote und andere Führungsinstrumente erzielt werden - das Spektrum seiner Untersuchungsbeispiele reicht von der Produktion eines Unternehmens über Kauf und Verkauf von Kriegsanleihen oder den Weiss-/Schwarzbrotkonsum-Quotienten bis in den pädagogischen oder psychotherapeutischen Bereich -, nicht selten nur kurzlebig sind. Nach kurzem „Strohfeuer“ kehre das Niveau solcher Fließgleichgewichts-Variablen wieder auf den vorherigen Stand zurück.
Es ist allgemein bekannt, daβ Lewin zur Steuerung und Sicherung der Gewohnheitsänderungen das Verfahren der Gruppenentscheidung entwickelt und perfektioniert hat, das bis heute in der angewandten Sozialpsychologie einen prominenten Rang einnimmt. Dabei handelt es sich zunächst um Veränderungsprozesse in individuellen Lebensräumen, die aber durch Kräfte aus dem sozialen Feld induziert werden. Weniger bekannt ist der Vorschlag, auf dem Weg über koordiniertes Individualverhalten auch überdauernde Veränderungen im sozialen Feld selbst, einschließlich der nichtpsychologischen Tatsachen, zu erreichen. Seine Theorie der „Kanalisierung sozialer Prozesse“ verweist auf Umstrukturierungen der kulturellen Gegebenheiten (1943-47, KLW Bd. 4, S. 293ff) und verweist damit über die psychologische Ökologie hinaus auf eine ökologische Psychologie.
Will man zum Beispiel verstehen, warum die Leute essen, was sie essen, so muss man zeigen, wie die psychologischen und die nicht-psychologischen Tatsachen einen Zusammenhang bilden, der in Form von „Kanälen“ und ihrer „Pförtner“ dargestellt werden kann, über welche beide das Essen auf den Tisch kommt. Das ist offensichtlich weder bloß psychologisch noch bloß nicht-psychologisch (ökonomisch, soziologisch, technisch usf.) zu verstehen. Der Konsequenz seiner Leitidee folgend, die Bedingungen irgendeiner Erscheinung in ihrer Genese zu suchen, hat Lewin mithin die Grenzen der Psychologie gesprengt und ist über eine sozialpsychologische Stufe zur Idee einer Wissenschaft des ökologischen Systems vorgestoßen.
A-dualistische semiotische, oekologische und evolutive Psychologie
Im Lauf der 1990er Jahre ist mir als entscheidende Konsequenz von Lewins Genesereihendenken immer deutlicher geworden, daβ Genesereihen, die von Physischem zu Psychischem, also etwa Wahrnehmen, oder von Psychischem zu Physischem, also etwa Lokomotion oder Handeln, führen sollen, nicht wissenschaftlich klärbar sind, solange man den traditionellen abendländischen Leib-/Seele- oder Stoff-/Geist-Dualismus aufrechterhält. Die dualistische Tradition der Weltauffassung hat ihren Ursprung, so weit bekannt, in der griechischen Antike bei Parmenides und Platon und ist vom Christentum zum Diesseits-/Jenseits-Paradigma erweitert und dann von Descartes zu einem angeblichen, von den später entstehenden Wissenschaften bereitwillig übernommenen “Fundament” der menschlichen (Sonder-) Existenz, einer einzigartigen Verbindung von res extensa und res cogitans, erklärt worden und hat noch später konsequenterweise zur Teilung der Wissenschaften und der philosophischen Fakultät und u.a. zur problematischen Zwitterstellung der Psychologie geführt, die Lewin in jungen Jahren schon beobachtet hatte. Es gibt aber nur Überlieferung – aus Sehnsucht, meine ich; keine verlässlichen Beobachtungen oder Indizien lassen auf zwei oder mehr “Welten” schliessen. Darum möchte ich über eine mögliche Weiterentwicklung des Genesereihenproblems berichten, auch wenn sich hier nur Hinweise geben lassen.
