Alfred Lang

University of Bern, Switzerland

Position Paper 1990

Alterspolitik 2005 -- Alt werden im Kanton Bern.

1990.18

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Daniel Slongo und Alfred Lang

Stellungnahme aus dem Psychologischen Institut der Universität zum Bericht der Gesundheits- und Fürsorgedirektion des Kantons Bern (Mai 1990)

© 1998 by Alfred Lang

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In den Teilen 1 und 2 des Berichts sind nach unserem Eindruck die Massnahmen und Probleme der gegenwärtigen Alterspolitik angemessen vielschichtig aufgezeigt. Besonders wichtig und zutreffend aus unserer Sicht als Entwicklungs- und Umweltpsychologen, welche Untersuchungen in Alters- und Pflegeheimen gemacht haben, erscheinen uns dabei die Ausführungen zu den Wohn- und Siedlungsstrukturen im Verhältnis zur demographischen Entwicklung und zu den Schwierigkeiten der Personalrekrutierung im Verhältnis zum Wandel der Lebens- und Arbeitswelt.

Eher zwiespältig wirken auf diesem Hintergrund jedoch das alterspolitische Leitbild und zumindest einige der alterspolitischen Grundsätze, auf welche wir uns im folgenden konzentrieren. Selbstverständlich ist es wünschenswert, «die Betagten im Rahmen des Möglichen durch Wahlfreiheit, Selbstbestimmung und Mitbestimmung zu befähigen, in allen Lebensfunktionen selbständig zu bleiben, und ihnen die Kontinuität in den wichtigsten Lebensbereichen zu sichern.» (p.45)

Wenn man das "bleiben" in der zitierten Grundidee durch "werden" oder "sein" ersetzt. inwiefern sind solche Zielsetzungen dann spezifisch für das Alter? Bürdet sich der Staat mit solchen gruppenorientierten Akzentsetzungen nicht eine Verantwortung auf, die ihn grundsätzlich überfordert? Ja, widerspricht nicht gerade seine Verantwortungsübernahme ("bereitgestellte Mittel und Massnahmen" ebda.) in gewissem Sinne dem Kerngehalt des Leitbildes?

Gibt es denn die Interessen der Betagten? Nach allem was wir wissen, sind sie enorm vielfältig und in ständigem Wandel begriffen. Was in Umfragen davon aufscheint, ist meist grob vereinfachend und nicht selten von der Wirklichkeit weniger bestimmt als von den modemachenden Medien. Davon steht im Bericht nichts; es wird einfach so getan, wie wenn es ein verantwortliches Subjekt der Alterspolitil gäbe. Sozialwissenschaft ist hier in allzu verkürzter Weise eingesetzt worden. Sind vielleicht die Formulierungen des Leitbildes auch von den Interessen fürsorgerischer Berufe und des Baugewerbes her bestimmt? In nahezu sämtlichen 18 Grundsätzen kommt deutlich die aktuelle "Philosophie" der psychosozial helfenden Berufe zum Ausdruck. Sie wird im Bericht in keiner Weise analysiert oder wenigstens in ihrer Zeitbedingtheit relativiert. Warum erfährt man nichts über die Zusammensetzung und die Berater der Kommission, die den Bericht verfasst hat?

Von einem "zuverlässigen Reiseführer"(p.45) erwartet der Leser, dass das Vorzufindende einigermassen neutral beschrieben, für die eigene, "wahlfreie" Entscheidung vorbereitet wird. Der Leser findet aber ein Reiseprogramm, und überdies eines, das Reiseziele und Reisemittel weder klar voneinander unterscheidet noch sicherstellt, ob dies eine wünschbare und eine machbare Reise sei Wenn apodiktisch im Sinne einer Forderung statuiert wird, die "Bevölkerung setzt sich mit dem Altwerden und dem Altsein ... auseinander" und "Personen ab fünfzig bereiten sich gezielt auf das Leben nach der Erwerbstätigkeit vor" (Grundsätze 1 und 2), dann fragt man sich schon, wer es denn eigentlich ist, der den Individuen diese Klassifikation der Lebensalter vorgibt und wie das zu der postulierten Wahlfreiheit und Selbstbestimmung steht.

Und ist es denn Aufgabe der öffentlichen Hand, dem erwachsenen Bürger "Aktivitäten und Veranstaltungen" "zur Verfügung zu stellen", um seine "physischen, psychischen und sozialen Fähigkeiten" zu fördern und zu erhalten (3) ? Uns ist nicht bekannt, dass dafür eine Verfassungsgrundlage oder gar ein -auffrag vorliegt. Alle Betagten unbesehen als bedürftig im Sinne des Gesetzes über das Fürsorgewesen zu deklarieren, geht doch wohl nicht an. Ähnliches gilt für die unter dem Titel "Lebensgestaltung" angeführten Grundsätze zum Wohnen und zu ausgewählten psychischen und sozialen Kompetenzen. Die Formulierungen erinnern fatal an allgemeine Richtlinien in Lehrplänen der Volksschule. Die Grundsätze sind nicht nur übertrieben (4) und einseitig (5, 6) sondern auch nicht Sache des Staates.