Lewin hatte 1911 durchaus auch die Option erwogen, daβ “eine reale Abhängigkeit dieser beiden Objektklassen [sc. Physisches und Psychisches] voneinander überhaupt unmöglich ist und nur eine rein begriffliche Zuordnung erlaubt”, meint aber sie sei für die Frage nach den Qualitäten und der Gültigkeit eines Erhaltungsprinzips in der Psychologie “belanglos” und brauche deshalb nicht berücksichtigt zu werden (Lewin 1911=1983, S. 84). Einer realen gegenseitigen Abhängigkeit der beiden Objektklassen voneinander stehe allerdings auch die Unräumlichkeit des Psychischen angesichts der unbestreitbaren Räumlichkeit des Physischen entgegen (ebenda S.85). Das kann nur stimmen, meine ich, wenn man die Bereiche des Wahrnehmens und Handelns und in der Folge manche weitere Erscheinungen aus der Psychologie ausschliesst und also eine absurde Konsequenz des Dualismus hochhält. Es würde freilich nicht nur keine rechte Psychologie übrig lassen, weil es auch Bereiche wie Lernen, Kommunikation, Sozialität, sozialen Einfluss, Ichbildung u.v.a.m. ausschließen, zudem die Psychologie von vielen anderen grundlegenden Wissenschaften vollständig isolieren und überdies das Studium des Psychischen überhaupt verhindern würde. Denn wie soll denn Psychisches von aussen her überhaupt anders zugänglich sein als über Physisches? Das müsste zwar nicht das Sprechen über Psychisches u.dgl. verhindern; es entzöge aber nicht nur diesem Fach, das seit dem späten 19. Jh. ausgezogen war, eine respektable Wissenschaft zu werden, jede Legitimität, sondern es machte auch genau das unmöglich, was uns Menschen vor allem und einige Tiere in Ansätzen auszeichnet, nämlich, daβ wir unsere Welt durch unser Handeln weitgehend selber machen, und durch Kommunikation mit Artgenossen auch wesentlich uns selber als Personen. Es würde also unsere Kulturalität ausschließen; denn zwischen unserer psychischen und sozialen Existenz auf der einen Seite und unserer physischen und sozialen Umwelt auf der anderen könnte es und unter der Annahme rein psychologischer Genesereihen in beiden Richtungen keine bedingenden Ströme von Einfluss oder Verursachung geben. Das widerspricht auch Lewins eigenen Entwicklungen einer psychologischen Oekologie und einer ökologischen Psychologie, die ja gerade gezeigt hat, daβ man die Menschen nur zusammen mit ihrer Umwelt verstehen und erforschen kann.
Da also die Annahme rein psychologischer Genesereihen offensichtlich falsch ist, dürfte der Denkfehler bei unserer traditionellen Konzeption des Psychischen liegen, welche Psychisches von Physischem grundsätzlich zu scheiden versucht. Und ebenfalls bei unserer Konzeption des Physischen, welche organisierte und dynamische Kompositionen oder feine Organisationen von physisch Elementarem auf diese Elemente zurückzuführen versucht, anstatt die Eigenschaften, die erst dem Kompositum als Ganzem zukommen, einzubeziehen. Die Konsequenz der Einsicht, daβ Genesereihen zwischen Physischem und Psychischem hin- und hergehen, also ökologisch konzipiert werden müssen, wenn wir eine vollständige Psychologie machen wollen, kann mithin nur sein, daβ wir unsere Konzeption des Psychischen und wohl auch des Physischen ändern müssen. Tatsächlich kenne ich nichts Psychisches, welches ohne einen stofflich/energetischen, genauer einen dynamisch-biotischen Vorgang in Raum und Zeit existieren könnte. Etwas Biotisches müsste zwischen Physischem und “Psychischem” in beiden Richtungen vermitteln, so dass Genesereihen hin- und hergehen können. Aktiv “Psychisches” ist insofern räumlich, als es in einem Körper stattfindet. Dasselbe Psychische kann aber auch latent in einem Wartezustand sich befinden; doch auch dann ist es örtlich und zeitlich lokalisiert; wir erleben es zwar dann nicht als psychisch, obwohl seine oder ähnliche und andere Relationen davon ausgehend fast jederzeit aktiviert werden können, also bloss latent sind. Latent können wir es bloss nicht Erleben. Es muss trotzdem als Teil von uns vorhanden sein, weil es später wieder aktiv werden und seine Beziehungen zu anderem Psychischen und zu Physischem pflegen kann. “Psychisches” ist selber lokalisiert; doch kann es sich auf Nichträumliches wie Abstraktionen beziehen, die freilich meistens von Räumlichem “abgezogen” werden und also keine eigene Existenz haben.
Nach allem was wir wissen, findet das meiste Psychische im Gehirn dann statt, wenn Neuronen untereinander mit Hilfe von sog. Neurotransmittern an ihren Synapsen “kommunizieren”; wenn das Hirn gänzlich ruht oder gestorben ist, gibt es nichts “Psychisches”; wenn es verletzt ist oder altert, kann sich “Psychisches” (Erleben, Fühlen, Denken, Sprechen, Gesten, etc.) und Physisches (Sprechen, Gesten, Gehen, Gestalten) bis zur Unkenntlichkeit verändern. Es gibt “Psychisches”, das auch an anderen Stellen des Körpers sich in Form von chemischen Stoffen, Hormonen und Verwandtem realisiert, also physisch wird und Relationen in anderer Form pflegt. Wir können beide Prozesse durch Drogen verändern. Ist denn eine klare Grenze zwischen Physischem und Psychischem überhaupt setzbar. Offenbar kann man “Psychisches” nicht auf Erleben reduzieren; und im Physischen, jedenfalls in lebenden Organismen, finden wir eine komplexe Organisation, welcher das physikalische und sogar das biologische Denken, insofern es physikalistisch operiert nicht gerecht werden kann. Mit anderen Worten, “Psychisches” ist immer biotisch inkorporiert. Wir würden besser “Psychisches” und sehr viel Biotisches semiotisch auffassen, also als dergestalt organisiertes Physisches, daβ es über seine Bedeutung vermittelnd wirken kann. “Psychisches” ist in biotischen Vorgängen realisierte Symbolik.
Die meisten Biologen und mit ihnen die meisten anderen Menschen sind nicht auf die Idee gekommen, die feine und dynamische Organisation von Stoff und Energie in Lebewesen sei höchst ähnlich wie beispielsweise die Sprachen, die von Neuronengruppen in Aktion, via motorische Aktivität, nicht nur Sprechen oder Schreiben generieren und als Gesprochenes oder Geschriebenes via Ohr oder Auge aufgenommen, sondern auch in Büchern, auf Tonbändern, in den einzelnen Hirnen und als Tradition in einer Sprachkultur gespeichert und vermittelt werden können. M.a.W., der Hirnprozess oder das gespeicherte Sprachliche, sowohl als Text wie als Sprachpotential, sind nur Aspekte des Geschehens und sind jedenfalls nicht das, worauf es ankommt, wenn wir etwas ausdrücken oder verstehen. Man mag diesen Vergleich des “Psychischen” mit der Sprache zunächst für eine Analogie halten; jedoch ist Sprache eher ein Beispiel dessen, was wir in Teilen “psychisch” zu nennen pflegen, allerdings deutlich dynamischer. Wem das dennoch zu weit geht, könnte sich bescheiden: behandeln wir doch alles Psychische und Geistige, wie wenn es die Bedeutung von Symbolen (natürlich in einer a-dualistischen Semiotik) meinte.
Offenbar kommt es nicht darauf an, was etwas “Psychisches” ist, sondern vielmehr darauf, was ein geschriebenes Wort, ein gesprochener Satz, ein Hirnprozess, eine Ausschüttung von Hormonen, die eine Äusserung steuern und im Empfänger etwas bewirken können, also auf die Bedeutung des Gesprochenen etc., sowohl beim Herstellen wie beim Aufnehmen. M.aW. Sprache und Hirnprozess sind gleichermassen zeichenhaft. Sollten wir also nicht annehmen, auch der neuronale Prozess, der dem Sprechen, Verstehen, Denken, Fühlen, Wahrnehmen, Handeln, etc. zugrunde liegt, sei semiotisch? Haben wir eine ausreichende Konzeption des Physischen, wenn wir solche vermittelnden Prozesse, wie sie das Gehirn oder auch Maschinen leisten können, aus dem Physischen ausschliessen und dahinter etwas wie einen Geist setzen, der “Psychisches” in der Form von Physischem organisierten können soll, obwohl wir ihn nicht als physisch denken und mit Mitteln der physikalischen Wissenschaften nicht begreifen können?