Insbesondere der Grundatz 4 zum altersgerechten Wohnen, zu dem wir uns eingehender äussern möchten, ist eine Leerformel. Nimmt man ihn wörtlich, so müssten, um "kontinuierliches Wohnen bis zum Tod" zu ermöglichen, ausschliesslich Familienwohnungen gebaut werden; das wäre sicher nicht Sache einer Alterspolitik und wohl auch unökonomisch. Versteht man ihn weniger wörtlich, so kommt er immer noch einem Recht auf Wohnung gleich; ein solches hat jedoch derzeit hier keine Verfassungsgrundlage und wäre nicht einlösbar. Vor allem aber möchte (müsste) der Leser erfahren, was unter "altersgerechten Wohnmöglichkeiten" zu verstehen sei. Im Anhang finden sich S. 64f. und 66-68 Erläuterungen dazu, allerdings nur in Form von "schönen" Beispielen. Das ist wohl nicht die Art, wie man Altersbaupolitik definieren kann.

Beobachtet man die altersbezogene Bautätigkeit der letzten Jahrzehnte, sei es im privaten oder im öffentlichen Sektor, so ist eine Abfolge von Rezepten, deren eines ein vorausgehendes in rascher Folge ablöst und dessen negative Folgen zu korrigieren versucht, nicht zu übersehen. Während Jahrzehnten hat man Grundsätze der Funktionentrennung verfolgt und damit gedanken- und bedenkenlos zur Öffnung der Kluft zwischen den Generationen beigetragen. Sicher ist zu begrüssen, wenn man jetzt eher integrative Modelle anstrebt. Aber wie das Zusammenleben von alt und jung, von erwerbstätig und müssig, von vereinsamt und eingebunden, von eingesessen und vorüberziehend etc. hier und heute und morgen "funktioniert", wissen wir ehrlicherweise nicht. "Altersgerechter Wohnungsbau", wenn man die prothetische Optimierung von Bedingungen für leicht bis schwer pflegebedürftige Personen ausnimmt, ist ein unspezifizierbarer Begriff. Zweifellos ist freizügiges Experimentieren mit korrigierbaren Beispielen und das Erschliessen von Information darüber vor allem anderen wünschbar. Aber etwas überspitzt könnte man sagen, dass jede Bauweise, die gerade nicht in irgendeiner bestimmten Weise vorgibt, altersspezifisch angelegt zu sein, der beste Beitrag zum altersgerechten Wohnen darstellt.

Das Leitbild als ganzes ist in unserem Urteil zu wenig durchdacht, indem es ohne fachliche oder politische Fundierung eine bestimmte, in einem engeren medizinisch-fürsorgerischen Bereich angemessene Betreuungshaltung auf die Bevölkerung als Ganze ausdehnt und im Sektor "Alter" zur Verwirklichung vorschlägt. Es gleicht im ganzen eher einem Parteiprogramm als einer Unterlage für Gesetzgeber und Planer. Das wird u.a. auch an dem Finanzierungsgrundatz (18, S. 46) erkennbar, der eine Aufteilung der Kosten zwischen den Benutzern, ihren Versicherern und der öffentlichen Hand vorsieht. Warum wird nicht eine Analyse der Bedingungen vorgenommen, welche ein Engagement der öffentlichen Instanzen genau dort und nur dort als erforderlich aufzeigen müsste, wo die in der Schweiz vorhandenden Altersvorsorge-Institutionen für notwendige oder wünschbare Massnahmen nicht ausreichen?

Auf einen in unseren Augen sehr wesentlichsten Punkt der Analyse nimmt das "Leitbild" überhaupt nicht Bezug, nämlich auf die geforderte Solidarität zwischen Betagten und Jungen. Das Verhältnis von Betagten und Erwerbstätigen lässt sich auch so verstehen: in zunehmendem Mass entwickeln die Betagten ein grösseres Selbstvertrauen als Gruppe, sie treten pointierter in den politischen Prozess ein und gewinnen schon rein zahlenmässig ein immer grösseres Gewicht. Das kann als Bildung eines immer stärker abgesonderten gesellschaftlichen Subsystems („die Alten") aufgefasst werden, das für sich eine gewisse Autonomie beansprucht. Auf der anderen Seite sind aber auch gerade die Betagten auf eine starke Integration in das gesellschaftliche System angewiesen, sowohl finanziell (AHV, Krankenkassen) als auch in den Bereichen von Pflege und Unterstützung. Es ist nicht zu übersehen, dass manche der vorgesehenen Massnahmen in diesem Sinne zur Gesondertheit der Alten beitragen werden. Die Bildung eines Subsystems führt recht schnell aber auch zur Bildung von weiteren „oppositionellen" Subsystemen. Eine Polarisierung im Sinne von „Alt" gegen „Jung" bzw. „Jung" gegen „Alt" darf aber wohl nicht das Ziel einer Alterspolitik sein.

Im Ganzen zeigt die Analyse der Situation in den ersten beiden Teilen des Berichts, dass die Situatior sich verschärft. Gerade deshalb ist eine gründlichere und auch mutigere Perspektive gefragt. Das vorliegende Leitbild erscheint dagegen eher diffus und zu eng.

Bern, im August 1990

Alfred Lang, Prof. Dr. phil., und Daniel Slongo, cand. phil.-hist.

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