Wir wissen heute immer noch nicht genau, wie unser Gedächtnis niedergelegt wird. Vieles spricht dafür, daβ neuronale Prozesse “eingeschliffen” werden können und damit nach ein- oder mehrmaligem Vorkommen als Prozess bloss latent gegeben, doch fast jederzeit annähernd wiederholt oder erneuert werden können. Ähnliches gilt für die Art und Weise wie unsere Sinneseindrücke auf höherer Ebene verarbeitet und unserer Aktivitäten, abgesehen von den letzten Stufen vorbereitet werden können. Es ist aber bereits heute klar, daβ wir nie imstande sein werden, die Hirntätigkeit mit physiko-chemisch-biologischen Methoden auch nur entfernt annähernd erfassen können werden, wie immer sich die Methoden entwickeln werden. Wir müssten ja mindestens das gesamte Geschehen in riesigen Hirnarealen und ihren “Zulieferern” und “Abnehmern” mit Milliarden Neuronen und ein bis vier Zehnerpotenzen mehr Synapsen, an denen jeweils zwei, drei Dutzend Neurotransmitter aktiv sind, gleichzeitig in ihrem Zusammenspiel über längere Zeit aufnehmen und erfassen können. Das ist nicht nur quantitativ unmöglich, sondern müsste unweigerlich auf eine Weise in das Geschehen eingreifen, daβ massive bis maximale Schäden unvermeidlich wären.
Was wir also brauchen, ist eine wissenschaftliche Zugangsweise, die anstatt eine Trennung in zwei Reiche zu schaffen, für die es keine guten Gründe gibt, von einer übergeordneten Einheit von Menschen in ihrer Welt, einschließlich ihrer selbstgemachten Kulturen, also der Kulturalität im Allgemeinen, ausgeht. Führt man Lewins Genesereihen-Idee weiter, müsste wohl jene nicht wirklich existierende, aber eingebildete Grenze zwischen Physischem und Psychischen nach zweieinhalb Jahrtausenden vergeblicher Versuche einer gültigen Antwort auf ihren Zusammenhang aufgegeben werden; ebenso die Frage, ob und wie psychologische Genesereihen zu konzipieren seien. Stattdessen können wir unsere Welt für ungetrennt halten und eine biotische Form von hochorganisiertem, semiotisch-dynamischem Physischen konzipieren. Daβ das unseren Begriff vom Physischen beträchtlich modifizieren muss, dürfte einsichtig sein. Offenbar können die organisierten Strukturen des Physischen wichtiger werden als deren simple Stofflichkeit. So gesehen, wären wir näher bei Lewins biotischen als den physikalischen Genesereihen.
Mithin wären psychologisch nicht mehr Menschen als Individuen oder Gruppen zu erforschen, zu und von deren Umwelt keine Genesereihen laufen können, sondern ein Reich in unterschiedlicher Differenzierungen vom Physischen, Biotischen, Psychischen zum Kulturellen zu denken, welches Genesereihen stofflicher, energetischer und semiotischer Art ermöglicht. Ich bin der Meinung, dies in Form einer a-dualistischen, aber generisch-evolutiven und generativ-semiotischen Oekologie entworfen und gezeigt zu haben, daβ die unterschiedlichen Differenzierungen der Welt auseinander hervorgehen können und deshalb keine nicht zu überbrückenden Lücken zurücklassen. Dies hier darzulegen, fehlt der Platz. Unter der Bezeichnung Semiotische Oekologie habe ich das Grundsätzliche aufgezeigt und arbeite an seiner weiteren Differenzierung.
Lewins große Herausforderung der Psychologie
Es bleibt, daran zu erinnern, daβ Lewins Psychologie hier nur punktuell unter der Heuristik der psychologischen Genesereihen untersucht worden ist. Ich glaube beanspruchen zu dürfen, daβ diese Betrachtungsweise die Rezeption mancher Einzelheit vertieft und den Zusammenhang in Lewins Gesamtgestalt erhöht, freilich die Suche nach den “psychologischen Genesereihen” zu Gänze verändert. Marrow (1969, S. 235) zitiert einen persönlichen Bericht von Donald Adams, der Lewin in seinem letzten Lebensjahr gefragt hat, wann er die vergleichende Wissenschaftslehre wieder aufzunehmen gedenke. Lewin habe sehr ernst geantwortet: „Ich muß das tun. Was wir jetzt hier erforschen, wird man in fünf oder zehn Jahren sowieso herausfinden; diese andere Sache aber vielleicht erst in 50 Jahren.“ Lewins Einfluss auf viele Bereiche der Psychologie ist unbestritten. Ist seine Anregung und Herausforderung, auch jüngere Wissenschaften, insbesondere aber die Psychologie, auf der Basis von explizierten Genesereihen zu betreiben, nicht mindestens so bedeutsam? Wann und wie werden wir sie erfüllen können?
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